Dieses Foto zeigt Abtransport von sechs Raketen mit einem sowjetischen Handelsschiff am 6. November 1962. Foto: US Air Force/Wikipedia

18.04.2022
Philipp Kohlhöfer

Damals war es wirklich knapp

In der Kuba-Krise blickte die Welt in den atomaren Abgrund. Und es scheint so, als wiederhole sich die Geschichte. Aber stimmt das wirklich, fragt sich unser Autor Philipp Kohlhöfer.

Letztlich war es Batman, der mir half. Er hatte mit mir geredet in einem Monolog am Anfang des Films. Es regnete und war dreckig und voller Gewalt. Gotham war noch mehr Moloch als sonst und die Stimmung so deprimierend und im Keller, wie sie tiefer nicht sinken kann. Alles passte, denn ein paar Tage zuvor hatte ich im Zug gesessen, von Linz kommend. Ein Freund hatte seinen Geburtstag gefeiert, ich war mir nicht sicher, ob ich hinfahren sollte, weil sich Feiern nicht gut anfühlt, während der größte Landkrieg in Europa seit achtzig Jahren beginnt. Ich tat es dennoch, mehr deprimiert als in Feierlaune, und es war kurz vor Göttingen, als die Nachricht auf meinem Handy aufpoppte.

Russland versetzt seine Nuklearstreitkräfte in einen Zustand der Readiness, stand da. Die Nachricht fühlte sich an wie eine Ewigkeit, in der man einen Leberhaken nach dem anderen kassiert.

Ich fuhr betäubt nach Hamburg zurück und der Zustand änderte sich tagelang nicht. Ich war nicht in der Lage, mich zu konzentrieren, mir war ständig übel und ich war fahrig. Mit ziemlicher Sicherheit werde ich den Moment im Zug nicht vergessen. Es ist mein „Kuba-Krise“-Moment. Zwar gibt es ein paar Termine in der Geschichte, an denen man genau weiß, was man getan hat, 9/11, die Morde an Kennedy und Martin Luther King, meine Oma wusste, was sie am 1. September 1939 getan hatte, aber erst zwei Mal kommt das Erinnern mit einer ganz konkreten nuklearen Bedrohung einher (ja, 2014, bei der Annexion der Krim, war das bereits der Fall, in seiner Tonlage und im Ausdruck aber doch anders).

Ich habe mich in den Tagen nach der Drohung mit meinem Vater darüber unterhalten, sozusagen von Zeitzeuge zu Zeitzeuge. Am Mittwoch, den 24. Oktober 1962, ist er mit einem älteren Kollegen auf dem Weg zur Abendschule, sie ist Teil seiner Ausbildung damals, er ist Teenager, und als die amerikanische Blockade Kubas in Kraft tritt, fahren sie rechts ran, um die Nachrichten zu hören, nassgeschwitzt, supernervös. Es passiert nichts, die Schiffe der Sowjets drehen um, die beiden gehen nicht mehr in die Schule, sondern Bier trinken. Anstoßen auf einen Tag ohne Atomkrieg. Er sagt, das sei geblieben, von Tag zu Tag leben, zwei Wochen im Schockzustand, in denen er funktionierte, nicht agierte, in einem Nebel lebte. Er weiß, wo er stand mit dem Auto damals, und wenn ich meine Eltern heute besuche und wir an der Stelle vorbeikommen, wo er damals parkte, erzählt er mir die Geschichte jedes Mal. Und damals war es wirklich knapp.

Bisher ist die Situation heute mit der damals nicht zu vergleichen. Wir stehen nicht an dem Punkt, wo die Gefahr bestünde, dass hunderte von Nuklearraketen abgefeuert würden. Bisher hat sich, wie es scheint, die Operationsbereitschaft der russischen Atomstreitkräfte glücklicherweise nicht geändert. Zwar ruft damals auch Chruschtschow im Laufe der Krise seine Atomstreitkräfte zu „erhöhter Gefechtsbereitschaft“ auf, der dann aber damals auch Taten folgen. Die Raketen werden betankt und stehen abschussbereit auf ihren Startrampen. Andererseits kann das dieses Mal ja noch kommen, und ausprobieren will man es nicht. Zumal eine Readiness ohnehin ständig besteht – auch wenn man nicht darüber redet.

Gefährlicher, weil weniger berechenbar

Und das ist denn auch der vermutlich größte Unterschied : Im Moment ist es viel weniger berechenbar. Und das ist gefährlicher. Im Frühsommer 1962 war es das klare Ziel Moskaus, dass Kuba vor einer US-Invasion geschützt wird. In Anbetracht der strategischen Nähe zum amerikanischen Festland und der dadurch bedingten eigenen konventionellen Unterlegenheit gingen die Sowjets davon aus, dass die Verwandlung Kubas in eine atomare Festung die einzige Möglichkeit ist, „die kubanische Revolution zu beschützen“, wie Chruschtschow sagte. Gibt es heute ein Ziel ? Man weiß es nicht wirklich.

