Novemberrevolution 1918: Ansprache des Gouverneurs Gustav Noske an U-Boot-Mannschaften in Kiel

Novemberrevolution 1918: Ansprache des Gouverneurs Gustav Noske an U-Boot-Mannschaften in Kiel. Foto: picture-alliance/ullstein Bild - A.+E. Frankl

19.11.2018

Matrosenaufstand im November 1918: Ein historisches Lehrbeispiel

Flottillenadmiral Christian Bock, Kommandeur der Einsatzflottille 1, hat am 3. November anlässlich des 100. Jahrestags des Matrosenaufstands in Kiel eine bemerkenswerte Rede gehalten. Wir halten sie für ein sehr gutes Beispiel für die politisch-historische Bildung. Ein Jeder möge seine Schlüsse daraus ziehen.
Ihr Vorstand Marine im DBwV


Sehr verehrte Festgäste!
„Wenn Soldaten sich zusammenrotten und mit vereinten Kräften eine Gehorsamsverweigerung begehen, so wird jeder, der sich an der Zusammenrottung beteiligt, mit Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren bestraft.“ Dieses Zitat ist ein Auszug des Paragrafen 27 zu „Meuterei“ aus dem aktuellen Wehrstrafgesetz. Die Aussagen finden sich wortgleich auch im „Dienst an Bord“, der heutigen See-Bibel der Marine und dem Grundlagenwerk für jeden deutschen Marinesoldaten.
Entlang des Inhalts der Definition erkennen Sie ein mögliches Dilemma: Hier steht der ranghöchste Marineoffizier am Standort Kiel und spricht ein Grußwort anlässlich oder gar zu Ehren des 100-jährigen Jahrestags des Kieler Matrosenaufstands.
 
Ganze Generationen von Marinesoldaten – im Kern die Offiziere –, stellvertretend aber auch insbesondere die Marinehistoriker, haben noch bis Anfang der 80er Jahre gestritten, wie die Rolle der Marine, des Marineoffizierkorps oder der Matrosen rückblickend zu interpretieren ist. Ein Trauma? Eine Schande? Ein Aufbruch? Traditionsbegründend, Vorbild oder Beispiel? Gar die Geburtsstunde der Demokratie in Deutschland?
 
Historische Interpretationen sind nicht mein Metier. Vielmehr möchte ich Ihnen für die Gelegenheit danken, die persönlichen Folgen für mich, mein eigenes Empfinden im aktiven Dienst als Marineoffizier mit dem Blick auf das Heute und Jetzt zu reflektieren. Denn: Die Folgen der Geschehnisse des Jahres 1918 prägen mich als Offizier seit 30 Dienstjahren, mein tägliches Arbeitsumfeld und nun auch mich als Teil des öffentlichen Lebens in Kiel.
 
Die Seekriegsleitung plante im Oktober 1918 – ohne Reflektion der Gesamtlage und hinter dem Rücken der politischen Führung – ein letztes Seegefecht. Vielleicht ging es unbewusst auch darum, in letzter Sekunde noch einmal „das Ruder herumzureißen“ oder bessere Bedingungen für den Waffenstillstand zu erzielen. Vornehmlich ging es wohl aber um die historische Ehrrettung des ehemaligen „Lieblingsspielzeugs“ des Kaisers, für die Ehre und auch die künftige Relevanz der Institution „Marine“, deren Offizierkorps ihre eigenen Vorteile ausschweifend auslebte, soziale Standesdünkel hatte und ihre Besatzungen dementsprechend würdelos behandelte. Aus dem Marinestreik von 1917 hatte das Offizierkorps nichts gelernt.

Die Geschehnisse des November 1918 haben ganz unterschiedliche, politische, soziale oder Führungs-Dimensionen, deren Folgen heute aktueller scheinen denn je: Aus dem verheerenden Verhältnis der vorgesetzten See-Offiziere zu den Untergebenen war der Matrosenaufstand wohl auch ein Anstoß zur späteren „modernen militärischen Menschenführung“, die uns aktive Soldaten heute innerhalb der „Inneren Führung“ durch und durch prägt. So sind Menschenwürde, Fürsorge und Beteiligungsrechte heute die Maßstäbe bei der Zusammenarbeit aller Dienstgrade.
 
Als die Besatzungen der Schiffe politisch entrechtet sinnlos als Kanonenfutter für die Ehre der Marine verheizt werden sollten, erwachte das unterdrückte politische und gesellschaftliche Bewusstsein der einfachen Soldaten.
 
Für mich und alle meine Kameradinnen und Kameraden gehört heute zur „Inneren Führung“ deshalb natürlich auch die kontinuierliche politische Bildung, die lückenlose Information aller Angehörigen der Bundeswehr und die tiefgreifende gesellschaftliche Einbindung. Wir geloben heute, dem demokratischen Staat treu zu dienen und ihn tapfer zu verteidigen. Heute gilt der Gehorsam der Soldaten dem legalen Befehl und nicht dem Willkürlichen.

Insgesamt sind die Ereignisse von 1918 als solche für die Marine nicht vorbildlich oder traditionsstiftend. Aber die Ereignisse wurden zum historischen Lehrbeispiel! Sie wurden zu einem Beispiel der Väter der Inneren Führung, um genau solche Situationen NICHT zu wiederholen; zum Beispiel für die soldatenrechtliche Verankerung von Zivilcourage von Soldaten, ungesetzliche Befehle NICHT zu befolgen; zum Beispiel dafür, dass jeder Soldat als „Bürger in Uniform“ gleichzeitig immer auch politischer Mensch, Teil der Gesellschaft mit eigener Meinung und oftmals sogar ehrenamtlich politisch Aktiver ist.
 
Lassen Sie mich deshalb mein Grußwort schließen mit einer Anregung zum Nachdenken: Wenn sich heute Bürger entschließen, freiwillig den Dienst innerhalb der Bundeswehr für die Gesellschaft zu leisten, werden sie in einer Organisation aufgenommen, die auch im Bewusstsein der Geschehnisse und Folgen des Aufstands von 1918 in Kiel liberalisierte und demokratisierte innere Strukturen besitzt.
 
Für die, die sie persönlich kennen, sind diese Soldaten immer noch der Nachbar, die Freundin, der Sportskamerad, ein Mensch mit Namen und Geschichte, ein Individuum in der Gesellschaft. Bei Außenstehenden, Medien und Öffentlichkeit, welche die Soldaten persönlich nicht kennen, erkennt man die Tendenz, einen Menschen, der die Uniform der Bundeswehr anzieht, nicht mehr als Individuum, Bürger oder politischen Menschen zu beschreiben. Die Person wird plötzlich als anonymer Teil eines Ganzen oder als Zahlenwert eines Sammelbegriffs gesehen, als ob man seine Persönlichkeit und Leben als Mensch, Nachbar oder Teil der Gesellschaft am Kasernentor abgibt.
 
Ich frage mich manchmal, ob die Forderungen der Matrosen von damals im gleichen Maße auch zum Umdenken unseres Souveräns und des Volkes bezüglich der Würde und der Rolle von Soldaten in der deutschen Gesellschaft geführt haben, wie dies innerhalb der Bundeswehr zweifelsohne geschehen ist. Integration von Soldaten in die Gesellschaft ist – wie in allen anderen Bereichen auch – eine Zweibahnstraße.

Ich freue mich deshalb, dass wir diesen Gedenktag gemeinsam begehen.
Herzlichen Dank.

Flottillenadmiral Christian Bock, Kommandeur Einsatzflottille 1

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