An einem Abend im Oktober 2011 ziehen Soldaten in Kundus aus, um eine notgelandete Drohne zu bergen. Foto: imago/EST&OST

An einem Abend im Oktober 2011 ziehen Soldaten in Kundus aus, um eine notgelandete Drohne zu bergen. Foto: imago/EST&OST

13.03.2020
CH, mit Material von bundeswehr.de

Das Karfreitagsgefecht - als aus Brunnenbohren Krieg wurde

Die Falle schnappt zu, als vier Fallschirmjäger in einem Weizenfeld nahe des kleinen Ortes Isa Khel im Norden Afghanistans eine abgestürzte Drohne suchen. Ein von langer Hand geplanter Hinterhalt radikal-islamischer Taliban macht aus dem Karfreitag des Jahres 2010 einen der schwärzesten Tage in der Geschichte der Bundeswehr. Stunden später haben drei deutsche Soldaten ihr Leben verloren, acht sind teilweise schwer verletzt.

Das Karfreitagsgefecht wird für immer untrennbar mit dem ISAF-Einsatz in Afghanistan verbunden sein. Erstmals seit Bestehen der Bundeswehr waren deutsche Soldaten in längere Kampfhandlungen verwickelt. In der Wahrnehmung des Einsatzes am Hindukusch löst dieser Tag ein Umdenken aus: Spätestens am 2. April 2010 wird klar, dass es im 5000 Kilometer entfernten Afghanistan nicht um den Bau von Brunnen oder Schulen geht, sondern um Krieg, um Kampf auf Leben und Tod.

Trotz Hinweisen des Geheimdienstes über eine verstärkte Aktivität der Aufständischen ist an diesem Tag eine Bundeswehrpatrouille zu einem Routineeinsatz in der Provinz Kundus aufgebrochen. Die Soldaten des Fallschirmjägerbataillons 373 aus dem niedersächsischen Seedorf befinden sich seit einigen Wochen im Einsatz. Etwa 130 von ihnen gehören der 1. Infanteriekompanie an, die bei regelmäßigen Einsätzen außerhalb des Feldlagers Kundus die Umgebung der Stadt gegen aufständische Taliban verteidigen und für Sicherheit auf den Hauptverbindungsstraßen sorgen sollen.

Spähtrupp sucht nach abgestürzter Drohne und gerät in einen Hinterhalt

Am 2. April haben 34 Soldaten der 1. Infanteriekompanie den Auftrag, improvisierte Sprengfallen entlang der Straße nach Isa Khel aufzuklären und zu räumen. Als die zur Unterstützung eingesetzte Drohne vom Wind abgetrieben wird und abstürzt, macht sich ein Spähtrupp von vier Soldaten auf einem Feld auf die Suche nach dem Gerät. Sie ahnen nicht, dass sie in einen Hinterhalt geraten. Denn zuvor hatten Aufständische rings um den Ort Stellung bezogen – gegen 13 Uhr Ortszeit greifen sie die Bundeswehrsoldaten aus mehreren Richtungen mit Handfeuerwaffen und Panzerfäusten massiv an.

Für den Spähtrupp gibt es auf dem freien Feld kaum Deckung. Drei Schüsse ins Bein verletzen den Spähtruppführer, Oberfeldwebel Naef Adebahr, schwer und während ihm zwei Soldaten Feuerschutz geben, kämpft sich der Stabsgefreite Maik Mutschke zu den eigenen Hauptkräften zurück. Er will die Lage des Verwundeten melden. Ein vom Zugführer Hauptfeldwebel Nils Bruns zusammengestellter Trupp aus fünf Mann rückt daraufhin unter massivem Beschuss vor und rettet den verwundeten Adebahr. Zurück bei den eigenen Kräften erleidet der Stabsgefreite Robert Hartert einen Treffer im Oberkörper.

Mit "Black Hawk" ins Einsatzlazarett

Als angeforderte Verstärkung setzt sich derweil eine Reservekompanie aus dem Feldlager Kundus in Bewegung. Über dem Gefechtsfeld führen Kampfflugzeuge der US-Streitkräfte Tiefflüge durch, können aber aufgrund der Gefahr des Eigenbeschusses nicht eingreifen. US-Hubschrauber des Typs „Black Hawk“ nehmen die beiden schwerverwundeten Adebahr und Hartert in der „heißen Landezone“ unter Beschuss auf und fliegen sie in das deutsche Einsatzlazarett in Kundus aus. Der 25-jährige Robert Hartert erliegt wenige Stunden später seiner Verwundung.

