Deutsche Flagge und EU-Flagge vor dem Reichstagsgebäude: In der zweiten Jahreshälfte 2020 übernimmt Deutschland die EU-Ratspräsidentschaft. Foto: dpa

Deutsche Flagge und EU-Flagge vor dem Reichstagsgebäude: In der zweiten Jahreshälfte 2020 übernimmt Deutschland die EU-Ratspräsidentschaft. Foto: dpa

30.12.2019
Alfred von Lucke

Das Jahr der Entscheidung: Was 2020 auf dem Spiel steht

Während 2019 ein Jahr des rasenden Stillstands war – vom Brexit bis zu den endlosen Exit-Debatten in der Großen Koalition (GroKo), insbesondere der SPD – wird 2020 vor allem eines sein: ein Jahr der internationalen Weichenstellungen.
Ein Gastbeitrag von Alfred von Lucke, Publizist, Jurist und Politologe.

Während sich auf der nationalen Bühne das ewige Hickhack um das Ja oder Nein zur GroKo fortzusetzen droht, spielen sich auf der internationalen Ebene wesentliche, ja sogar epochale Entscheidungen ab. Eine immer zentralere Rolle spielt auch hier – genau wie im nationalen Rahmen – die Klimafrage. Nach dem Abflauen der Migrationsdebatte wird immer mehr die Klimakrise, genauer: deren Leugnung, zu der entscheidenden gemeinsamen Dimension der neuen Reaktionären Internationale, die längst von US-Präsident Donald Trump über Jair Bolsonaro bis hin zu Viktor Orbán und der AfD reicht. Damit wird in 2020, nolens volens, vor allem die Europäische Union zu einem, wenn nicht zu dem zentralen Akteur der Auseinandersetzung  – und zwar nach außen, gegen die internationale Phalanx der Klimakrisen-Leugner, wie auch im Inneren, als Schauplatz der Auseinandersetzung zwischen Progressiven und Reaktionären.

Doch wohin treibt die EU in 2020? Dann möglicherweise schon bald ohne Großbritannien, aber mit einem wieder erstarkenden Salvini in Italien und weiter wachsenden Fliehkräften an ihren Rändern, während gleichzeitig Frankreichs pro-europäische Regierung durch massive Proteste im Inneren zunehmend gelähmt ist. Immerhin hat die neue EU-Kommission mit ihrem „European Green Deal“ soeben weitreichende Beschlüsse in der Klimafrage getroffen. Im März 2020 soll ein Gesetz verabschiedet werden, wonach die EU bis 2050 vollständig klimaneutral wirtschaften, sprich: netto gar keine CO2-Emissionen mehr verursachen will. Und im Oktober 2020 will die Kommission auch das Klimaziel für 2030 verschärfen, von einer Emissionsminderung von derzeit 50 Prozent „in Richtung“ 55 Prozent, verglichen mit dem Basisjahr 1990.

„Die Welt braucht unsere Führung mehr denn je, um eine Kraft für Frieden und positiven Wandel zu sein“, hat die neue Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen soeben gefordert und die neue Klimastrategie gar als den europäischen „Mann-auf-dem-Mond-Moment“ genannt. Gut gebrüllt, Löwin! Die Frage ist nur, wer der Treiber dieser Entwicklung sein soll. Der deutsch-französische Motor, jahrzehntelang der entscheidende Faktor der Union, tuckert jedenfalls nur noch müde vor sich hin, während sich diverse andere Staaten immer stärker zu eigenständigen Playern entwickeln, insbesondere die eher nationalistisch orientierten Visegrád-Staaten um Ungarn und Polen.

