22.01.2020
Carsten Hoffmann, dpa

Ein Zeichen: Luftwaffe fliegt Holocaust-Überlebenden nach Deutschland

Auftakt zum mahnenden Gedenken Deutschlands: 75 Jahre nach der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau hat die Luftwaffe einen Überlebenden aus Israel nach Deutschland geflogen. Der 87-jährige Naftali Fürst eröffnet mit der Kanzlerin eine Ausstellung.

Tel Aviv/Essen - Es soll ein starkes Zeichen dafür sein, wofür Deutschland und die Bundeswehr heute stehen. Die Luftwaffe hat am Dienstag den Holocaust-Überlebenden Naftali Fürst (87) aus Tel Aviv nach Deutschland geflogen. Sein Ziel: Eine Ausstellung mit Porträtfotos Überlebender, die er zusammen mit Kanzlerin Angela Merkel (CDU) in Essen eröffnete.

«Das ist unglaublich. Der kleine Junge vom Todesmarsch nun in einer deutschen Militärmaschine auf dem Weg zur Kanzlerin», sagt Fürst der Deutschen Presse-Agentur auf dem Flug nach Düsseldorf. Den ersten Gästen der Ausstellung schildert er später: «Ich erinnere mich an die Häftlinge, die auf dem Todesmarsch zusammengebrochen sind und von der SS erschossen wurden.» Er fühle «die heilige Pflicht, die Erinnerung an die Schoah zu bewahren».

«Diese symbolische Reise mit einem Flugzeug der Luftwaffe, das bedeutet uns unendlich viel, dass sie diese Reise auf sich genommen haben», sagt Merkel. «Wir, die wir später geboren sind, stehen vor diesen Verbrechen und sind fassungslos.» Und: «Niemand kann das Leid wirklich ermessen, außer den Menschen, die in diese Hölle gestoßen wurden.»

Lange seien Erinnerungen und Gefühle tief in seiner Seele begraben gewesen, hat Fürst mal geschrieben. Ein bekanntes Foto, aufgenommen am 16. April 1945, zeigt ihn auf dem Bauch liegend in der dritten Etage einer Pritsche im Konzentrationslager Buchenwald, das Kinn abgestützt, aber mit konzentriertem Blick. Vorher war er im Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau und zwei weiteren Lagern inhaftiert. Von Auschwitz aus überstand er den Todesmarsch nach Buchenwald.

«Ich bin als Vertreter derer unterwegs, die nicht sprechen können - weil sie ermordet wurden oder zu alt sind. Es ist, als stände ich nun allein auf dem Gipfel», sagt Fürst noch im Flugzeug. Auch wenn es traurig ist, erzähle er «immer ein wenig mit Humor» und nehme wahr, dass in Deutschland viele Menschen gegen das Vergessen arbeiteten.

Die Ausstellung in Essen ist dazu ein Beitrag. Zu sehen sind Fotografien des Künstlers Martin Schoeller, der 75 Jahre nach der Befreiung von Auschwitz-Birkenau 75 Holocaust-Überlebende in Israel porträtiert hat. «Survivors. Faces of Life after the Holocaust», lautet der Titel (Überlebende: Gesichter des Lebens nach dem Holocaust). Die Ausstellung ist ein gemeinsames Projekt der Stiftung für Kunst und Kultur Bonn mit der israelischen Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem und soll weltweit gezeigt werden.

«Jede der Fotografien sagt mehr, als es Worte je vermögen», erklärt Kai Diekmann, Vorsitzender des Deutschen Freundeskreises von Yad Vashem. «Jeder der von nahem und überlebensgroß gezeigten Gesichtszüge trägt ein Stück persönlicher und kollektiver Geschichte in sich. Ihre Gesichter beobachten uns. Ihr Blick fesselt uns. Die Furchen der Gesichter sind Zeichen des durchlebten Grauens und zugleich des Triumphs, sich ein neues Leben aufgebaut zu haben.» Und: «Jede Fotografie spricht zu unserem Herzen - und öffnet ein Tor zu dem überwältigenden Vermächtnis der Opfer und Überlebenden.»

Um kurz nach 8.00 Uhr (Ortszeit) rollte der Luftwaffen-Airbus A319 auf dem Flughafen Ben Gurion los. Die Sonne strahlte beim Start über die aus der Nacht noch regennasse Startbahn. Naftali Fürst nippte an seinem Getränk und schaute glücklich. An Bord der deutschen Regierungsmaschine mit dabei waren auch seine Tochter Ronit und zwei Enkel. Sie sind für ihn sichtbares Zeichen dafür, dass die Geschichte des jüdischen Volkes weitergeht, so Fürst.

Naftali Fürst war 1932 in Bratislava geboren worden. Nach dem Krieg wanderte er 1949 nach Israel aus und arbeitete zunächst als Tischler in einem Kibbutz. Dann lernte er das Fotografenhandwerk, gründete aber mehrere Fahrschulen. Zuletzt hatte er einen Großhandel für Medikamente in Israel. «Ich habe kein Geld aus den Wiedergutmachungen aus Deutschland angenommen. Gar nichts. Das kann man nicht mit Geld gut machen», sagt er auf dem Flug nach Deutschland.

In einer Dokumentation seiner Lebensgeschichte hat er geschrieben: «Wir sind Überlebende, Kohlestücke, die in den Flammen des Schreckens nicht völlig verbrannt sind.» So heißt auch sein Buch: «Wie Kohlestücke in den Flammen des Schreckens.»

«Als Erstes würde ich gerne erwähnen, dass, obwohl ich ein emotionaler Mensch bin, dem leicht die Tränen kommen, weder mein Bruder oder ich noch meine Eltern jemals während des Krieges geweint haben. Heute kann ich diese Tatsache kaum fassen», hat er geschrieben. In seinem Bericht als Zeitzeuge für Yad Vashem und auch in seinen schriftlichen Erinnerungen habe er zudem versucht, drei Wörter zu vermeiden: Deutsche, Holocaust und Nitzolim (die Geretteten) - das allgemein übliche hebräische Wort für Überlebende.

«Deutsche - ich verabscheue die Deutschen dieser Epoche, im Besonderen die, die SS- und Gestapouniformen trugen. Aus diesem Grund habe ich mich dafür entschieden, sie nur dann direkt zu nennen, wo es absolut notwendig war», schreibt er. «Holocaust - der Gebrauch dieses Wortes hat im alltäglichen Kontext seine Einzigartigkeit, Kraft und tiefere Bedeutung verloren.» Und die Geretteten? «Ich wurde nicht gerettet. Eine gerettete Person ist jemand, der an den verheerenden Ereignissen nicht teilgenommen hat, wie ein nichtjüdisches Kind in Monaco oder der Schweiz, das nie einen Krieg erlebt hat.»