Russischer Soldat vor Iskander-M-Raketensystemen

Ein russischer Soldat vor Iskander-M-Raketensystemen. Foto: dpa

27.11.2018
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Der INF-Vertrag steht vor dem Aus – und Europa scheint machtlos

Die Ankündigung US-Präsident Trumps in der Nacht vom 20. auf den 21. Oktober, aus dem „Intermediate Range Nuclear Forces“-Vertrag (INF-Vertrag) aussteigen zu wollen, war der vorläufige Höhepunkt einer seit Jahren schwelenden Diskussion. Nun wächst in Europa die Angst vor einem nuklearen Wettrüsten.

Der INF-Vertrag von 1987 verbietet Russland und den USA die Produktion, das Testen und den Besitz von landgestützten Trägersystemen mit einer Reichweite zwischen 500 und 5500 Kilometern. Sein Erhalt ist ein wichtiger Baustein der nationalen Sicherheit Deutschlands und der europäischen Sicherheitsarchitektur.

Die erste Reaktion der Bundesregierung ließ hingegen eine gewisse Ratlosigkeit erahnen: Bedauern über die amerikanische Entscheidung und der bereits in der Vergangenheit gebetsmühlenartig wiederholte Aufruf an Russland, die Zweifel an der Vertragstreue auszuräumen. „Die Folgen der US-Entscheidung werden nun im Kreis aller Nato-Partner zu beraten sein“, teilte eine Sprecherin abschließend mit.  Ähnlich äußerte sich auch die Verteidigungsministerin: „Unabhängig davon, ob der Vertrag gerettet werden kann oder, ob er neu verhandelt werden muss, wichtig ist jetzt, dass alle Nato-Partner in diese Gespräche mit einbezogen werden“, sagte Ursula von der Leyen bei einem Staatsbesuch in China.  Damit klar war, dass Washington die Allianz nicht vorab konsultiert hatte und Berlin nicht einmal sicher war, ob sich das zukünftig ändern würde.

Auch die Vorschläge aus dem Bundestag, wie die INF-Krise abgewendet werden könnte, waren wenig zielführend. Während Norbert Röttgen (CDU), Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses, immerhin auf Ausgewogenheit in der Debatte Wert legte („…sollten uns jetzt nicht nur auf das diplomatische Ungeschick der USA konzentrieren, sondern auch Russland zur Einhaltung des INF-Vertrags drängen"), forderten die Grünen sogleich das Ende der nukleare Teilhabe. Kritik an dem vielleicht populären, aber nicht weniger schrillen Vorwurf kam von FDP-Chef Christian Lindner. Wer wie die Grünen nun den Abzug von US-Waffen fordere, sähe nur eine Seite und „macht uns schutzlos zu Moskau“, twitterte er.
 
Selbst Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg konnte bei einer Konferenz in Berlin dieser Tage wenig mehr als die Bedrohung, der sich Europa ausgesetzt sieht, beschreiben: „Seit Jahren entwickelt, produziert, testet und disloziert Russland ein neues Trägersystem. Die SSC-8“, so der Norweger. „Diese Raketen sind mobil. Sie sind schwer zu orten. Sie können atomar bestückt werden. Sie reduzieren die Vorwarnzeit auf wenige Minuten. Sie senken die Schwelle eines nuklearen Konflikts. Und sie können europäische Städte wie Berlin erreichen.“ Mitglieder der Allianz, auch Deutschland, seien vorstellig geworden; bereits unter Präsident Obama hätten die USA den Sachverhalt angesprochen, insgesamt mehr als 30 Mal hätten sie sich an Russland gewandt. Nun, nach jahrelangem Leugnen, hätte Russland die Existenz der Raketen eingestanden, so der Generalsekretär. „Die Nato hat nicht die Absicht, neue Atomraketen in Europa zu stationieren. Aber als Allianz sind wir der Sicherheit aller Alliierten verpflichtet”, weshalb er Russland aufforderte, zu einem konstruktiven Dialog mit den USA zurückzukehren.
 
Was ist dran an solchen Vorwürfen? Das ist, weil es auch um geheimdienstliche Erkenntnisse geht, letztlich nicht klar.  Bekannt ist, dass die USA seit 2014 den Vorwurf erheben, dass Russland mit seinen landgestützten Iskander-Marschflugkörper vom Typ 9M729 – die Nato spricht vom SSC-8 –, ein Trägersystem mit einer laut INF-Vertrag verbotenen Reichweite von maximal 2600 km, getestet und eingeführt hat. In der Tat haben die Russen die Existenz inzwischen zugegeben, beteuern aber, dass die Reichweite nicht gegen den INF-Vertrag verstößt.

