Die Eidgenossen bleiben reserviert gegenüber ihren kontinentalen Nachbarn – der Wille zur Eigenständigkeit hat eine lange Tradition. Foto: picture alliance

Die Eidgenossen bleiben reserviert gegenüber ihren kontinentalen Nachbarn – der Wille zur Eigenständigkeit hat eine lange Tradition. Foto: picture alliance

25.04.2019
Gilbert Casasus

Das Rendezvous mit der europäischen Integration verpasst

Für ihre Geheimnisse ist die Schweiz zugleich bekannt und berüchtigt. Nach zähem Ringen musste sie auf Druck ihrer wichtigsten Partner ihr legendäres Bankgeheimnis lüften und sich den internationalen Spielregeln beugen. Was in der Schweiz als politische Niederlage empfunden wurde, soll sich nicht wiederholen. Erneut als Verliererin ein europäisches Schlachtfeld zu verlassen, darf in den Schweizer Augen nicht passieren. In der Schweiz hat der Bürger aufgrund der fast heiliggesprochenen direkten Demokratie bei der Europapolitik das letzte Wort. Jede fremde Einmischung wird per se als Souveränitätsverletzung verurteilt, sodass die europapolitische Zukunft des Landes – seit der am 6.  Dezember 1992 per Referendum besiegelten Ablehnung ihres Beitritts in den Europäischen Währungsraum (EWR) – als eine innenpolitische Angelegenheit betrachtet wird.

Schweizerische Europapolitik ist schweizerische Innenpolitik – so mindestens die Meinung der großen Mehrheit der Bürger und auch der Politiker, die je nach politischer Couleur die Beziehungen zur EU zu ihren Gunsten instrumentalisieren. Sich als schweizerischer Proeuropäer zu profilieren, gilt inzwischen als verdächtig. Selbst die EU-freundlichen Sozialdemokraten halten sich zunehmend bedeckt und fürchten deswegen, als „EU-Gesandte“ vom Wähler abgestraft zu werden. Der antieuropäische Diskurs hat seit einem Vierteljahrhundert Hochkonjunktur, sodass ein Beitritt der Schweiz in die Europäische Union vor 2040 unwahrscheinlich ist.

Zusammen mit Dänemark und Norwegen gehört die Schweiz zu den Vorläufern des nun weitverbreiteten Euroskeptizismus. Als wohlhabende Staaten beziehungsweise als potentielle Geldgeberländer fällt ihnen ein Solidaritätsbeitrag zugunsten der wirtschaftlich schwächeren Partner schwer. Darüber hinaus lehnen viele Eidgenossen eine Ausdehnung des in der Schweiz selbst praktizierten und von den reichen Kantonen in Frage gestellten Finanzausgleichs ab, umso mehr, als vor allem gut betuchte Personen vom schweizerischen Steuersystem profitieren, welches gewissen europäischen Verteilungsmechanismen widersprechen dürfte.

Die Schweiz will eigenständig bleiben. Davon überzeugt, es alleine zu schaffen und jedem anderen Paroli zu bieten, fühlt sie sich in ihrem alpenländischen Rückzugsgebiet am wohlsten. Dies geht auch auf die schweizerische Militärstrategie während des Zweiten Weltkriegs zurück, als auf Befehl des trotz seiner Mussolini-freundlichen Sympathien heute noch hochgelobten Generals Henri Guisan die schweizerischen Soldaten beordert wurden, ihr Land aus den in den Bergen unterirdisch versteckten Bunkern gegen den deutschen Aggressor zu verteidigen. Bekannt unter dem französischen Begriff des „réduit“, was so viel wie ein Rückzugsort bedeutet, hat die sogenannte „Réduit-Mentalität“ die Nachkriegszeit überlebt. In der Annahme, der Feind befinde sich weiterhin in Europa und darunter in Deutschland, blicken zahlreiche antieuropäische Schweizerinnen und Schweizer stolz auf diese Vergangenheit zurück. Trotz gegenteiliger historischer und wissenschaftlicher Beweise macht sich damit eine ideologisch geprägte Rhetorik breit, die in der heutigen schweizerischen Gesellschaft noch viele Spuren hinterlassen hat.

Die Schweiz tut sich mit dem Thema Europa bewusst schwer. Sie hat einige Rendezvous mit der europäischen Integrationsgeschichte absichtlich verpasst und sich dafür entschieden, einen anderen Weg zu gehen. Deshalb nahm sie Großbritannien oft als Beispiel und wandte sich an London, um ihre Interessen zu vertreten. Hinter verschlossener Tür begrüßten sogar einige ihrer Politiker den Brexit und hofften, damit für die Zukunft der Eidgenossenschaft Kapital zu schlagen. Nun müssen sie aber einsehen, dass die EU der britischen Regierung kaum Zugeständnisse machen wird. Gleiches gilt auch für die Schweiz, die nun von Brüssel unter Druck gesetzt wird, ein sog. „Rahmenabkommen“ zu unterzeichnen, welches noch lange nicht unter Dach und Fach ist.

Prof. Dr. Gilbert Casasus lehrt am Fachbereich Europastudien der schweizerischen Universität Freiburg.

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