Das Nato-Hauptquartier in Brüssel. Foto: imago/photothek

Das Nato-Hauptquartier in Brüssel. Foto: imago/photothek

03.04.2019
dpa

Die Nato feiert und jeder redet von Krise - Interview mit Generalleutnant a.D. Heinrich Brauß

Brüssel. Wohl kaum jemand anders in Deutschland kennt die Nato so gut wie Heinrich Brauß. Der Generalleutnant a.D. gestaltete als Beigeordneter Generalsekretär jahrelang die wichtigen Bündnisentscheidungen mit. Auf den 70. Geburtstag der Allianz blickt er sorgenvoll.

Die Nato will in der kommenden Woche in Washington den 70. Jahrestag ihrer Gründung feiern. Ist das angesichts des Krawallkurses von US-Präsident Donald Trump eine gute Idee? Der langjährige Beigeordnete Nato-Generalsekretär Heinrich Brauß (65) verweist im Interview der Deutschen Presse-Agentur darauf, dass die Bundesregierung durchaus eine Mitverantwortung für die schwierige Lage des Bündnisses trägt.

Herr Brauß, die Nato wirkt seit Trumps Amtsantritt so zerrissen wie lange nicht mehr. Was gibt es eigentlich zu feiern am 4. April?

Heinrich Brauß: Wir sollten feiern, dass die Nato schon seit 70 Jahren besteht und dass sie bisher ein sehr erfolgreiches Bündnis war. Gerade als Deutscher würde ich betonen: Über den Beitritt zur Nato haben wir in Westdeutschland einst unsere Souveränität erreicht. Die Nato hat den freien Westen im Kalten Krieg gegen die Übermacht der Sowjetunion und des Warschauer Paktes geschützt. Die Ostpolitik basierte auch auf der Gewissheit, dass Westdeutschland in der Nato fest verankert war und ihren Schutz genoss. Schließlich hat die Allianz mit dazu beigetragen, dass Deutschland die Einheit erlangt hat und ganz Europa die Freiheit.

Das ist lange her...

Brauß: Danach gab es den Wandel von einer Organisation, die nur auf kollektive Verteidigung konzentriert war, hin zu einem flexiblen Akteur im internationalen Krisenmanagement - zum Beispiel auf dem Balkan und in Afghanistan. Heute erleben wir die Anpassung an erneut grundlegend geänderte Verhältnisse, in denen Abschreckung und Verteidigung wieder den ersten Stellenwert haben. Und seit dem Einfall Russlands in die Ukraine im Jahr 2014 hat das Bündnis seine Verteidigungsfähigkeit enorm verbessert. Die Nato ist eine Verteidigungsallianz, wie es sie in der Geschichte bisher nicht gegeben hat, und sie ist für die Sicherheit Europas und Deutschlands weiterhin entscheidend. Das alles sollte man anerkennen und auch schreiben. Stattdessen sprechen viele von Krise.

Nicht ohne Grund. US-Präsident Trump spielt im Streit um die Verteidigungsausgaben öffentlich mit Gedanken an einen amerikanischen Bündnisaustritt, er stellt die bedingungslose Beistandsverpflichtung infrage und er sorgt mit Alleingängen in der Afghanistan-Politik für Irritation. Lässt sich das ignorieren?

Brauß: Nein, das kann man nicht. Zu dem Gefühl, dass die Allianz an einer Wegscheide steht, trägt natürlich Präsident Trump bei. Vor allem mit seiner wiederholten harschen Kritik an den Europäern, die er weniger als Bündnispartner denn als Wettbewerber sieht und manchmal sogar wie Gegner behandelt. Kern seiner Kritik ist aber die Klage über die unfaire Lastenverteilung im Bündnis und die mangelnden Verteidigungsausgaben vieler Europäer und Kanadas, was die USA als Trittbrettfahrerei empfinden. Und damit hat Präsident Trump recht - nicht im Stil, aber in der Sache.

Im Fokus der Kritik steht Deutschland, das derzeit lediglich 1,23 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) für Verteidigung ausgibt und damit weit von der Nato-Zielmarke von zwei Prozent entfernt ist. Geht die Bundesregierung mit der Situation richtig um?

