Oberstleutnant André Wüstner fordert eine Optimierung der Beschaffung und eine Veränderung der Führungs- und Organisationsstruktur. Foto: DBwV/Scheurer

Oberstleutnant André Wüstner fordert eine Optimierung der Beschaffung und eine Veränderung der Führungs- und Organisationsstruktur. Foto: DBwV/Scheurer

27.08.2019
Gregor Mayntz, Rheinische Post

Wüstner im Interview: "Ich sehe noch kein Licht am Horizont"

Im Interview mit der "Rheinischen Post" äußert sich der Bundesvorsitzende, Oberstleutnant André Wüstner, über einige der drängendsten Herausforderungen, die auf die neue Verteidigungsministerin warten: Material, Finanzen und Einsätze.

Rhenische Post: Welchen Eindruck haben Sie von der neuen Ministerin?

Oberstleutnant André  Wüstner: Sie arbeitet sich mit Hochdruck ein und nähert sich Schritt für Schritt den politisch drängendsten Themen. Als CDU-Vorsitzende und Verteidigungsministerin braucht Sie ein brillantes Zeitmanagement, denn sie ja hat zwei Ämter inne, die ihre Kraft eigentlich jeweils zu hundert Prozent fordern würden. Diesen Spagat muss sie hinbekommen.
 
Wie ist die Stimmung unter den Soldaten ihr gegenüber?

Wüstner: Jeder Minister und jede Ministerin bekommt erstmal einen großen Vertrauensvorschuss. Jetzt gilt es, Glaubwürdigkeit zu generieren. Das wird ihre wesentliche Leistung sein müssen, denn an Glaubwürdigkeit hat es in den letzten Jahren gefehlt. Sie darf also nicht nur Ziele formulieren, sondern muss auch aufzeigen, wann und wie sie diese erreichen will.
 
Was muss sie vor allem anpacken?

Wüstner: Wenn die Ministerin nicht in die gleiche Lose-lose-Situation wie ihre Vorgängerin kommen will, muss sie zwei Dinge prioritär ansteuern: Erstens die Optimierung der Beschaffung, zweitens die Veränderung der Führungs- und Organisationstruktur.  

Wird man das Beschaffungsamt in Koblenz umkrempeln müssen?

Wüstner: Es ist schlicht falsch, immer auf die Menschen im BAAINBw in Koblenz einzuschlagen, denn diese sind weit besser als ihr Ruf. Rüstung und Nutzung müssen endlich wieder ganzheitlich gedacht werden. Es braucht mittel- bis langfristig verlässliche rüstungspolitische Vorgaben und zudem dringend eine Novellierung des Vergaberechts, wofür das Wirtschaftsministerium die Federführung innehat. Es ist doch ein Wahnsinn, dass selbst die Beschaffung von Bekleidung oder persönlicher Ausstattung derart lange dauert. Hier brauchen wir einen Befreiungsschlag.
 
Wo klemmt es besonders?

Wüstner: Es gibt mittlerweile einen großen Entscheidungsstau, der natürlich auch an der Frage des mittelfristigen Finanzplans hängt. Da geht es nicht um Aufrüstung sondern den Ersatz, also die Neubeschaffung uralter Waffensysteme oder die Reanimation bestimmter Fähigkeiten. Stichworte sind neues Kampfflugzeug, neuer schwerer Transporthubschrauber oder Mehrzweckkampfschiff. Das Gleiche gilt für die Munitionsbevorratung, die auf einem kaum noch verantwortbaren Stand ist.
 
Was läuft bei der Führung falsch?

Wüstner: Die Bundeswehr hat mit der Reform 2011 Strukturen und Prozesse eingenommen, welche die heutige Auftragserfüllung lähmen. Zuletzt wurde in einer Untersuchung erneut belegt, dass all die Führungserschwernisse ihre Ursache auch in „dysfunktionalen Strukturen und Prozessen“ haben.
 
Was bedeutet das konkret?


Wüstner: Ein Bataillonskommandeur, der die Ausbildung in Vorbereitung auf einen Einsatz für seine Soldaten durchführen will, muss seit der letzten Reform Unmengen an Stellen außerhalb seines Verbandes einbinden, um einfachste Dinge wie Verpflegung, Munition, Instandsetzung oder die Sanitätsversorgung sicherzustellen. Der Verwaltungsaufwand ist viel zu hoch und wiederspricht dem Führungsprinzip in unserer Armee, denn eigentlich müssen Führung, Verantwortung und Ressourcen in einer Hand liegen. In der Bundeswehr spricht man von Unmengen an Entscheidern, die zwar alle im Prozess mitreden, aber keinerlei Ergebnisverantwortung haben. Und dieses Problem betrifft alle Ebenen bis ins Ministerium, das mittlerweile über mehr Sonderorganisationselemente verfügt, als alle anderen Ressorts. Der Wehrbeauftragte schrieb in seinem letzten Bericht zurecht vom „Bürokratiemonster Bundeswehr“.

