Im Interview: Der damalige Bundesentwicklungsminister Dirk Niebel brachte die Särge mit den Gefallenen nach Deutschland. Foto: DBwV/Schmidt

Im Interview: Der damalige Bundesentwicklungsminister Dirk Niebel brachte die Särge mit den Gefallenen nach Deutschland. Foto: DBwV/Schmidt

27.03.2020
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"Was emotional am meisten hängen bleibt, waren Tage wie damals in Kundus"

Berlin. Hauptfeldwebel Nils Bruns (35), Stabsgefreiter Robert Hartert (25) und Hauptgefreiter Martin Augustyniak (28) vom Fallschirmjägerregiment 31 in Seedorf fielen in den bis dato härtesten Kämpfen, die die Bundeswehr seit ihrer Gründung zu bestehen hatte. Viele weitere Kameraden wurden teils schwer verletzt. Das Karfreitagsgefecht 2010 markiert eine Zäsur in der deutschen Militärgeschichte.

Der damalige Entwicklungsminister Dirk Niebel brachte die Särge mit den Gefallenen zurück nach Deutschland. Wie es dazu kam, erzählt der heutige Berater des Rüstungs- und Automobilzulieferers Rheinmetall im Interview mit „Die Bundeswehr“. Der DBwV traf Niebel in seinem Berliner Büro.
 
Die Bundeswehr: Sie haben einen besonderen Bezug zum Karfreitagsgefecht. Wie kommt das?
Dirk Niebel:  Erstens war ich räumlich nah dran. Ich befand mich damals auf Dienstreise in Afghanistan, führte zunächst in Kabul Gespräche mit Präsident Hamid Karzai und Vertretern der UNAMA. Damals investierte allein mein Ressort jährlich über 400 Millionen Euro in Afghanistan. Durchschnittlich zweimal pro Jahr flog ich in das Land. Kritiker nannten das damals „Militarisierung der Entwicklungspolitik“, heute nennen wir das den vernetzten Ansatz. Ich bin überzeugt, wenn Auswärtiges Amt, BMVg, Innenministerium und BMZ in der gleichen Region, mit dem Geld desselben Steuerzahlers, das gleiche Ziel verfolgen – nämlich dem internationalen Terrorismus den Nährboden zu entziehen – sollten sie eng zusammenarbeiten.

Leider funktioniert das bis heute nicht so gut, wie es sollte.Nach dem Aufenthalt in Kabul flogen wir am 2. April 2010 von Faisabad nach Masar-e-Sharif. Dort wurde ich nicht wie sonst bei solchen Besuchen üblich, vom Kommandeur, sondern von dessen Stellvertreter empfangen. Da habe ich sofort gemerkt, dass etwas passiert sein muss. Wir haben dann erfahren, dass unsere Soldaten in schwerem Gefecht standen.

Und der zweite Punkt?
Der zweite Punkt ist eine persönliche emotionale Bindung. Ich war von 1984 bis 1991 Soldat auf Zeit bei der Bundeswehr und dort Fallschirmjäger in der Luftlandebrigade 25 „Schwarzwald“ in Calw. Die Luftlandetruppe ist seitdem immer kleiner geworden, das ist für mich Familie. Außerdem bin ich seit 2004 bei der Division Spezielle Operationen (jetzt Schnelle Kräfte), zu der das Fallschirmjägerregiment 31 aus Seedorf ja gehört, als Reservist eingeplant. Entscheidend waren aber die Gespräche im Bundeswehrairbus – ich glaube, es war die „Konrad Adenauer“. Dort konnte ich mich mit dem Zugführer und zwölf Kameraden, die das Gefecht überlebt haben und mitgeflogen sind, um an der Trauerfeier in Deutschland teilzunehmen, sprechen. Die Kameraden haben mir sehr genau geschildert, wie das Gefecht verlaufen ist, was die Herausforderung waren und welche Ausrüstungsdefizite es gegeben hat.

Wie haben Sie die Situation in Kundus erlebt?
Ich wollte zunächst nicht nach Kundus weiterreisen. Die Truppe hatte Besseres zu tun, als sich um einen Minister aus Berlin zu kümmern. Allerdings hat uns dann General Leidenberger …

… Brigadegeneral Frank Leidenberger, damals Kommandeur des 22. ISAF-Kontingents und Regionalkommandeur Nord
Genau. Er hat uns noch in Masar-e-Sharif erklärt, dass die drei getöteten deutschen Soldaten rund 14 Tage in Afghanistan hätten bleiben müssen, wenn wir sie nicht mit dem Regierungsairbus von Termez aus mitnehmen würden. Das war mit Blick auf die Angehörigen und Kameraden natürlich indiskutabel. Nach Rücksprache mit meiner Delegation und Bundeskanzlerin Angela Merkel habe ich dann entschieden, die Delegationsreise bis nach der Trauerfeier zu verlängern und die drei Gefallenen mit nach Deutschland zu nehmen, um sie in Köln-Wahn der Bundeswehr zu übergeben.
 
