Ein Scharfschütze in Afghanistan nahe Kundus, aufgenommen im Jahr 2010 Foto: Bundeswehr

Ein Scharfschütze in Afghanistan nahe Kundus, aufgenommen im Jahr 2010 Foto: Bundeswehr

02.02.2017
Klaus Wittmann

Die Lehren aus dem Afghanistan-Einsatz

Die Herausforderung Afghanistan wurde von der Internationalen Gemeinschaft lange unterschätzt; Fehleinschätzungen und Versäumnisse prägten den Beginn des ISAF-Einsatzes. Auch das Zusammenwirken der Akteure im Rahmen eines vernetzten Ansatzes hätte besser funktionieren müssen, meint Brigadegeneral a.D. Klaus Wittmann. Er ist Senior Fellow des Aspen Institute Deutschland und Lehrbeauftragter für Zeitgeschichte an der Universität Potsdam. Er vertritt hier seine persönliche Auffassung.

Der Afghanistan-Einsatz, begonnen 2001 mit dem Sturz des Taliban-Regimes wegen dessen Verstrickung in die Terroranschläge vom 11. September, ist nach Größe, Dauer und Umfang der Beteiligung das bisher größte Experiment in „Statebuilding“ seit vielen Jahrzehnten. Denn dem afghanischen Volk war zugesagt worden, es werde – anders als nach dem Abzug der Sowjet­truppen 1979 – nicht im Stich gelassen.

Nach dem Kalten Krieg war in der Nato und in den Mitgliedsstaaten in Bezug auf Fähigkeiten, Ausrüstung und Ausbildung das Pendel stark nach der Seite der Auslandseinsätze ausgeschlagen. Das strategische Konzept des Bündnisses vom November 2010 hat dieses Ungleichgewicht zwischen kollektiver Verteidigung und „Out of area“-Missionen tendenziell korrigiert – aber nur auf dem Papier. Nun hat die russische Führung mit ihrem Vorgehen gegen die Ukraine die Alliierten in die „Artikel 5“-Welt zurückgeführt. Das verlagerte auf dem Nato-Gipfel von Wales 2014 die ursprüngliche Agenda völlig, die eigentlich auf die Auswertung der Afghanistan-Mission konzentriert sein sollte.

Zugleich gibt es angesichts der Erfahrungen in Afghanistan und, noch krasser, im Irak und in Libyen, große Ernüchterung darüber, was überhaupt mithilfe militärischer Intervention gegen autoritäre Regime zum „Statebuilding“ oder zur „Ausbreitung“ von Demokratie erreicht werden kann. So sind Einsätze einer Afghanistan-Dimension auf absehbare Sicht sehr unwahrscheinlich geworden. Ungeachtet dessen wird es auch weiter Auslandsmissionen vielfältiger Natur und Größe geben; unterschiedliche sind auch derzeit im Gang. Sie alle, nicht allein ISAF, erfordern sorgfältige Auswertung in den Vereinten Nationen, in der Nato und national.

Zwei Aspekte sind hier von besonderem Interesse: 1. Wie ist die Internationale Gemeinschaft mit der Herausforderung Afghanistan fertiggeworden und wie hat sie die wichtigen Aspekte und Akteure einbezogen? 2. Wie erfolgreich haben im Rahmen des „vernetzten Ansatzes“ die verschiedenartigen Akteure zusammengewirkt (multinational und national) und sind die vorhandenen Strukturen dazu geeignet, die Vernetzung zu fördern?
Gewiss gibt es in Afghanistan manche Erfolge und Fortschritte, aber die Probleme im Hinblick auf „selbsttragende“ Sicherheit und wirtschaftliche Entwicklung überwiegen. Auch sind positive Erfahrungen mit der Interoperabilität zwischen Alliierten sowie Partnern und dem Zusammenwirken multipler Akteure unverkennbar, wenngleich sich die Auswertung mehr den erkannten Defiziten zuwenden sollte.

Die Internationale Gemeinschaft und ihr Anspruch


Sicherheit, Wiederaufbau und Entwicklung in Afghanistan sind ein Projekt der Internationalen Gemeinschaft (IG), nicht der Nato – aber der Militärorganisation wurde ein viel zu großer Teil der Aufgabe überlassen. Das zeigt schon exem­plarisch ein Vergleich der Mittelansätze für ISAF und UNAMA oder andere zivile Institutionen. Wenn die IG so massiv in einem Land interveniert, übernimmt sie langfristig Verantwortung. Aufwand, Zeitbedarf und Kosten wurden – wie auch in anderen Einsätzen – dramatisch unterschätzt. Lange bevor es vom Erfolg her gerechtfertigt war, bewirkten innenpolitische Ermüdung in vielen Staaten und die Abnahme strategischer Geduld den voreiligen Abzug von Kräften.

