Urenkel Marcel Röthig (2.v.l.) bei den Recherchen an dem Ort, an dem sein Urgroßvater starb. Foto: privat

Urenkel Marcel Röthig (2.v.l.) bei den Recherchen an dem Ort, an dem sein Urgroßvater starb. Foto: privat

18.11.2017
ch

Ein ganzes Leben später

Die Worte in der Todesnachricht lassen das Grauen nur ansatzweise erahnen: „Am 19.10.1943 trat die Kompanie zum Angriff an gegen eine beherrschende Höhenstellung nord­ostwärts der Stadt Newel. In überaus harten und wechselvollen Kämpfen um diese Höhe, die den Besitzer mehrmals wechselte, wurden sein Kompanieführer und der Zugführer schwer verwundet. Als ich die Kompanie übernahm, war der Grenadier Schulz nicht mehr unter uns.“

Mehr war über sein Schicksal nicht bekannt: Wilhelm Schulz, gerade einmal 31 Jahre alt, fand bei seinem ersten Fronteinsatz in einer Schlacht in Nordrussland den Tod. Die Ungewissheit über sein Schicksal hat seine Familie niemals losgelassen. Es sollte 74 Jahre dauern, bis sie das Grab ihres Vaters, Großvaters und Urgroßvaters fand. Es brauchte große Ausdauer der Angehörigen Wilhelm-Ernst Kühn, Björn Küllmer und Marcel Röthig, professionelle Unterstützung – und viel Glück. 

Als Röthig, Urenkel des Grenadiers Schulz, beruflich nach Russland ging, startete er Nachforschungen über den Verbleib seines Vorfahren. Dazu besuchte er auch den Ort, an dem sein Urgroßvater in der Schlacht fiel: „Dort angekommen ein Bild des Grauens: Metallteile, vollgelaufene Schützengräben, überwucherte Granateinschläge, hier und da noch scharfe Munition, eine deutsche Zahnbürste, Schuhe. Der Krieg war auf einmal ganz nah.“

Röthig durchstöberte in Sankt Petersburg die Überführungsakten der umgebenden Friedhöfe, sein Onkel Wilhelm-Ernst Kühn stieß schließlich beim Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge in Kassel auf die richtige Akte. Darin fand sich eine nur zum Teil lesbare Erkennungsmarke. Ein paar Buchstaben, mehr nicht.

Briefe von der Front

Wilhelm Schulz, Jahrgang 1913, war im Mai 1943 in die 2. Stammkompanie Grenadier-Ersatz-Bataillon 163 nach Eschwege eingezogen worden. Bereits wenig später rückte sein Bataillon in Richtung Osten, nach Nordrussland ab. In Briefen berichtete Schulz vom Kriegsalltag: „Der Boden ist immer noch durch die Niederschläge der letzten Wochen aufgeweicht. Auch einmal muß es hier im Osten wieder schön werden. Augenblicklich sind im Osten schwere Kämpfe im Gange. […] Wir wollen hoffen, daß dieser Krieg bald vorbei ist, und wir wieder in die Heimat zurückkehren können.“ (Brief vom 11. Juli 1943)

„Als wir in einen Ort einrückten, wurden wir plötzlich von starkem feindlichen Feuer überschüttet. Neben uns war ein Graben, das war unser Glück, denn hier fanden wir gleich Deckung! […] Wie durch ein Wunder hatten wir hier keine Toten. Doch so mancher Kamerad von unserer Kompanie mußte in den letzten Tagen sein Leben lassen.“ (Brief vom 29. August 1943)

Am 5. Oktober 1943 erfolgte schließlich die Verlegung zur 69. Infanteriedivision mit Einsatzraum Newel. „Sind nun schon einige Tage in der Nähe der Front. […] Sonst geht es mir noch recht gut dasselbe ich auch von Euch allen hoffe. Ich will nun schliessen seit alle recht herzlich gegrüßt, und ein baldiges Wiedersehen in der Heimat Euer Wilhelm“ (Letzter erhaltener Brief vom 11. Oktober 1943)

Seit 19. Dezember 1943 vermisst

Nach den Kämpfen um die „Höhe 191,6“ bei Newel galt der Grenadier der 69. Infanteriedivision als vermisst: „Es ist mir eine traurige, doch hohe Pflicht, Ihnen mitteilen zu müssen, dass Ihr Ehemann, der Grenadier Wilhelm Schulz, seit dem 19.10.1943 vermisst ist. […] Nachforschungen sind seit den Kampftagen weitgehend in Gang gesetzt worden, um Spuren zu völliger Klarheit zu finden. In dem für Sie hereinbrechenden Schmerz liegt aber doch eine Hoffnung, später etwas über den Verbleib Ihres Ehegatten zu erfahren“, so lautete die Nachricht vom 6. November 1943 des stellvertretenden Kompanieführers an die Ehefrau von Wilhelm Schulz.

Nachdem weder die näheren Todesumstände noch der Verbleib der sterblichen Überreste geklärt werden konnten, wurde Wilhelm Schulz 1955 für tot erklärt. Verschiedene Suchanfragen beim Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge, beim Suchdienst des DRK, beim Kirchlichen Suchdienst und weiteren Organisationen blieben ohne Ergebnis.

Erkennungsmarke:

-1339- 2.Stammkp.Gren.Ers.Btl.163

Die Recherchen des Urenkels Björn Küllmer ergaben, dass die Gefallenen der an den Kämpfen um die „Höhe 191,6“ bei Newel beteiligten 263. Infanteriedivision auf dem Friedhof im russischen Isotscha beigesetzt wurden. Die auf dem dortigen Soldatenfriedhof Bestatteten waren im Jahr 2009 von der Volksbund geborgen und auf die neue Kriegsgräberstätte in Sebesh rund 100 Kilometer westlich von Newel umgebettet worden.

Im Grabungsbericht war auch die Rede von einer teilweise unleserlichen Erkennungsmarke. „Hierzu möchten wir Ihnen mitteilen, dass lt. einer Vorabprüfung der Umbettungsunterlagen und des Nachlasses bei einem der in Isotscha geborgenen Toten eine nur zum Teil lesbare Erkennungsmarke gefunden wurde, die die Beschriftung 1339 ... Ers.Batl. ... hat. Die für Ihren Urgroßvater registrierte Erkennungsmarke lautet: -1339- 2.Stammkp.Gren.Ers.Btl.163. Die teillesbare Erkennungsmarke, die unser Umbettungsdienst in der Grablage in Isotscha fand, lag bei einem Kriegstoten, dessen Alter von unserem Fachdienst auf ca. 25–30 Jahre geschätzt wurde und der 166–167 cm groß gewesen sein soll. Sein rechter Oberschenkel war zerschmettert“, informierte der Volksbund den Urenkel.
 
Die Nachkommen blieben hartnäckig. Und so gelang es dem Volksbund schließlich, die Erkennungsmarke mit neuen Instrumenten lesbar zu machen – und kein Zweifel: „Mein Urgroßvater lag in Isotscha und wurde inzwischen nach Sebesch umgebettet. Dort hat er nun ein eigenes Grab mit Namensgravur und Foto. Er ist gefunden und seine Kinder von der 74-jährigen Ungewissheit befreit. Einer seiner Söhne stand nun vor dem Grab seines Vaters, den er 1943 am Herleshäuser Bahnhof verabschiedete – ein ganzes Leben später!“

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