Roderich Kiesewetter vor dem Außenministerium der Ukraine in Kiew, wo er mit Rostyslav Ogryzko, dem Leiter des 1. Territorialen Departements, verabredet war. Auf dem Rückweg traf Kiesewetter auf der Straße zufällig den ehemaligen Botschafter der Ukraine in Deutschland, Andrij Melnyk. Foto: Privat

21.11.2022
Von Frank Schauka

300 Milliarden Euro – das ist der Gesamtbedarf der Bundeswehr

Oberst a.D. Roderich Kiesewetter, von 2011 bis 2016 Präsident des Reservistenverbandes, gilt als einer der kenntnisreichsten sicherheitspolitischen Analytiker des Deutschen Bundestages. Mit dem Träger des General-Heusinger-Preises 1997, der höchsten Auszeichnung der Offiziersausbildung, haben wir über die Truppe und die geostrategische Lage gesprochen.

Wie sieht nach Ihrer Einschätzung die strategische sicherheits- und verteidigungspolitische Landkarte aus, auf der sich die Bundeswehr im Jahr 2030 wird orientieren müssen?

Roderich Kiesewetter: Die Bundeswehr wird sich in eine Landkarte einfinden müssen, die einerseits durch den systemischen Konflikt der regelbasierten Staaten mit China und weiteren Staaten dieses autoritären Blocks geprägt sein wird. Das bedeutet weiterhin eine Zunahme an hybrider Kriegsführung und hybrider Beeinflussung durch China in demokratischen Staaten und damit neue, breitere Herausforderungen auch für die Bundeswehr in diesem Bereich. Andererseits wird sich die künftige europäische Sicherheitsordnung an neuen Machtverhältnissen in Europa ausrichten. Die Rolle der mittel-, ost- und nordeuropäischen Staaten wird hier deutlich wachsen, auch angesichts des Ausfalls des Dreiecks Berlin-Paris-Rom.

Die Bundeswehr wird deshalb ihre Rolle als stabiler Eckpfeiler der Landes- und Bündnisverteidigung in Europa ausfüllen müssen und hier vermutlich vorrangig mit der Logistik europäischer Verteidigung betraut sein. Die mittel-, ost- und nordeuropäischen Staaten werden deutlich strategischer und kinetischer ihre Sicherheitspolitik miteinander vernetzen und sich wegen des erheblichen Vertrauensverlusts gegenüber Deutschland weiterhin in Richtung USA orientieren. Es kommt deshalb darauf an, der Bundeswehr alle Möglichkeiten einzuräumen, auf Augenhöhe mit unseren dann zum Teil deutlich moderneren Partnern interagieren zu können.

Was bedeutet das von Ihnen skizzierte Szenario für die Bundeswehr? Wie wird die Truppe materiell und personell aufgestellt sein müssen, um in dieser Lage zu bestehen?

Es kommt jetzt darauf an, die Zeitenwende auch praktisch umzusetzen. Hierbei geht es zum einen um Haltung und das Mindset. Es muss klar sein, dass wir eine strategische Kultur in Deutschland brauchen, die bislang nicht existiert, eine strategische Kultur, die deutlich bedrohungsorientierter und geostrategischer aufgebaut ist. Zum anderen geht es um die materielle Umsetzung, indem die Streitkräfte in den nächsten Jahren das bekommen, was sie benötigen. Damit zunächst all das funktioniert, was bislang vor allem auf dem Papier steht, Stichwort: Munitionsbestände auffüllen. Das 100-Milliarden-Sondervermögen, das durch die Inflation bereits um zehn Prozent geschrumpft ist, kann hierbei nur ein Anfang sein. Der Gesamtbedarf der Streitkräfte zur Modernisierung, Neuausrichtung und zur vollständigen Einsatzbereitschaft beträgt meines Erachtens eher 300 Milliarden Euro. Die 100 Milliarden sind ein guter Anfang, aber dazu muss die Bundeswehr entsprechend umgebaut werden. Das heißt konkret, auch die Teilstreitkräfte wie den Bereich CIR und in den Dimensionen Land, Luft, See und Cyberraum auf die Augenhöhe der technischen Innovation zu bringen, dazu gehört zum Beispiel auch Seabed Warfare und Cyberabschreckung. Hier muss zum Beispiel unsere Marine angesichts der Bedrohung der KRITIS insbesondere im Seebereich deutlich mehr Fähigkeiten entwickeln. Dazu gehört die Vernetzung, Digitalisierung und Interoperabilität der Teilstreitkräfte.