So ist in der internationalen Politik beim ständigen Reden über „regime change“ die grundsätzliche Lehre zu beachten, dass Regimesturz noch lange nicht Regimewechsel ist. Dazu gehört mehr. Das hat auch mit fehlender internationaler Einigung über die politischen und strategischen Ziele zu tun. „Exit-Strategie“ war immer ein irreführender Begriff. Kriterien für Erfolg beziehungsweise Fortschritt wären dringend gewesen, auch „Sieg“ oder „Niederlage“ waren die falschen Kategorien gegenüber gegnerischen Kräften, die gar nicht „siegen“, sondern (im eigenen Land) nur „nicht verlieren“ mussten.

Zu einer solchen gemeinsamen Zielbestimmung im Rahmen der IG oder der Nato hätte eine stärkere Berücksichtigung der dezentralen Struktur Afghanistans, seiner Geschichte und Traditionen gehört – aber auch der Erfahrungen, welche die Sowjetunion in dem Land gemacht hat.

Wichtig ist auch die Erkenntnis, dass es in diesem kriegsgeschundenen Land erforderlich gewesen wäre – möglicherweise unter dem Schutz weit stärkerer militärischer Anfangskräfte – wesentlich schneller eine sichtbare Verbesserung der Lebensumstände für große Bevölkerungsteile zu bewirken. Bleibt das aus, werden unweigerlich die Friedenstruppen zunehmend als Besatzer angesehen. Auch für die Befähigung der afghanischen Sicherheitskräfte zur Gewährleistung der staatlichen Sicherheit wurde wohl der Zeitbedarf unterschätzt.

Nachbarländer wurden nicht mitgenommen

Versäumt wurde auch eine Betrachtung Af­ghanistans in seinem regionalen Umfeld mit dem frühzeitigen Einbezug von Nachbarn wie insbesondere Pakistan und Iran in Lösungsansätze und die Entwicklung des Landes. Und von Anfang an hätte die IG ein Versöhnungskonzept und die Suche nach gemäßigten Kräften befördern müssen, anstatt – schon seit der ersten Petersberg-Konferenz mit ihrer einseitigen Auswahl der Delegationen – nur in Kategorien von „Sieger“ und „Besiegte“ zu denken.

Viele Jahre später, aus mittlerweile geschwächter Position, begann man nach „gemäßigten“ Taliban zu suchen – die nun weniger Grund zu Kompromissen sahen. Internationalität in Afghanistan stieß auf viele Hindernisse: mangelnde Koordination auf allen Ebenen, ungeordnete Konkurrenz ziviler Hilfe und Kooperationsansätze sowie – bei ISAF – sehr unterschiedliche militärische Kulturen, „caveats“ (nationale Vorbehalte) zum Schaden integrierter, einheitlicher Führung sowie unterschiedliche Fähigkeiten und Ausrüstung. Auch die Dualität zwischen OEF und ISAF hatte eine, wenngleich abnehmende, Bedeutung.

Sehr wichtig für den Erfolg der multinationalen Anstrengungen sind Aufklärung und Überzeugungsarbeit in der Bevölkerung der Entsendeländer. Exemplarisch schwierig und deshalb besonders notwendig ist dies in Deutschland, wo bezüglich des Afghanistan-Einsatzes „Ehrlichkeitsdefizit“ und „Vermeidungsrhetorik“ (Bundeswehr dort kaum mehr als ein Technisches Hilfswerk im Tarnanzug?) anhielten bis zum Schock von Kundus 2009. Dann war es jedoch zu spät, die erschreckte deutsche Gesellschaft vom Nutzen des Einsatzes und der Notwendigkeit zum Kampf zu überzeugen. So bedurfte es beispielsweise einer großen Kraftanstrengung, den deutschen ISAF-Truppen wenigstens die seit langem erforderliche Panzerhaubitzen zur Verfügung zu stellen.

Comprehensive Approach/Vernetzte Sicherheit


Der „vernetzte Ansatz“ in der Sicherheitspolitik ist mehr als die (eher technische) Zivil-Militärische Zusammenarbeit CIMIC, welche die Bundeswehr besonders seit den Balkan-Einsätzen erfolgreich entwickelt und durchgeführt hat. Als „Comprehensive Approach“ in der Nato eingeführt, meint dieser Ansatz das enge, möglichst integrierte Zusammenwirken von internationalen und Regierungsorganisationen, militärischen und zivilen Akteuren, Nichtregierungsorganisationen (NGOs) und so weiter.