Brauß: Was viele in Deutschland aus meiner Sicht nicht genügend würdigen, ist, dass wir nicht deswegen zwei Prozent des BIP für Verteidigung ausgeben müssen, weil Präsident Trump dies fordert, sondern weil es die Modernisierung und die Herstellung der vollen Einsatzbereitschaft der Bundeswehr verlangen - damit sie alle ihre heutigen und künftigen Aufgaben erfüllen kann. Im Kalten Krieg gab allein Westdeutschland mehr als drei Prozent des BIP für Verteidigung aus. Wenn man die aktuellen großen Herausforderungen meistern will, kommt man an zwei Prozent des BIP für Verteidigung nicht vorbei. Es wird anerkannt, dass der deutsche Verteidigungshaushalt in diesem Jahr signifikant steigt, um mehr als fünf Milliarden Euro. Dennoch wächst die Zahl auch der europäischen Partner, die darüber irritiert sind, dass das reiche Deutschland das Versprechen, das die deutsche Regierung mehrfach gegeben hat, augenscheinlich nicht hält.

Was sind das für Herausforderungen?

Brauß: Vor allem wir Deutsche müssen sehen, dass wir viel mehr zur Abschreckung und Verteidigung gegen Russland beitragen müssen, weil die Amerikaner sich immer stärker Richtung China und Pazifik wenden und es zu einer globalen Kräfteverschiebung kommt. Schon die volle Einsatzbereitschaft der Bundeswehr in ihren jetzigen Strukturen verlangt enorme Mittel. Dann hat die Bundesregierung zusätzliche anspruchsvolle Streitkräfteziele der Nato akzeptiert, beispielsweise eine dritte voll ausgestattete Division aufzubauen. Hinzu kommt der Aufbau der immer bedeutender werdenden Cyberabwehr. Außerdem muss die Bundeswehr weiterhin für Kriseninterventionen außerhalb Europas fähig bleiben, und die laufenden Auslandseinsätze müssen weiter aufrechterhalten werden. Schließlich müssen wir die Handlungsfähigkeit der EU stärken, der aber das erhebliche britische Potenzial fehlen wird.

Befürchten Sie, dass Trump die Geburtstagsfeier mit neuen Provokationen vermasselt?

Brauß: Das ist schwer zu sagen. Derzeit sieht es nicht danach aus, aber man weiß nicht, was den Präsidenten nächste Woche umtreibt. Meine größere Sorge ist, dass es beim Treffen der Staats- und Regierungschefs im Dezember erneut zum Schwur kommt. Dann wird offensichtlich sein, dass Deutschland mit der jetzigen Finanzplanung im Jahr 2024 nicht einmal auf die angekündigten 1,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts kommt.

Wo sehen Sie die Nato zum 75. Geburtstag?

Brauß: Ich glaube nicht, dass sich die Politik Amerikas gegenüber Europa im Wesentlichen ändern wird - auch wenn Trumps Präsidentschaft dann Geschichte sein sollte. Denn die gesamte sicherheitspolitische Lage hat sich geändert. Aber hoffentlich wird sich der Stil wieder ändern und man findet zurück zu einer Allianz unter Partnern und Freunden, die einander voll vertrauen können. In fünf Jahren wird zudem wohl ganz klar geworden sein, welche kolossale Herausforderung China, das auf dem Weg zur Weltmacht ist, für den gesamten Westen wird. Und es wird eine Antwort auf die Frage geben, was wir gegen die neuen russischen nuklearen Mittelstreckenraketen tun, die schon jetzt Europa und Deutschland bedrohen. Auch da werden viele in Deutschland ihre Einstellung ändern müssen.

Sie meinen die Ablehnung jeglicher nuklearen Aufrüstung?

Brauß: Man muss zumindest eine strategische Diskussion darüber zulassen, welche Antwort die fortgesetzte nukleare Aufrüstung Moskaus erfordert - um unserer Sicherheit in Europa willen. Ob neue nukleare landgestützte Raketen in Europa notwendig sein könnten, will ich jetzt gar nicht propagieren, aber man muss auch diese Option vorurteilsfrei und ergebnisoffen analysieren und bewerten.

Zur Person: Heinrich Brauß gilt als einer der besten Nato-Kenner Deutschlands. Der 65 Jahre alte Generalleutnant a.D. war von 2013 bis 2018 Beigeordneter NATO-Generalsekretär für Verteidigungspolitik und Streitkräfteplanung. Zuvor hatte er sechs Jahre den Stellvertreterposten inne und war Abteilungsleiter im Militärstab der EU. Seine militärische Laufbahn begann Brauß im Juli 1972 im Feldartilleriebataillon 121 in Tauberbischofsheim. Heute arbeitet er als Experte unter anderem für die Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP). Brauß ist verheiratet und hat drei erwachsene Söhne.

Mit Rat und Hilfe stets an Ihrer Seite!

Nehmen Sie Kontakt zu uns auf.

Alle Ansprechpartner im Überblick