Wie groß ist das Monster?

Wüstner: Enorm und ich halte die Situation vor allem mit Blick auf unsere Führungskultur für brandgefährlich, denn wenn sich Menschen erstmal daran gewöhnen, dass sie bürokratisch gelähmt sind oder keine Verantwortung übernehmen können, mindert das die Effektivität und die Haltung. Das wird nur ganz schwer zurückzudrehen sein. Deshalb muss die Ministerin schnellstens umsteuern.
 
Wie konnte es überhaupt dazu kommen?

Wüstner: Durch den Spardruck in 2011 wurde über alle Maßen zentralisiert. Zudem wurden die für die Landes- und Bündnisverteidigung vorhandenen Strukturen teilweise aufgegeben. Die Bundeswehr wurde umgebaut zu einer lückenhaften Kontingentgestellungsarmee für internationales Konfliktmanagement. Seit 2014 steht nun erstmals die Gleichrangigkeit beider Aufgaben im Lastenheft, und die Bundeswehr muss sich erneut anpassen.
 
Ihre Vorgängerin hat den Blick darauf gelenkt, was alles nicht funktioniert. Wird die Truppe dieses Pannen-Image jemals wieder los?

Wüstner: Ich hoffe es. Das ist wichtig fürs innere Gefüge und noch wichtiger für die Nachwuchsgewinnung. Wer will beispielsweise Hubschrauberpilot bei der Bundeswehr werden, wenn er monatlich von deren schlechten Einsatzbereitschaft liest? Auch das beschreibt die Lose-lose Situation. Wenn der Ministerin der richtige Befreiungsschlag in der Beschaffung gelingt, holt sie die Bundeswehr dort heraus und kommt nicht selbst hinein. Möglich ist es, wenn sie es will.
 
Geht es denn spürbar voran?

Wüstner: Ich sehe momentan noch kein Licht am Horizont. Vereinzelt gibt es zwar Verbesserungen, aber insbesondere bei der materiellen Einsatzbereitschaft noch keine klare Linie nach oben. Anfang Dezember kommt es erneut zum Schwur, wenn der nächste Bericht zur materiellen Einsatzbereitschaft fällig ist. Ich hoffe, dass Frau Kramp-Karrenbauer im Gegensatz zu Frau von der Leyen diesen nicht mehr als `Geheim´ einstufen lässt. Die Transparenz ist und bleibt den Menschen in der Bundeswehr wichtig. Zu lange wurde schöngeredet. Alle wissen: Nur so erreichen wir, dass Parlament und Öffentlichkeit bereit sind, wieder mehr in die Bundeswehr zu investieren und hinterfragen, ob wir im aktuellen Zustand tatsächlich sämtlichen Einsatzwünschen der Verbündeten folgen können.
 
Wieviel Geld braucht die Truppe mehr?

Wüstner: Die Regierung hat an die Nato gemeldet, bis 2024 auf 1,5 Prozent Verteidigungsausgaben in Bezug zum Bruttoinlandsprodukt zu kommen. Das ist eine gute Grundlage, um die sicherheitspolitischen Herausforderungen angehen zu können. Das wären im Schnitt jährlich drei Milliarden Euro mehr und am Ende rund 59 Milliarden. Damit könnten wir nach und nach die größten Mängel abstellen und endlich wieder die Lücke zwischen politischem Auftrag und dafür notwendigen Ressourcen schließen.

Kriegt die Truppe die Auslandseinsätze gut geschultert?

Wüstner: Sie steckt in einer enormen Beanspruchung, soll wachsen, weitere Fähigkeiten aufbauen und währenddessen die Einsätze übernehmen, deren Zahl ja weiter zugenommen hat. Das überdehnt teilweise die Möglichkeiten. Da müssen wir eine gute Mitte finden. Deshalb bin ich gar nicht so unglücklich darüber, dass die SPD unseren Irak-Einsatz hinterfragt. Es muss bei der Strategieentwicklung auch immer um Ressourcen gehen, und da brauchen wir eine klare Priorisierung. Stattdessen kommen jetzt wieder neue Forderungen, beispielsweise nach weiteren Marine-Missionen. Das geht mit der kleinsten Bundeswehr aller Zeiten nicht so einfach, wie es in der Politik diskutiert wird.
 
Ihre Kameraden würden es bevorzugen, wenn für den Irak-Einsatz dieses Jahr Schicht wäre?