Die Machtstrukturen im Kreml waren damals schon schwer lesbar, die Kremlologie entstand, in der es darum ging, völlig undurchsichtige Vorgänge zu interpretieren, aber eine Figur, die so diktatorisch herrschte wie heute, gab es nicht. Ich beginne meine Tage mittlerweile mit dem Lesen diverser Militärblogs, verfolge alle möglichen geostrategischen Podcasts und lese die „New York Times“ und den „Atlantic“ und es scheint mir wie eine Reise in die Vergangenheit zu sein : Die Kremlologie ist zurück.

Alles scheint möglich zu sein

1962 wurden die auf Kuba stationierten SS-4-Mittelstreckenraketen abgezogen. Die USA versicherten, dass sie die Karibikinsel nicht stürmen. Wenig später zogen sie die stationierten PGM-19 Jupiter, ebenfalls eine Mittelstreckenrakete, aus der Türkei ab. Bei aller Dramatik : Die Problemstellung war übersichtlich. Das Problem war nach ein paar Tagen gelöst. Das ist heute nicht der Fall, das Problem ist nicht mal wirklich bekannt. Damals will Chruschtschow keinen Krieg und obwohl Kennedy bereits von einem Luftangriff als bester Option überzeugt ist, wird ihm dieser von Verteidigungsminister Robert McNamara wieder ausgeredet. „Ich glaube nicht“, sagt der, „dass wir die Konsequenzen unserer Aktionen ausreichend durchdacht haben.“ Vergleichbar mit der heutigen Situation ist auch das nicht, ein Krieg findet bereits statt, und ein Ende ist nicht abzusehen. Alles scheint möglich zu sein, inklusive des Worst Case. Und ich habe ein paar Tage benötigt, um mich damit abzufinden. Bis zu Bruce Wayne. Bis zu Batman.

„Fear is a tool“, sagt der ziemlich am Anfang des neuen Films. „When that light hits the sky, it’s not just a call.“ Er redete über das Batman-Zeichen am Himmel. „It’s a warning.“ Ich saß im Kino, hörte zu und bezog den Satz sofort auf den Zustand der Welt im Großen und den meiner Psyche im Kleinen. Und das ist genau der Punkt : Ja, die Wahrscheinlichkeit eines Atomkriegs scheint so hoch wie seit der Kuba-Krise nicht mehr. Allein dass wir darüber reden, dass es passieren könnte, fühlt sich extrem schlecht an. Fast täglich wird gedroht, die Sprache ist völlig enthemmt. Und dass im russischen Fernsehen zur Hauptsendezeit über die Möglichkeit eines atomaren Schlages gegen Mitteleuropa debattiert wird, über Massenmord, wie am 22. März, ist so gruselig, dass man es nicht fassen kann.

Aber solange es laut ist, ist das so verkehrt nicht. Als die Amerikaner die SS-4-Raketen am 15. Oktober 1962 auf Kuba entdecken, hat sie zuvor eben niemand gewarnt. Die Aktion läuft so sehr im Verborgenen, dass sich später herausstellen wird, dass einige der Raketen schon einsatzbereit sind, als die Amerikaner ernsthaft ein militärisches Eingreifen auf Kuba in Erwägung ziehen.

Geschichte wiederholt sich nicht, zumindest nicht eins zu eins, aber aus der Geschichte erklärt sich die Gegenwart, das ist immer so. Und damals wie heute waren völlig falsche Grundannahmen die Auslöser. 1961 hatte die CIA einen Invasionsversuch von Exilkubanern in der Schweinebucht unterstützt. Das Ziel war der Sturz Castros. Gerade weil der Umsturzversuch scheiterte, gingen die Sowjets davon aus, dass als Nächstes ein regulärer Angriff erfolgen würde. In Washington allerdings schlussfolgerte Kennedy völlig anders: Er lehnte eben aufgrund des Desasters jeden neuen Versuch einer Invasion ab, weil er befürchtete, dass der eingefrorene Konflikt um Westberlin eskalieren könnte.

Heute gilt : Wer in Syrien rote Linien zieht und dann daraus bei Überschreitung nichts folgt, erhöht nicht unbedingt die Glaubwürdigkeit. Staatliche Auftragsmorde schulterzuckend hinzunehmen und die Annexion der Krim halbgar zu verurteilen, bevor man zur Tagesordnung übergeht, treibt die Kosten-Nutzen-Rechnung für eine Invasion eben nicht in die Höhe.