Das bedarf des politischen Willens, dauerhaft mindestens zwei Prozent in Landes- und Bündnisverteidigung und die Einsatzfähigkeit der Bundeswehr zu investieren. Diesen Willen sehe ich noch nicht. Er ist aber Grundvoraussetzung dafür, die Streitkräfte für die Herausforderung bis zur Jahrhundertmitte vorzubereiten und damit ein wertvolles sinnvolles und bündnisfähiges Instrument unserer Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik aufzustellen. Da sind nun mal im Wesentlichen die Streitkräfte das Instrument. Hierzu bedarf es auch einer entsprechenden, in regelmäßigen Abständen zu evaluierenden Sicherheitsstrategie und einer Begleitorganisation wie zum Beispiel eines Beirates zur Fortentwicklung im Parlament und eines aufgewerteten Bundessicherheitsrats oder Nationalen Sicherheitsrats, der als Entscheidungsvorbereitungs- und Koordinierungsgremium Arbeitsmuskel der strategischen Weiterentwicklung der Bundeswehr sein könnte. Diese Weiterentwicklung der Bundeswehr muss sich aus der Interessenfestlegung und den erforderlichen Prioritäten für Fähigkeiten aus der Nationalen Sicherheitsstrategie ergeben in Absprache mit GASP/GSVP und Strategischem Kompass der EU und der NATO.

Wie kann es gelingen, dass die Bundeswehr, die momentan mehr oder weniger blank dasteht, in wenigen Jahren diesen guten Zustand erreicht haben wird? Und: Bis wann spätestens müssen die Material- und Personalprobleme gelöst sein?

Die Personal- und Materialprobleme stellen sich aktuell ja jedes Jahr neu. Es geht also hier auch um Fragen des Budgetrechtes und der Beschaffungsprozesse, die geändert werden sollten, aus den 25-Millionen-Euro-Vorlagen könnten zum Beispiel 200-Millionen-Vorlagen werden, Ausschreibungsprozesse müssen überdacht werden, die europäische Arbeitszeitrichtlinie muss auf den Prüfstand. Überstunden sollten nach Wunsch der Soldaten mit Geld und/oder Freizeit ausgeglichen werden. Die Trennung zwischen Führungs- und Materialverantwortung muss dringend aufgehoben werden und wir brauchen weniger zwischengeschaltete Schnittstellen, also weniger politische Entscheidungen, mehr Fachkompetenz-Entscheidung im Bereich der Beschaffung und Ausrüstung.

Stattdessen ist eine Beschaffungsstrategie erforderlich, die nicht in jährlichen Bundeshaushalten denkt, sondern langfristige Planbarkeit schafft. Dazu kommen die Auflösung der Fragmentierung der Zuständigkeiten und die Aufnahme industriepolitischer Aspekte in Beschaffungsentscheidungen. Der Rüstungsexport muss interessenorientierter sein, „German free“ verhindert werden und vor allem muss die Genehmigungspraxis schneller und vereinfacht werden.

Mit solchen Schritten ließe sich viel verbessern und erreichen. Denn wir haben hochmotivierte Soldatinnen und Soldaten, die aber bessere effektivere und flexiblere Strukturen verdienen. Dies alles braucht Zeit. Wenn es bis 2030 erreicht werden soll, muss es in der zweiten Hälfte dieses Jahrzehnts umgesetzt sein. Es ist wichtig, dass die aktuelle Bundesregierung und der aktuelle Bundestag diese Verantwortung begreifen und diese nicht auf künftige Regierungen und Parlamente vertagen. Denn das wäre sonst zu spät. Dieses Rezept der Vergangenheit, Verantwortung auf nachfolgende Perioden zu schieben, funktioniert nicht mehr. Es hat noch nie funktioniert.

Ist das mit dem Sondervermögen zu schaffen – eingedenk der Tatsache, dass von den 100 Milliarden Euro bislang nichts in der Truppe angekommen ist und die momentan hohe Inflationsrate bedeutet, dass die 100 Milliarden Euro in fünf Jahren nur noch etwa die Hälfte wert sind?