Ihrerseits werfen sie den USA vor, mit Langstreckendrohnen und Senkrechtstartanlagen des Typs Mk-41, die in Rumänien und Polen zur Raketenabwehr vorgesehenen sind, gegen den INF-Vertrag zu verstoßen. Washington widerspricht der Deutung, dass eine Drohne ein Marschflugkörper sei und versichert, dass die Senkrechtstartanlage so modifiziert worden seien, dass nur Abfangraketen starten könnten.

Bei den russischen Vorwürfen an die USA gehe es um Fragen der Vertragsinterpretation. Die zugrundeliegenden Sachverhalte als solche seien unstrittig, analysiert Wolfgang Richter von der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP). „Die USA wiederum unterstellen Russland heimlichen Vertragsbruch.“ Und dieses habe „bisher wenig dafür getan, den Verdacht des Vertragsbruchs auszuräumen“.
 
Welches Interesse könnte Moskau mit seinen 9M729-Raketen verfolgen? Relativ gesehen hat der militärische Wert von landgestützten Marschflugkörpern seit 1987 abgenommen. Auch Russland verfügt inzwischen über seegestützte Marschflugkörper, die es unter großem finanziellen Aufwand entwickeln musste: Von Schiffen im Kaspischen Meer abgefeuert, trafen diese im September 2017 Ziele in Syrien. Eine Machtdemonstration, konstatierte Josef Braml jüngst bei einer DGAP-Veranstaltung in Berlin. „Möglicherweise, so SWP-Wissenschaftler Richter mit Blick auf die SSC-8, „hat Russland Prototypen entwickelt, um bei Bedarf reagieren zu können.“ Beispielsweise, wenn die USA die Raketenabwehr ausbauen sollten.

Doch warum sollten die USA den Vertrag aufkündigen, nur weil Russland ihn bricht? INF-Waffen können das US-amerikanische Festland kaum bedrohen. Diese Frage hat sich auch die Bundesregierung gestellt – und sie geht davon aus, dass es den USA nicht nur um Russland geht.  Das ließ bereits das erste Statement der deutschen Verteidigungsministerin erahnen. China besitzt landgestützte Marschflugköper mit Reichenweiten, wie sie der INF-Vertrag den USA und Russland verbietet und verfügt damit über weitreichende A2/AD-Fähigkeit (Anti-Access Area Denial) im ost- und südchinesischen Meer. Nicht ohne Grund werden die Systeme „Träger-Killer“ genannt, sie bedrohen die mächtigen US-Flugzeugträger.

Außenminister Heiko Maas (SPD) will darum auch China in seine Rüstungskontrollinitiative einbeziehen. Außerdem sollen Marschflugkörper in Ostasien, aber auch im Nahen und Mittleren Osten, in einem Transparenzregime reglementiert werden. Mit Amerikanern, Russen und den Europäern will er nicht nur den INF-Vertrag überarbeiten, sondern sich auch der in Kaliningrad stationierten russischen Trägersysteme mit einer Reichweite von bis zu 500 Kilometer annehmen.

Dass China überzeugt werden könnte, dem INF-Vertrag beizutreten, hält Richter gleichwohl für sehr unwahrscheinlich. Offizielle chinesische Statements zum Thema geben ihm bislang Recht. Eine Dislozierung von amerikanischen Atomraketen in Japan und Südkorea als Gegengewicht zu den chinesischen INF-Fähigkeiten ist hingegen ebenfalls fraglich, denn deren ablehnende Haltung ist überhaupt erst der Grund gewesen, warum die USA die Fähigkeit ihrer seegestützten Systeme um die Möglichkeit einer nuklearen Nachrüstung erweitern möchten. Umso unklarer ist vor diesem Hintergrund wiederum, warum ein Ausstieg aus dem INF-Vertrag für Washington überhaupt notwendig erscheint.

Würde der Vertrag zerbrechen, könnte Russland ungehindert seine bestehenden SSC-8 im großen Stil produzieren und stationieren und Europa damit auf breiter Front gefährden. Obwohl die Dislozierung Jahre dauern würde, wäre dieser Schritt eine dramatisch verschlechterte Sicherheitslage. Die USA haben ihrerseits noch kein Gegenstück zur russischen SSC-8. Der Austritt aus dem INF könnte ihren zwar die Möglichkeit geben, ein solches System zu entwickeln, doch bis dahin wären sie, vor allem aber ihre europäischen Verbündeten, im Nachteil. Außerdem müssten sich in Europa Staaten finden, die einer Dislozierung auf ihrem Gebiet zustimmen würden – erfahrungsgemäß kein leichtes Unterfangen. Hinzu kämen Kosten in Milliardenhöhe.