Bei diesem Ansatz besteht eigentlich kein Erkenntnisproblem; die Notwendigkeit liegt ja auf der Hand. Das Pro­blem besteht in der Umsetzung der Erkenntnisse. Hindernisse gibt es zunächst wegen unterschiedlicher nationaler Auffassungen nicht zuletzt im Bündnis. Denn mitnichten hat, wie bisweilen behauptet, Deutschland mit dem Weißbuch 2006 erstmals den Ansatz „vernetzter Sicherheit“ präsentiert. Auch in anderen Nato-Staaten wie beispielsweise Dänemark gab es frühzeitig entsprechende Konzepte. Prompte Harmonisierung wäre wichtig gewesen.

Der in den USA entwickelte „Effects-based Approach to Operations“ (EBAO), zunächst eilfertig von vielen in der Nato übernommen, war Vorläufer des „Comprehensive Approach“ und zeitigte weitere Probleme: eine stark militärlastige Auslegung und den Eindruck bei anderen Akteuren, die Nato wolle sie koordinieren, anstatt sich mit ihnen zu koordinieren.

Auch die „Provincial Reconstruction Teams“ (PRT) wiesen je nach Führungsnation in Zusammensetzung (Beteiligung ziviler Ressorts) und Aufgabenstellung beträchtliche Unterschiede auf. Bei der Pluralität der Akteure in Afghanistan gab es große Koordinierungsprobleme und besonders zwischen Militär und NGOs Hindernisse wegen der Unterschiede in den institutionellen Kulturen. Da müssen Auffassungsunterschiede über Unparteilichkeit, Schutzbedürftigkeit ziviler Akteure und dergleichen offen erörtert werden. Ideal wäre der Einbezug bestimmter NGOs schon in der Planungsphase von Operationen.

Nicht auf militärische Kräfte beschränken


Der vernetzte Ansatz beginnt zu Hause, das heißt in ressortübergreifender Zusammenarbeit (was auch eine teilweise Überwindung des Ausschussprinzips im Bundestag bedingt). Diese ist in Deutschland wie in anderen Ländern noch nicht weit genug entwickelt, auch wenn es Fortschritte gibt. Ein gutes Beispiel in konzeptioneller Hinsicht war die von Auswärtigem Amt, Verteidigungsministerium und Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung gemeinsam erarbeitete ressortübergreifende Leitlinie über den Umgang mit fragilen Staaten (2012).

In der Gesellschaft und oft auch bei Politikern herrscht ein dichotomisches Denken und Reden über entweder „politisch/diplomatisch“ oder „militärisch“. Das ist vom Ansatz her falsch. Für nichts gibt es militärische „Lösungen“, aber politische Lösungen sind nicht immer ohne militärische Komponente zu haben. In diesem Zusammenhang sollte man sich beim Beschluss von Einsatzmandaten im Deutschen Bundestag nicht auf die militärischen Kräfte beschränken, sondern auch die zivilen Aspekte einbeziehen.

Diese Überlegungen berühren auch das Verhältnis von Politik und Militär. Bei unzweifelhaftem Respekt für das Primat der Politik ist doch angesichts der Komplexität heutiger Sicherheitspolitik eine neue Art der „Elitendiskussion“ erforderlich (so der Hamburger Historiker Klaus Naumann). Die Strategiefähigkeit Deutschlands und die sicherheitspolitische Kompetenz von Abgeordneten zur Einlösung des Anspruchs einer „Parlamentsarmee“ gehören zu den Aspekten, die im Zusammenhang mit dem Thema „Lehren aus Afghanistan“ zu hinterfragen sind.Auswertung und  Evaluierung von Auslandseinsätzen, besonders des umfangreichsten in Af­ghanistan, sollten zielgerichtet weiter betrieben werden.

Dabei müssen im Zusammenhang mit Bundespräsident Gaucks – schon vielfach umgesetzter – Forderung nach größerer Verantwortungsübernahme Deutschlands für die Lösung globaler und regionaler Probleme Sinn und Ziel der Einsätze verdeutlicht werden. Die Beteiligung von Akteuren, Parlamentariern, „Think Tanks“ und Kirchen ist dabei essenziell. Und die Diskussion mit der Öffentlichkeit ist eine kontinuierliche Aufgabe, sie darf nicht erst beginnen, wenn sie durch einen Schock wie Kundus angestoßen wird.

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