14.03.2018
Christine-Felice Röhrs, dpa

Fliegen und siegen? Die Nato und das Projekt afghanische Luftwaffe

Sie sind die große Hoffnung auf einen Sieg über die Taliban: Piloten, die noch kaum fliegen können, aber schon kämpfen müssen. In einem irrwitzigen Wettlauf mit der Zeit versucht die Nato, mitten im Krieg in Afghanistan eine Luftwaffe aufzubauen. Bundeswehrberater helfen.

Kabul - Die Hubschrauber für den Kampf gegen die Taliban sehen aus wie Glaskugeln, klein und rund und viel Fensterscheibe vorne rum. In den USA fliegen in solchen Hubschraubern Touristen durch den Grand Canyon. In Afghanistan schießen die Piloten der jungen afghanischen Luftwaffe mit mehr als 200 Stundenkilometern ganz nahe an Feindstellungen vorbei. «Manchmal feuern die Taliban mit schweren Maschinengewehren auf uns», sagt ein Pilot.

«Herr Atif» möchte der Pilot genannt werden. Sein richtiger Name ist das nicht, aber seinen richtigen Namen gibt man in Zeiten von gezielten Morden der Taliban an afghanischen Soldaten auch besser nicht preis. Er steht in einem Hangar in der südafghanischen Provinz Kandahar und erzählt vom Fliegen im Krieg. «Im letzten Fastenmonat bin ich geflogen, bis die Finger weiß wurden vor Flüssigkeitsmangel und Erschöpfung», sagt er. Das war in Urusgan, wo die Taliban versucht hatten, in die Provinzhauptstadt hineinzukommen. Sie standen nur noch einen Kilometer vor der Stadt, als Herr Atif aufstieg und zu kämpfen begann.

Die junge afghanische Luftwaffe, die noch kaum fliegen kann, aber schon schießen muss, hat jeden Tag bereits Dutzende Anfragen, für Luftangriffe oder Verletztentransporte, Truppenverlegungen oder Nachschublieferungen. Da draußen kontrollieren die Taliban wieder mindestens 14,3 Prozent des Landes und kämpfen um 30 Prozent, heißt es in offiziellen Berichten. Fast täglich greifen sie Bezirke, Polizeistationen oder Armeestützpunkte an. Der Bedarf ist riesig, aber die Zahlen sind klein. Gerade mal 135 Hubschrauber und Flugzeuge hat die Luftwaffe derzeit zur Verfügung. 47 waren 2017 für Luftangriffe einsetzbar. Das ist allerdings nur eine Momentaufnahme im Wettlauf mit den Taliban. Bis 2022 soll sich die Flotte verdreifachen. Piloten und Mechaniker müssen eben lernen, während sie kämpfen.

Die afghanische Luftwaffe ist damit das wohl ehrgeizigste Projekt der der Nato-Mission im Land. Seit Anfang 2015 ist die keine Kampfmission mehr, sondern trainiert und berät die afghanischen Streitkräfte nur noch. Erst am vergangenen Mittwoch hatte das Kabinett den deutschen Einsatz in Afghanistan verlängert und, angesichts der verschärften Sicherheitslage, die Obergrenze für die Soldaten im Land von 980 auf 1300 angehoben. Das soll der Bundeswehr helfen, ihren Anteil an den Ausbildungsverpflichtungen zu erfüllen. Der Aufbau der afghanischen Luftwaffe gehört dazu.

Gleichzeitig ist der Druck auf die Luftwaffenausbilder enorm, denn zusammen mit den Spezialkräften, die bis 2020 auf rund 30 000 Mann verdoppelt werden sollen, sind die Flieger die große Hoffnung auf einen Sieg über die Taliban. «Wir bringen damit eine Fähigkeit auf das Schlachtfeld, die die Taliban nicht haben», sagt der Chef der multinationalen Ausbilder, der amerikanische General Phillip Stewart. Die Hauptfunktion der Luftwaffe sei, Überfälle der Taliban zu unterbrechen, bevor sie mehr Opfer fordern können. Seiner Meinung nach hat das 2017 schon geklappt. Die Luftwaffe habe Gefechte zum Vorteil der Regierung entschieden, sagt er, und gleichzeitig die Moral der überforderten Armee und Polizei schon etwas verbessert.