Die angegriffene Kompanie versucht unterdessen, sich vom Feind zu lösen. Dabei fährt ein „Dingo“ kurz vor 15 Uhr auf eine Sprengfalle. Fünf Fallschirmjäger, die den „Dingo“ zu Fuß sichern, werden teilweise schwer verwundet, darunter Hauptfeldwebel Nils Bruns (35 Jahre) und Hauptgefreiter Martin Augustyniak (28 Jahre). Beide erliegen ihren Verwundungen.

Während der Ausweichweg durch das Wrack des „Dingo“ und einen Krater versperrt ist, sehen sich die Soldaten einem verstärkten Feindfeuer gegenüber. Neben den Kräften der 1. Infanteriekompanie ist mittlerweile auch die angeforderte Verstärkung vor Ort. „Black Hawks“ bekämpfen den Gegner aus der Luft, amerikanische F-16-Kampfjets fliegen im Tiefflug, um die Aufständischen zu vertreiben. Gegen 16.30 Uhr startet ein neuer Ausweichversuch, doch erst mit Einbruch der Dunkelheit ebben die Kämpfe ab.

Am Abend rückt die als letzte Reserve zurückgehaltene 2. Infanteriekompanie zur Ablösung aus dem Feldlager Kundus ab. Auf dem Weg zum Ort der Kampfhandlungen kommt es zu einer tragischen Verwechslung: Die deutschen Soldaten halten zwei entgegenkommende Pick-ups, die sich trotz Warnzeichen weiter nähern, für Feinde und eröffnen das Feuer. Es handelt sich jedoch um Fahrzeuge der afghanischen Armee – sechs afghanische Soldaten sterben.

Am Einsatzort nahe Isa Khel ist das Gefecht beendet. Erst gegen Mitternacht sind die letzten Kräfte der 1. Infanteriekompanie zurück im Feldlager Kundus.

In der Folgenacht werden die Gefallenen aufgebahrt. Zwei Tage später, am 4. April, Ostersonntag, nehmen die Soldaten am Ehrenhain im Feldlager Kundus Abschied von ihren Kameraden und geben ihnen das letzte Geleit, bevor sie nach Termez ausgeflogen werden. Von dort nimmt der gerade vor Ort anwesende Entwicklungsminister Dirk Niebel die Särge in seinem Regierungsairbus mit nach Köln-Wahn. Die offizielle Trauerfeier findet am 9. April unweit des Heimatstandorts Seedorf in Anwesenheit von Verteidigungsminister zu Guttenberg statt. Erstmals besucht auch Bundeskanzlerin Angela Merkel einen Trauergottesdienst für gefallene Soldaten.

Bereits knapp zwei Wochen später fallen in Afghanistan vier weitere deutsche Soldaten in Folge einer Sprengfalle und eines Angriffs durch Aufständische: Am 15. April 2010 wird eine Patrouille im Raum Baghlan angegriffen und ein gepanzertes Fahrzeug vom Typ „Eagle IV“ mit einer Sprengfalle zerstört. Dabei kommen die drei Bundeswehrsoldaten Major Jörn Radloff (38), Hauptfeldwebel Marius Dubnicki (32) und Stabs­unteroffizier Josef Kronawitter (24) ums Leben, fünf weitere werden teilweise schwer verwundet. Unweit davon wird am selben Tag eine zweite deutsche Marschkolonne durch Hand- und Panzerabwehrwaffen beschossen. Dabei wird das Fahrzeug des beweglichen Arzttrupps getroffen und Oberstabsarzt Dr. Thomas Broer (33) getötet.

In den folgenden Wochen nennen Politiker den Einsatz am Hindukusch endlich beim Namen und sprechen von „Krieg“. Die Truppe erhält endlich die Ausrüstung, die sie für derartige Gefechte benötigt, unter anderem Artillerie, Panzerabwehrraketen und zusätzliche Schützenpanzer. Und auch die Einsatzversorgung wird in den folgenden Jahren gesetzlich verbessert – viele Anregungen des DBwV werden dabei von der Politik aufgegriffen.

Nach Angaben der Bundeswehr kamen seit 1992 bei Auslandseinsätzen 114 Bundeswehrsoldaten ums Leben.