Roderich Kiesewetter

Roderich Kiesewetter

29.06.2017
Roderich Kiesewetter

Politik und Militär: Sieben Aspekte einer wichtigen Partnerschaft

In Deutschland gilt das Primat der Politik gegenüber dem Militär. Dieses wurde aus historischen Erfahrungen geschaffen und ist verfassungsmäßig verankert. Es bedingt wechselseitig hohe Kenntnis der Funktionsweisen beider Systeme und Vertrauen. Das Primat der Politik bedeutet einen funktionalen, keinen qualitativen Vorrang und auch nicht den Vorrang des Zivilen vor dem Militärischen. Hier sind mir sieben Aspekte aus meiner 35-jährigen Erfahrung wichtig:

  1. Das Parlament beschäftigt sich in der Regel im Rahmen militärischer Mandatsdebatten mit Einsatzaspekten der Bundeswehr sowie einmal jährlich mit dem Bericht des Wehrbeauftragten und dadurch auch mit Aspekten der Stimmungslage in den Streitkräften. So finden jährlich bei rund 16 zu mandatierenden Missionen 32 Mandatsdebatten und eine Wehrbeauftragtendebatte statt. Des Weiteren debattiert der Bundestag in rund zwei Haushaltsdebatten jährlich über den Verteidigungshaushalt.

    Nicht einmal allerdings debattiert der Bundestag in einer Wahlperiode über die strategische Ausrichtung Deutschlands, auch nicht über die strategische Ausrichtung der Streitkräfte. Im Gegenteil: Dadurch, dass in der Regel nur Debatten über einzelne Einsätze der Bundeswehr erfolgen ohne deren Einordnung in die strategischen Absichten Deutschlands, wirkt die Bundeswehr in diesen Debatten manchmal eher wie ein Spielball der Politik statt wie das Kronjuwel unserer Sicherheit!


  2. Die Bundeswehr ist glücklicherweise keine parteipolitisch politisierte Armee. Sie möchte leistungsfähig und stolz auf sich sein, aus der gegebenen Ausstattung das Beste machen sowie gesellschaftliche Anerkennung und Vertrauen spüren. Jeder Soldat möchte sein Bestes geben. Dazu haben sich in der Truppe vier Prinzipien bewährt: Das Führen mit Auftrag/die Auftragstaktik, der Staatsbürger in Uniform, die Innere Führung und intensive politische Bildung. Diese vier Prinzipien begleiten einen vorbildlichen Einsatzwillen.

    Der Bundestag lässt sich über gezielte Seminare, Vorträge oder parlamentarische Abende regelmäßig informieren. Ein ermutigendes Zeichen ist seit 2013 der Aufbau einer „Reservistenarbeitsgemeinschaft Bundestag“ für Abgeordnete und Mitarbeiter. Infowehrübungen sind hilfreich und sollten für Abgeordnete sowie politische Entscheidungsträger obligatorisch werden, um besser die Zusammenhänge zu erkennen und ein Gespür für das Militär zu entwickeln.


  3. Zu einem mentalen Bruch zwischen den Streitkräften und der Politik kam es während des Afghanistan-Einsatzes ISAF. Die Soldaten erlebten die kriegsnahe Einsatzrealität, während die damalige militärische Führung den politischen Leitungen suggerierte, die Bundeswehr befinde sich in Afghanistan in einem „friedlichen Wiederaufbau“. Dieses Narrativ verbreitete die deutsche Politik im Rahmen eines nicht effektiv koordinierten Einsatzes unter den Partnern, ungeachtet der zunehmenden Zahl schwer Einsatztraumatisierter und Gefallener. Wäre die Zahl der Betroffenen deutlich geringer gewesen, wenn man sich von Anfang an auf die Kriegsnähe dieses Einsatzes eingelassen und Ausstattung, Bewaffnung sowie Einsatzregeln frühzeitig der ungeliebten Wirklichkeit angepasst hätte?

    Damit kommt es im politisch-militärischen Beziehungsgefüge darauf an, dass das Militär ungefilterten militärischen Ratschlag gibt, um die Politik zu beraten und vice versa die Politik lernend versteht, was ein „militärischer Ratschlag“ ist sowie wie sie ihn bewertet und nutzt. Nichts war gerade in der kritischen ISAF-Phase schlimmer, als dass die militärische Führung bereits die politische Bewertung in den militärischen Ratschlag inkludierte und hierbei das formulierte, was auf Seiten der Politik gern gehört wurde und nicht das, was für das Erreichen der politischen Ziele und die Sicherheit der Soldaten im Einsatz militärisch geboten war. Genau diese Debatte muss in einem fortgesetzten Weißbuchprozess gewagt werden und in einer nationalen Sicherheitsstrategie münden.


  4. Neuere Errungenschaften der Bundeswehr wie die Attraktivitätsoffensive müssen in der Praxis regelmäßig evaluiert werden. Was nützt eine 41-Stundenwoche, wenn es kaum Mittel gibt, Überstunden finanziell auszugleichen und alle Soldaten, auch die raren Führungskräfte, Überstunden in Freizeit abgelten müssen? Hier sind erheblich mehr Gelder bereitzustellen, um Wahlfreiheit zwischen Freizeit und Geld zu ermöglichen, denn im Mittelpunkt steht der Einsatzauftrag, die Einsatzbereitschaft der Soldaten auf unterschiedlichen Ebenen sowie die des Materials und der Waffensysteme. Es ist den Führungskräften nicht zu verdenken, dass sie dort Abstriche machen, wo Vorhaben dem Einsatzauftrag entgegenstehen! Hier fehlt Fingerspitzengefühl für Einsatzfähigkeit und Selbstverständnis der Truppe.