Aber es sind nicht mal die Fakten, die sich so extrem schlecht anfühlen, zumindest für mich nicht. Die sind schlimm genug. Ich habe mehrmals vom Atomkrieg geträumt und der Traum sah aus, wie eine Mischung aus „The Day After“ und „Wenn der Wind weht“, unterlegt mit Musik von David Bowie. Weil nicht nur ein neuer Gedanke dazukommt, den ich mir schon abgewöhnt hatte, nämlich den der atomaren Bedrohung wie in den 1980ern. Sondern weil ein anderer verschwindet : Wir können jetzt nicht mehr davon ausgehen, dass es immer besser wird. Die Entwicklung der Menschheit, das war die Idee, mit der ich aufwuchs, wird uns automatisch in eine friedlichere und bessere Welt führen, in der die Vernunft die internationalen Beziehungen bestimmt. Natürlich, die Idee des ewigen Fortschritts ist schon jahrelang mindestens angestaubt und das viel zitierte „Ende der Geschichte“, das der amerikanische Politologe Francis Fukuyama im Sommer 1989 ausrief – der Kapitalismus habe so allumfassend gewonnen, dass das von ihm mitgelieferte Gesellschaftsmodell keine Antithese mehr benötige –, ist dann doch nicht gekommen. Dennoch : Machtpolitik mit jeweiligen Einflusssphären, das war etwas aus dem 19. und 20. Jahrhundert.

Pax Americana
 
Weswegen der 24. Februar 2022 tatsächlich die „Zeitenwende“ ist, von der Olaf Scholz ein paar Tage später im Bundestag spricht – weil der Tag sichtbar macht, was wir eigentlich schon wissen, aber jetzt nicht mehr leugnen können. Scholz spricht davon, dass man nicht zulassen darf, dass Macht Recht brechen darf, und natürlich stimmt das. Allerdings ist es nicht so, dass Teile der Weltgemeinschaft aus freien Stücken auf das Recht setzen. Und es auch nie getan haben : Nicht das Recht besiegte Nazi-Deutschland und es schützte die Europäer nach dem Zweiten Weltkrieg auch nicht vor der Sowjetunion. Es war die amerikanische Macht, die Westeuropa verteidigte. Sie tut das seither, auch in den Jahrzehnten, die dem Kalten Krieg folgen, weil sie so groß und allumfassend ist (und die Amerikaner das eigene Recht daher auch immer mal wieder dehnen, bis es knarzt), dass es keinen Herausforderer geben kann. Plakativ wird die Zeit Pax Americana genannt, angelehnt an die Pax Romana, als in den ersten beiden Jahrhunderten unserer Zeitrechnung relativer Frieden im Römischen Reich herrschte – relativ deswegen, weil es an den Außengrenzen des Reiches zwar immer wieder zu Kriegen kam, Bürgerkriege und Unruhen aber eben nicht stattfanden, und dieser Umstand den Bürgern des Römischen Reiches Stabilität, Sicherheit und Wohlstand bescherte. Und Letzteres gilt im Wesentlichen auch für die letzten dreißig Jahre, mal mehr und mal weniger global.

Amerikanische Soft Power hat sich über den gesamten Planeten verbreitet, auch in China mag man Marvel-Filme. Was sollte also schon schiefgehen ? Nun : Es hat sich geändert. Wir alle wissen das mittlerweile und müssen uns doch erst daran gewöhnen. Zu Beginn der 1960er was das völlig anders. Die Welt war in Einflusssphären geteilt und das war jedem klar. Dass wir dachten, dass es so nicht mehr kommen kann, ist nichts als eine historische Ausnahme. Nur bin ich in dieser Ausnahme aufgewachsen. Zusammen mit ein paar dutzend Millionen anderen Europäern.

Ein Teil der Bundesregierung gehört dazu. Mitte März spricht Annalena Baerbock denn auch von einer Sehnsucht nach Sicherheit, „die vielleicht meine Generation noch nie so richtig gespürt hat“, und das trifft es genau. Denn während damals völlig klar ist, dass die Welt sich in einem Wettstreit der Systeme befindet, haben wir das in den letzten Jahrzehnten erfolgreich verdrängt. Bis heute.

Batman steht auf dem Dach eines Hochhauses. Es ist noch Baustelle. Neben ihm Catwoman. Sie sehen auf Gotham, sehen, wie die Sonne versinkt und Batman ist unsicher, was als Nächstes zu tun ist. Er will sich nicht weiter engagieren, er glaubt, dass das nichts bringt. Catwoman sieht ihn an.
Sie sagt : „If we don’t stand up, no one will.“


Philipp Kohlhöfer hat Politikwissenschaften und Geschichte studiert und mit einer Arbeit über die „Menschenrechte als Waffe in der Außenpolitik“ das Studium abgeschlossen. Er ist Autor und Kolumnist und arbeitet unter anderem für das Magazin „GEO“ und das Forschungsnetz Zoonotische Infektionskrankheiten, gefördert vom Bundesministerium für Bildung und Forschung. Kohlhöfer wohnt in Hamburg, verfasst Drehbücher und entwirft Kommunikationskonzepte. Für eine Geschichte im Pazifik wurde er beschossen, für eine andere marschierte er tagelang durch den Regenwald. Bei S. Fischer hat er den Sachbuch-Bestseller „Pandemien“ veröffentlicht.

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