Welchen Beitrag können Deutschland und Europa leisten? Die Aufgabe der nuklearen Teilhabe einschließlich des Abzugs aller in Deutschland gelagerten US-Atomwaffen sowie der Beitritt zum UN-Atomwaffenverbotsvertrag, wie es Anton Hofreiter und Agnieszka Brugger (Grüne) fordern, wäre nur ein symbolischer Beitrag für eine atomwaffenfreie Welt. Da der militärische Wert gering ist, wäre kaum mit einer russischen Gegenleistung zu rechnen. Deutschland würde – ohne Not oder Gewinn – massiv an allianzpolitischem Einfluss einbüßen. Wir wären schlagartig Zaungast auf einem schicksalhaften Politikfeld. Auch für die Festlegung, dass auf europäischem Boden keine Mittelstreckenraketen stationiert werden würden, noch dazu ohne Gegenleistung, gibt es zum jetzigen Zeitpunkt keinen Anlass.

Möglichkeiten für einen Ausgleich liegen auf dem Tisch. Steven Pifer vom Brookings Institution skizzierte vor dem Unterausschuss für Sicherheit und Verteidigung des EU-Parlaments im Januar, dass die SSC-8 zerstört werden müssten, wenn Kontrollen ergäben, dass sie über 500 Kilometer weit fliegen könnten. Umgekehrt sollte russischen Inspektoren regelmäßig Zugang zu den Mk-41 Startvorrichtungen eingeräumt werden.  Doch scheint derzeit der politische Wille weder in Moskau noch in Washington gegeben, eine Lösung zu erzielen. Möglichkeiten zur Einflussnahme haben die Europäer kaum. Oliver Meier von der SWP plädiert auch für diese gegenseitige Transparenz, bringt aber zusätzlich Wirtschaftssanktionen ins Spiel.

Um Druck auf Russland zu erzeugen, sollte die Zusammenarbeit mit Russland im Normandie-Format, beim Wiederaufbau Syriens, bei Energieprojekten und der Nato-Russland-Grundakte unter Vorbehalt gestellt werden, so auch Richter. Hierin liegt das Problem: Europas Druckmittel sind äußerst beschränkt. „Wir haben keine eigene nukleare Abschreckung, sind in diesem Spiel also nur Bittsteller“, fasst Nikolas Busse die Lage zusammen.
 
Eine sachliche Debatte über Nuklearwaffen und ihre militär- und verteidigungspolitischen Aspekte findet öffentlich nicht statt, ist aber überfällig. Präsident Trumps Ankündigung vom 20./21. Oktober bewegt die Öffentlichkeit sehr viel stärker das russische Gebaren. Dass Moskau Anfang des Jahres damit begonnen hatte, in Kaliningrad Trägersysteme vom Typ „Iskander-M“ (Nato-Bezeichnung: SS-26 Stone) mit einer Reichweite von bis zu 500 Kilometer „zum Schutz der Region“ dauerhaft zu stationieren, und dies Anfang Mai auch offiziell bestätigen ließ, war gemeinhin nur eine Randnotiz.  Ähnlich still war es, nachdem Russland Dänen und Polen – unseren unmittelbaren Nachbarn – offen drohte, Ziel von Nuklearschlägen zu werden, sollten sich die beiden Staaten am Nato-Raketenabwehrschirm beteiligen.  

Das ist nicht neu. Traditionell richten sich Vorwürfe des Wettrüstens eher an die Adresse der USA. Beinahe schon legendär ist der Ausspruch Egon Bahrs aus dem August 1981, als bekannt wurde, dass die USA die sogenannte „Neutronenbombe“ als Antwort auf die sowjetische Panzerübermacht bauen wollten: „Die Menschen kriegen Angst vor den Beschützern – grotesk." Soweit sollte es die Allianz es dieses Mal nicht kommen lassen. Die Bundesakademie für Sicherheitspolitik fordert in einem Arbeitspapier zum INF-Vertrag  deshalb eine gesellschaftliche Debatte: „Nur so kann innenpolitischen Verwerfungen oder Spaltungstendenzen innerhalb der Allianz vorgebeugt werden, die durch eventuelle einseitige Beschlüsse und Reaktionen der USA hervorgerufen würden.“ Viel Zeit ist dafür nicht mehr.

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