Es ist allerdings keine High-Tech-Luftwaffe, die da aufgebaut wird. Das könnte sich die Wirtschaft des Landes gar nicht leisten, so lautet ein Argument. Während die USA nach Jahren des Abzugs von Truppen und Ausrüstung 2017 wieder ihre teuersten und größten Flugzeuge nach Afghanistan verlegt haben, treten die Afghanen an mit Fluggeräten, die im Kriegskontext manchmal wie Spielzeug wirken.

Da sind die Kugel-Helikopter, die MD-530, die aber «überraschend tödlich sind», wie General Stewart sagt, und mit kleinen Raketen und Maschinengewehren bewegliche Ziele abfangen sollen. Dann sind da kleine Cessnas 208, um Verletzte auszufliegen. Die A-29 sehen aus wie von Kindern gemalte Propellerflugzeuge, können aber Bomben abwerfen. Vier große alte C-130-Frachtflugzeuge fliegen Truppen zu Einsatzorten. Die wohl teuerste Anschaffung sind die rund 160 Black-Hawk-Hubschrauber, die die alten russischen MI-17 ablösen sollen. Die ersten acht sind gerade in Kandahar eingetroffen.

Die afghanische Luftwaffe ist so etwas wie ein nachträglicher Einfall. Bis vor zwei Jahren waren ihre Überreste aus alten Zeiten - 23 vor allem russische Klapperkisten - weitgehend ignoriert worden. Jetzt soll sie das Scheitern der afghanischen Armee und Polizei aufhalten: weit mehr als 300 000 Mann, die seit Ende der Nato-Kampfmission im Dezember 2014 auf sich allein gestellt sind und atemberaubende Verluste erleiden. 2017 haben Armee und Polizei die Zahl der Toten und Verletzten zum ersten Mal zensiert. 2016 hatten sie rund 8000 Tote und 14 000 Verletzte gemeldet.

Es gibt Warnungen, dass die Luftwaffe zu spät kommen könnte. «Aber sie wächst schnell - sie muss», sagt General Stewart. Bei der vergleichsweise kleinen Truppe wird fast jeder einzelne Pilot und Mechaniker begleitet von internationalen Militärberaten oder Vertragskräften. Es ist ein entscheidender Unterschied zum Training für die scheiternde riesige Armee, die unterhalb der höchsten Offiziersebene immer noch kaum internationale Ausbilder sieht, weil die Nato-Mission dafür bisher zu klein war.

Im Westen dauere «der Aufbau» eines Piloten mindestens vier Jahre, sagt Stewart. «In Afghanistan sind wir erst seit zwei Jahren dabei - und die Luftwaffe kämpft schon.» Er klingt stolz.

Die Piloten fliegen mittlerweile um die 100 Missionen am Tag, darunter viele Luftangriffe. Die hatten die USA und die Afghanen 2016 und 2017 massiv gesteigert. Menschenrechtsexperten sind alarmiert, denn gleichzeitig ist die Zahl der zivilen Opfer explodiert. 2017 wurden mehr als 630 Zivilisten in Bombardements aus der Luft getötet oder verletzt, berichten die Vereinten Nationen in ihrem neuen Report zu den zivilen Opfern des Krieges aus dem Februar. Die Afghanen, die längst nicht so viele Luftangriffe fliegen wie die USA, waren gleichwohl für 49 Prozent der Opfer verantwortlich.

Hier kommt die Bundeswehr ins Spiel. Sie beteiligt sich in ihrem Bereich in Nordafghanistan mit zwei deutschen Soldaten an dem Training mit einer kleinen, aber wichtigen Komponente: Sie bildet sogenannte ATACs aus, die «Afghan Tactical Air Coordinators». Das sind vorgeschobene Beobachter am Boden, die den Piloten helfen sollen, Ziele besser zu treffen - und zivile Opfer zu vermeiden. «Sie beobachten zum Beispiel «patterns of life» am Ort, unter anderem, ob da Zivilisten sind, und rechnen möglichst genaue Koordinaten für Luftangriffe aus», sagt der Ausbilder Michael J. Ende Februar beim Gespräch im Bundeswehrcamp in Masar-i-Scharif.