Wüstner: Wenn es keine klare Strategie gibt, sind die Soldaten, wie die Diplomaten und Entwicklungshelfer vor Ort, die Leidtragenden. Ich gehe davon aus, dass die internationale Gemeinschaft noch präsent bleiben wird. Das ist auch im deutschen Interesse. Mit welchen Fähigkeiten welche Nation ihren Beitrag leistet, ist ein fortlaufender Prozess. Ich sehe aber, dass es einen enormen Bedarf für die Luftaufklärung durch unsere Luftwaffe gibt und ehrlich gesagt sollten wir ein Interesse daran haben, dass wir auch ein eigenes Lagebild generieren und uns nicht nur auf andere verlassen müssen.
 
Sieht das Außenministerium das auch so?

Wüstner: Leider hört man von dort sehr wenig. Das ist auch mein zentraler Kritikpunkt. Die Unsicherheit scheint dort groß zu sein – vielleicht, weil die Strategie fehlt? Jedenfalls greift die Debatte um das Militärische zu kurz. Auch der Außenminister sollte eindeutig Position beziehen und sagen, welche Ziele Deutschland in der Region vor dem Hintergrund der komplexen Lage verfolgt und wie lange es dauert, diese mit welchen Ressourcen zu erreichen.
 
Die USA wünschen den Einsatz deutscher Bodentruppen. Könnte die Bundeswehr das leisten?

Wüstner: Im Moment wäre sie nicht in der Lage, Bodentruppen in größerem Umfang in der Region zum Einsatz zu bringen. Ich kenne eine Prioritätenliste der Verbündeten. Für sie ist die Aufklärung von Jordanien aus vorrangig. Das könnte man mit einem Wechsel von Tornado auf Eurofighter weiter leisten.
 
Nach den Skandalen um Wehrmachtsdevotionalien gab es einen neuen Traditionserlass. Klappt dessen Umsetzung?

Wüstner: Die entsprechenden Weisungen sind ergangen. Die historische, politische und ethische Bildung ist in den Vordergrund gerückt worden. Wir müssen aber auch sehen, dass jeder Vorgesetzte nur ein bestimmtes Zeitbudget für alle seine Aufgaben hat und deswegen priorisieren muss. Keiner wehrt sich gegen historische, ethische und politische Bildung, aber unsere Führungskräfte sind in einem extremen Spagat zwischen geistiger Bildung und rein handwerklich notwendiger militärischer Ausbildung und Übung. Das kann erst besser werden, wenn Auftrag und Ressourcen wieder im Einklang sind.

Gehen die Soldaten denn nun sensibler mit der Vergangenheit des Militärs um?

Wüstner: Ja, die Sensibilität ist noch einmal gestiegen. Zweckmäßig waren auch die Unterstützung des Zentrums für Militärgeschichte und die Ausbildungshilfen vom Zentrum für Innere Führung. Es gibt keine Organisation, die zu Recht so viel in politische oder historische Erwachsenenbildung investiert wie die Bundeswehr.
 
Befürchtet Friedrich Merz zu Recht, dass die Union die Soldaten an die AfD zu verlieren droht?

Wüstner: Das kann ich so nicht bewerten. Unser Berufsverband hat dazu keine Zahlen. Dennoch sind die Menschen der Bundeswehr wie auch bei der Polizei, der Verwaltung oder Justiz besonders sensibel für Fehlentwicklungen oder Problemstellungen in unserem Land und da kann ich nicht ausschließen, dass einige zum Protestwähler wurden. Herr Merz hat meines Erachtens jedenfalls Recht, wenn er feststellt, dass Union oder auch SPD zuletzt in der Wahrnehmung vieler Menschen anscheinend keine Antworten mehr auf drängende Fragen unserer Sicherheitsvorsorge hatten. Das versuchen beide meiner Ansicht nach zu drehen, wobei es im Kern um das Gleiche wie für eine neue Verteidigungsministerin geht: Glaubwürdigkeit.
 
Es gibt Meldungen über rechtsextremistische, ja rechtsterroristische Netzwerke mit Verbindung in die Bundeswehr hinein. Besteht Anlass zur Sorge?

Wüstner: Seit den bekannten Vorfällen wurde der Militärische Abschirmdienst verstärkt und seine Leistungsfähigkeit selbst im Feld der Prävention ausgebaut. Es gibt keinen Grund zur Sorge, aber man muss eben auf der Hut bleiben, denn: Auch in jeder Uniform steckt ein Mensch – mit vielen positiven Eigenschaften und manchmal auch Fehlern. So, wie in der Gesellschaft auch, wir sind ein Teil dieser, was man beispielsweise durch das Engagement vieler Bundeswehrangehöriger in Vereinen, Elternbeiräten, Stiftungen und auch der Kirche täglich spürt.

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