Die 100 Milliarden Sonderschulden sind nur ein Anfang. Der Bedarf liegt eher bei 300 Milliarden. Es ist aber noch keinerlei Umsetzung erfolgt, Ausschreibungen sind zu tätigen, die Industrie muss Produktionsketten vorbereiten, das braucht sicher Zeit und Abstimmung. Deshalb wäre es auch klug, wenn die Verteidigungsministerin einen speziell dafür ausgerichteten Gipfel mit der Rüstungsindustrie durchführen würde. Es bedarf eines politischen Willens, eine echte Wende umzusetzen. Genehmigungs- und Beschaffungsstrukturen müssen modernisiert werden. Das Ziel sollte aber nicht sein, möglichst schnell fertige Systeme zu bestellen, sondern strategisch sinnvoll – eingerahmt in Technologieentwicklung und angepasst an Bedarfe. Deshalb müssen Großprojekte, Waffensysteme und weitere Beschaffungen erst auf Grundlage der Nationalen Sicherheitsstrategie angepackt werden, um Fehlsteuerungen und Verschwendung zu verhindern. Neben der Mittelverwendung muss auch die Bundeswehr in ihrer verschachtelten hauptquartier- und ämterlastigen Struktur aufgebrochen und breit modernisiert wie schlagkräftiger werden.

Zum Personalproblem: Mit welchen Maßnahmen soll die Bundeswehr dieses lösen?

Die Bundeswehr sollte insbesondere für deutsche Staatsbürgerinnen und Staatsbürger attraktiv sein. Es wäre aber schon zu überlegen, inwieweit EU-Bürger durch einen Dienst in den Streitkräften mit Diensteintritt die deutsche Staatsbürgerschaft erwerben können und in welcher Weise sich deutsche Streitkräfte an europäischen Fähigkeiten beteiligen können, wo neugeschaffene europäische Fähigkeiten etwa im Cyber- und Drohnenkampf und im Schutz verteidigungskritischer Infrastrukturen auf europäischer Ebene entstehen können. Wichtig ist mir, dass die Bundeswehr weiter auf Qualität setzt – hier ist sie natürlich in einem zunehmenden Wettbewerb um die besten Köpfe und Fachkräfte, der angesichts des demographischen Wandels zunehmen wird.

Im Rahmen einer Aufgabenkritik muss auch geprüft werden, ob Personalziele von 203 000 hochqualifizierten Soldaten realistisch sind und inwieweit durch Digitalisierung, Standardisierung und Modernisierung der Strukturen vielleicht auch Personal effizienter eingesetzt und damit insgesamt eingespart werden kann. All dies bedarf breiter Reformbereitschaft und intensiver strategischer Überlegungen infolge der Nationalen Sicherheitsstrategie und daraus abgeleiteten Unterstrategien, die entsprechend angepasst werden müssen.

Zu Russlands Ukrainekrieg: Welche Bedrohungsszenarien – für die Ukraine, für den gesamten Westen – erkennen Sie?

Russland greift vorrangig zivile Ziele an, militärische zu zivilen Zielen im Verhältnis 1 zu 100. Russland geht es nicht um einen militärischen Sieg, sondern um die Vernichtung der ukrainischen staatlichen Existenz und der Bevölkerung. Deshalb wird gezielt kritische Infrastruktur wie Strom, Wasser, Gas zerstört, um Migration in Europa auszulösen.

Russland kann militärisch nicht mehr gewinnen. Deshalb müssen wir alles tun, dass die Ukraine so schnell wie möglich ihr gesamtes Staatsgebiet befreit. Hier müssen wir Klartext sprechen, alles andere, ein Diktatfrieden oder „Minsk 3“, wäre strategisch absolut schädlich für Europa, da Russland animiert würde, weiterzumachen. Wenn die Ukraine gewinnt, werden Millionen Bürger eine Zukunft in ihrer Heimat suchen und das Land wiederaufbauen. Wenn die Ukraine zum Diktatfrieden oder „Minsk 3“ gezwungen wird, werden Millionen keine Zukunft mehr sehen und die Ukraine verlassen. Putins Narrativ würde aufgehen und sein langfristiger Plan der Destabilisierung Europas durch Millionen Geflüchtete aufgehen. Zudem würde ein dauerhaftes Bedrohungsszenario mit Russland entstehen. Wir müssen deshalb mit aller Kraft allen Szenarien und politischen Überlegungen entgegenwirken, die die Ukraine in einen Scheinfrieden oder Diktatfrieden zwingen wollen. Dies würde ausschließlich Putin nützen. Nur eine Niederlage Russlands wird der Ukraine Zukunft geben. Ein Waffenstillstand zum jetzigen Zeitpunkt schenkt Russland Zeit, um, wie bereits im Februar 2022 angekündigt, seine Ziele Einverleibung Ukraine, Moldau, Baltikum und Weitere anzugehen.