  5. Die Bundeswehr hat ein sensibles Gespür für Gerechtigkeit. Das Maß dafür ist die im Soldatengesetz niedergelegte Pflicht zur Kameradschaft – eine großartige Besonderheit der Streitkräfte, die besondere Wertschätzung und Kenntnis der Politik verdient. Hat die Truppe das Gefühl, dass der unvoreingenommene Umgang mit Verantwortungsträgern in den Streitkräften vor Abschluss disziplinarischer Ermittlungen leidet, ist die ganze Aufmerksamkeit der politischen Führung gefordert. Das bedarf besonderen Fingerspitzengefühls auf politischer wie militärischer Seite. Hinzu kommen hohe Erwartungen der Truppe an die Generalität, die in den vergangenen Jahren öffentlich schweigsam war. Für die Politik ist das gegenwärtige Verhalten sicherlich angenehm: Es gilt wieder eine ausgewogene Balance zu finden zwischen absoluter Loyalität und nicht immer angenehm wirkender Zivilcourage.


  6. Die Bundeswehr sollte sich ihrer eigenen über 60-jährigen stolzen Geschichte bewusster sein und dabei ihre Wurzeln nicht vergessen. Neben der Tradition des 20. Juli 1944 und den Befreiungskriegen sowie Reformen zu Beginn des 19. Jahrhunderts ist eine der Wurzeln auch das Personal und seine Erfahrung. Die Bundeswehr wurde auch von rund 80.000 ehemaligen Wehrmachtsangehörigen und deren Erfahrungen aus dem Ersten und Zweiten Weltkrieg aufgebaut, diese Erfahrungen sind auch in Vorschriften und Ausbildungshilfen eingeflossen. Das wird zurzeit aufgearbeitet. Diese personelle Seite der Bundeswehrgeschichte muss als Quelle zur Fortbildung gelten und sich in die Beziehung von Militär zu Politik einordnen, um auf dieser Grundlage zur hermeneutischen Rezeption historischer Gegebenheiten beizutragen. Zum Beispiel: Mir ist aus den 80er Jahren noch ein wertvolles Heft in Erinnerung, „Kriegsnah Ausbilden“, allerdings mit Einsatzerfahrungen aus dem Zweiten Weltkrieg und dessen Lehren für die Bundeswehr. Heutzutage ist das undenkbar. Eine kategorische Ablehnung dieser Vergangenheit führt jedoch zu einer Verklärung in bestimmten Kreisen und schafft dann den Reiz des Verbotenen.

    Aus der Aufklärung wie auch aus den hitzigen Traditionsdebatten der späten 60er und frühen 70er Jahre haben wir gelernt, dass offensive Auseinandersetzung die bessere Vergangenheitsbewältigung ist und nicht das hermetische Ausschließen. Rechtsradikalen Traditionalisten in den Streitkräften und der Reserve begegnen wir mit radikaler Aufklärung, kritisch-distanzierender und einordnender Pädagogik und auch klarer Bestrafung. Unabhängig davon gilt es, rein soldatische Leistungen in unterschiedlichen Systemen als Teil der Funktionsweise militärischer Systeme kritisch einzuordnen, aber grundsätzlich anzuerkennen, denn sie bieten historisches Anschauungsmaterial und die Einordnung militärischer Leistungen in einen politisch-gesellschaftlichen Gesamtkontext. Gleiches gilt für die kaum Erwähnung findende Sozialisierung einiger Tausend ehemaliger NVA-Angehöriger in der Bundeswehr, auch da liegt in den Streitkräften und der Reserve ein schwieriges Feld brach, das mir aus dem „Aufbau Ost“ nur zu gewärtig ist.


  7. Wie weiter? Alles in allem hilft eine gewisse Gelassenheit: Die Streitkräfte sind loyal, verlässlich und leidensfähig. Missverständnisse liegen in der Natur der völlig unterschiedlichen Erlebnis- und Erfahrungswelten von Politik und Militär. Es bedarf einer verbesserten Wertschätzung und Fehlerkultur auf beiden Seiten sowie des ausgeprägten Willens zur Verständigung auf Augenhöhe. In der Bundeswehr darf es auf den zahlreichen Zwischenebenen keine „Lehmschicht“ mehr geben, sondern es gilt, im Rahmen helfender Dienstaufsicht und konstruktiver Führungsberatung Freiräume und Gestaltungsspielräume wiederherzustellen, die die oben genannten vier grundlegenden Prinzipien der Streitkräfte wieder glaubhaft mit Leben erfüllen.

    Alles in allem sollten wir auf mehr Gelassenheit, Selbstreflexion und Zivilcourage beider Seiten setzen und vom Parlament aus konstruktiv Brücken zur Bundeswehr bauen, sie angemessener ausstatten, über ihre Einbindung in vernetzte Sicherheit debattieren und nicht nur über Auslandseinsätze sowie mithelfen, dass sie in unseren Wahlkreisen in der Gesellschaft fest verankert bleibt. Die enge Partnerschaft zwischen Politik und Militär, sie lebt durch viele Gemeinsamkeiten und ist deshalb gestaltbarer, als es die Entwicklungen der letzten Zeit anmuten lassen. Aufeinander zugehen, sich auf Augenhöhe die Hand reichen, wechselseitige Wertschätzung stärken das Verhältnis von Politik und Militär in unserer offenen Gesellschaft!