Mit General Leidenberger hatte ich vereinbart, dass wir versuchen, nichts rauszugeben, solange die Verwandten der Gefallenen und der Verwundeten nicht informiert sind. Meine Delegation, die zu einem Großteil aus Journalisten bestand, musste ich dann motivieren, nichts nach Hause zu melden. Das hat zwar allen aus journalistischer Sicht gestunken, denn die waren vor Ort in Afghanistan und konnten nicht berichten; aber alle haben sich an die Absprache gehalten. Diese Delegation war außerordentlich diszipliniert. Auch für die Soldatinnen und Soldaten, deren Afghanistaneinsatz regulär zu Ende war und die in Termez zusteigen sollten, war es selbstverständlich, auf ihre gefallenen Kameraden zu warten.
 
Und die Trauerfeier selbst?
Wissen Sie, ich war in meiner Amtszeit in 125 Ländern. Ich war in allen damals fragilen Staaten. Ich war der erste Bundesminister, der nach unserem Abzug 1994 aus Beledweyne Mogadischu besucht hat. Ich war im Flüchtlingslager in Dadaab und auf Haiti nach dem Erdbeben. Ich habe also sehr viel Leid gesehen, aber was emotional am meisten hängen bleibt, waren Tage wie damals in Kundus.

Sie als ehemaliger Soldat und Fallschirmjäger: Wie haben Sie die Situation militärisch eingeschätzt?
Es war das schwerste, längste und verlustreichste Gefecht der Bundeswehr seit dem Zweiten Weltkrieg. Ich finde es im höchsten Maße unbefriedigend, dass es Luftunterstützung gegeben hat, die aber nicht in die Kämpfe eingreifen durfte. Die Piloten durften lediglich eine „show of force“ durchführen, mehr nicht. Außerdem gab es Ausrüstungsdefizite. Das Material selbst war nicht unbedingt schlecht, sondern das falsche Material war am falschen Ort, zur falschen Zeit: Ein Teil der Munition, die verschossen wurde, hatte nicht die nötige Durchschlagskraft, um die in Afghanistan typischen Lehmmauern zu durchschlagen. Wie mir die Kameraden des betroffenen Zugs auf dem Rückflug nach Deutschland berichteten, wäre das Gefecht ohne die amerikanischen Hubschrauberpiloten, die befehlswidrig in das Gefecht eingeflogen sind, um unsere Verwundeten zu bergen, noch verlustreicher zu Ende gegangen. Ich habe die Hubschrauber hinterher gesehen. Die sahen aus wie Siebe.

Sie waren Mitglied der Bundesregierung und des Deutschen Bundestags. War das Karfreitagsgefecht auch eine politische Zäsur?
Es war politisch insofern eine Zäsur, als dass mehr Politiker bereit waren zu sagen, dass es sich hier um einen Krieg handelt. Es war ja nicht nur der damalige Bundesverteidigungsminister, sondern es gab im parlamentarischen Umfeld genügend Abgeordnete, die es als „Krieg“ bezeichnet haben, obwohl es offiziell so nicht genannt worden ist. Hellmut Königshaus wurde kurz darauf zum Wehrbeauftragen gewählt. Er hat dann nochmals deutlich darauf hingewiesen, dass die Bundeswehr eine robustere Bewaffnung braucht.

Daraufhin ist dann die Panzerhaubitze 2000 nach Afghanistan verlegt worden. Die Schützenpanzer „Marder“ waren zwar schon da, waren aber in den Gefechten nicht dabei. Das änderte sich dann. Ich persönlich hätte mir auch durchaus vorstellen können, dass die Bundeswehr „Leopard 2“ nach Afghanistan verlegt, weil allein der Blick auf so ein Kampffahrzeug die Motivation eines Angreifers, sagen wir mal, minimieren könnte. Die Kanadier hatten bekanntlich „Leoparden“ im Einsatz. Ich bin selbst, wie gesagt, Fallschirmjäger. Ich bin ausgeschieden, als das „Wiesel“ eingeführt wurde. Unsere Panzerung war Stahlhelm, Erkennungsmarke und Koppelschloss. Ich bin dankbar, dass es heute anders geworden ist.