Von den regelbasierten Staaten sollte das Signal kommen, dass wir alles tun werden, der Ukraine ihre Wiederherstellung ihrer vollständigen Souveränität und territorialen Integrität in den Grenzen von 2014 zu gewährleisten.

Welches Szenario wäre das fatalste? Und ist das positivste für den Westen zugleich das positivste für die Ukraine?

Das fatalste wäre der Zerfall der Ukraine, Millionen geflüchteter Menschen ohne Hoffnung auf eine souveräne, freiheitliche Ukraine. Dieses Szenario kann durch Zerstörung der KRITIS entstehen (vom 10. bis 19. Oktober wurden über 30 Prozent der Kraftwerke zerstört). So ein Fluchtszenario ließe sich auch durch den Einsatz taktischer Nuklearwaffen oder nuklearer Erpressung erreichen. Dem gilt es vorzubeugen mit Stärke und Abschreckung. Russland muss erkennen, dass es den Krieg nicht gewinnen kann und besser an den Verhandlungstisch zurückkehren und aus der Ukraine abziehen sollte. Das positivste Szenario ist, dass die Ukraine rasch in eine Verhandlungsposition gebracht, Kriegsverbrechen gesühnt, Reparationen gezahlt, Sicherheitsgarantien gegeben, durch eine internationale Schutztruppe die Grenzen für die Ukraine gesichert werden, bis hin zu garantierten glaubwürdigen Beistandsverpflichtungen aus EU wie NATO-Mitgliedschaft.

Das ist identisch mit dem Ziel des Westens. Die Ukraine will Teil der regelbasierten Ordnung sein. Reformen sind weiter nötig, aber die Ukraine verteidigt gerade diese regelbasierte Ordnung und zahlt einen hohen Preis. Im positivsten Fall wäre dies nächstes Jahr zu erreichen. Russlands politisches System würde hoffentlich neu aufgebaut werden und Putin durch die russische Bevölkerung abgesetzt. Das wäre das positivste Szenario, es ist aber nicht zwingend das realistischste.

Was können und sollten wir jetzt unternehmen, damit nicht das für den Westen schrecklichste Szenario Realität wird? Was bedeutet dies für die Ukraine? Und wie sieht die Welt dann aus?

Es stellt sich hier die Frage, ob der proklamierte deutsche Anspruch, Führungsnation zu sein, umgesetzt wird. Hierzu müssen wir erfolgreich die Federführung bei der Unterstützung der Ukraine übernehmen und die notwendige Zahl an Kampfpanzern, Schützenpanzern und weitreichenden Waffensystemen liefern, um die sehr begrenzten und nicht mehr funktionierenden sowjetischen Systeme zu ersetzen, damit die Ukraine in die Lage kommt, befreite Gebiete zu halten und besetzte Gebiete zu gewinnen. Es geht um die Befreiung von Territorium und das Halten von Raum. Dazu gehört das Gefecht der verbundenen Waffen. Das geht nur mit Schützen- und Kampfpanzern, begleitet von Artillerie und vernünftiger Luftverteidigung.

Parallel muss der politische Prozess geleitet werden, der die neue europäische Sicherheitsordnung bestimmt. Wichtigster Teil davon muss eine freie, souveräne und unabhängige Ukraine in einem selbstbewussten Europa sein, das glaubwürdig transatlantische Lastenteilung übernimmt. Eine langfristige Wiedereingliederung Russlands ist nur möglich, wenn das Regime abgelöst und Russlands System demokratisiert wird (das geht nur durch die russische Bevölkerung selbst) und wenn die genannten Bedingungen im Sinne der Ukraine erfüllt sind.

Mit Rat und Hilfe stets an Ihrer Seite!

Nehmen Sie Kontakt zu uns auf.

Alle Ansprechpartner im Überblick