Mehrere Dutzend solcher Boden-Luft-Koordinatoren haben die Deutschen schon trainiert. Wieviele genau, das will der deutsche Trainer nicht sagen. «Der Feind hat mitbekommen, dass sie ziemlich nützlich sind», sagt er. «Wir wollen nicht, dass er weiß, wieviele er noch töten muss, wenn er einen erwischt.»

Möglicherweise bringt die neue Fähigkeit schon etwas. In ihrem Jahresbericht zu den zivilen Opfern merken die Analysten der UN an, dass 2017 die Zahl der Opfer zwar wieder gestiegen sei. Allerdings sei anders als 2016 trotz der rasanten Steigerung der Luftangriffe die Rate der Opfer nicht mehr im gleichen Maß mitgewachsen.

Der Generalinspekteur des US-Verteidigungsministeriums ist trotzdem noch nicht glücklich. In einem Fortschrittsbericht zur Luftwaffe macht er der Mission im Januar die Hölle heiß. Personalmangel, schlecht vorbereitete Trainer, mangelhafte Verschränkung mit anderen Beratungsleistungen der Nato im Land und kein Plan für das gewünschte Endergebnis - Beispiele für die Probleme dieses kriegsgetriebenen Mammutprojekts sind bei Besuchen auf den Luftwaffenstandorten in Kabul und Kandahar überall sichtbar.

Ein Flugarzt der US-Luftwaffe versucht zum Beispiel, Teams aufzubauen, die Verletzte aus Gefechten innerhalb von 60 Minuten in eine Klinik bringen. Vor kurzem hat ein Team mal 90 Minuten geschafft. Hunderte Soldaten sterben jedes Jahr wegen schlechter Versorgung auf dem Transport, sagen Ärzte im größten Militärkrankenhaus des Landes in Kabul. Aber der amerikanische Arzt hat nur vier Ausbilder zur Verfügung und zu wenige Flugzeuge.

Der Logistikausbilder Erik Johnson wiederum versucht, Teams zu trainieren, die «airdrops» machen können - den zielgenauen Abwurf von Versorgungsgütern aus der Luft. Einige seiner Leute können aber nicht lesen, so dass er ihnen jetzt Bilder malt. Letztens hatte er eine Anfrage aus dem entlegenen Norden, wo Sicherheitskräfte um einen Vorrat lebender Ziegen gebeten hatten. Seine Leute fanden das machbar. «Aber was, wenn die Ziegen sich bei der Landung die Beine brechen?», musste Johnson erst fragen.

«Der Krieg ist ein toller Trainer», sagt Chefausbilder Stewart. Es gebe Funktionen, die die Afghanen schon wunderbar beherrschten, wie das Raketenladen. Andere, wie das Fliegen nicht nach Sicht, sondern mit Bordinstrumenten, oder kompliziertere Manöver sind ein Problem. Viel Zeit haben die Piloten nicht, um damit fertigzuwerden.

Herr Nuri zum Beispiel, ein junger Kopilot, der gerade erst das Kopilotsein gelernt hat, soll nun so schnell wie möglich «aircraft commander» werden. Am Vortag hat Herr Nuri im Simulator noch eine Bruchlandung hingelegt; der ganze Bildschirm vor der Cockpit-Attrappe hatte knallrot geblinkt. Nun sitzt er in einer Cessna 208, neben dem Trainer aus den USA, einem Piloten mit Schnurrbart und dem Habitus des Flieger-Asses, der über das Bordkommunikationssystem Bluegrass-Musik laufen lässt, und soll nach Kandahar fliegen.

Es läuft gut. Her Nuri freut sich besonders über den Autopiloten. Aber kurz vor der Landung schlägt der Fluglehrer vor, ein «Touch and Go» zu versuchen - eine kurze Landung und zurück in die Luft aus voller Fahrt. Herr Nuri landet wacklig, rast die Landebahn runter, weiß aber dann offenbar nicht mehr, wieviel Gas er geben muss, um wieder abheben zu können. Im Flugzeug quäken Alarmsignale los. Der Trainer mahnt dringlich und immer lauter «mehr, mehr, mehr!» - in letzter Minute drückt er die Hand seines Schülers auf dem Gashebel nach vorne und übernimmt. Herr Nuri ist blass. «Nächste Woche machen wir mal Nachtflüge», kündigt der Trainer an.