Angesichts der zunehmenden Zersplitterung der EU bedarf es umso mehr eines strategischen Zentrums und einer koordinierten progressiven Offensive. Doch davon ist derzeit in Europa wenig zu sehen. Dies gilt nicht weniger auf dem zweiten zentralen Konfliktfeld – der Außen- und Sicherheitspolitik. Während der französische Staatspräsident Emmanuel Macron die Nato im 70. Jahr ihres Bestehens fahrlässigerweise als „hirntot“ bezeichnet hat und in gaullistischer Tradition für eine Annäherung an Russland plädiert, kämpfen die deutsche Bundeskanzlerin wie der deutsche Außenminister weiter um die Revitalisierung des transatlantischen Verhältnisses – wenn auch angesichts des demonstrativen Desinteresses Donald Trumps an Europa ohne überzeugende strategische

US-Präsidentschaftswahl im November

Spätestens damit rückt jenes Ereignis in den Fokus, welches das gesamte Jahr überstrahlen dürfte – die US-Präsidentschaftswahl am 3. November 2020. Dann erst wird sich erweisen, ob die Regentschaft Donald Trumps weitergeht – und damit auch die anhaltende Krise des Multilateralismus. Trump ist heute das Synonym für pure „Disruption“ – sprich: mutwillige Zerstörung – internationaler Kodifikationen, vom Pariser Klimaabkommen über den INF-Abrüstungsvertrag und das Abkommen mit dem Iran bis hin zur WTO. Während in den USA in einer Abwahl Trumps bereits die Gefahr eines möglichen Bürgerkriegs gesehen wird, stünde umgekehrt seine Wiederwahl für das anhaltende Siechtum des Westens und der transatlantischen Beziehungen – immerhin hatte der US-Präsident schon lange vor Macron die Nato als „obsolet“ bezeichnet. Der durch Trump geschaffene anarchische Zustand in den internationalen Beziehungen, seine Reduktion aller Verhandlungen auf die Verfolgung des größtmöglichen Eigennutzes, selbst um den Preis von Wirtschaftskriegen, würde für die nächsten vier Jahre auf Dauer gestellt – und damit unwiederbringbare Zeit verspielt.

Mit verheerenden Folgen: Die 2020er Jahre sind nämlich insgesamt eine Dekade der Entscheidung. Wenn in dieser Zeit nicht die richtigen Weichen gestellt werden, drohen die ökologischen Schäden irreparabel zu werden. Am 3. November 2020 fällt somit die für die gesamte 2020er-Dekade vermutlich wichtigste Entscheidung. 2020 wird zum Jahr der Entscheidung in der Dekade der Entscheidung. Doch fatalerweise zeigen sich gerade jetzt im Herzen der alten EU tiefe Risse. Dabei müsste Europa vor allem eines sein: geeint im Handeln. Bereits Ende November hatte das EU-Parlament den Klimanotstand ausgerufen, nun hat die EU-Kommission mit ihrem „Green Deal“ nachgezogen. Doch damit darf es nicht sein Bewenden haben. Jetzt kommt es darauf an, den primär symbolischen Akten echte Taten folgen zu lassen und eine über die EU hinausgehende „Allianz der Willigen“ für Klimaschutz und Multilateralismus aufzubauen.

Gegenüber dieser globalen Herkulesaufgabe erscheinen alle nationalen Herausforderungen und koalitionären Zwistigkeiten als marginal und durchaus überwindbar. Zumal Berlin hier eine besondere Verantwortung zukommt: Zur zweiten Jahreshälfte übernimmt Deutschland die EU-Ratspräsidentschaft, damit wird Berlin zur Zeit der US-Wahl die Vorreiterrolle Europas innehaben. Wenn es der dann amtierenden Regierung gelingen sollte, für die Einheit der EU zu sorgen oder gar eine progressive internationale Allianz zu zimmern, um der Reaktionären Internationale etwas entgegenzusetzen, dann würde das (fast) jede Koalition rechtfertigen, in welcher Größe auch immer. Das sollten alle schwarz-roten Koalitionäre im neuen Jahr berücksichtigen, bevor sie erneut die deutsche Politik mit völlig unproduktiven Debatten über den Sinn der Großen Koalition lahmlegen.

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