Minenjagdboot „Homburg“ mit der Minenjagddrohne „Seefuchs“ während der Nato-Übung „Noble Justification“ 2014 im Mittelmeer . Foto: Nato

26.10.2021
von Flottillenadmiral Christian Bock

Das Ziel muss heißen: Siegen können

Flottillenadmiral Christian Bock, von April 2018 bis September 2021 Kommandeur der Einsatzflottille 1, beschreibt in seinem Resümee zur Zukunftsfähigkeit der Marine das Dilemma eines Apparates, der einerseits auf Friedensdienstbetrieb und Arbeitsschutz ausgerichtet sein muss, andererseits aber fähig sein soll, militärische Risiken einzugehen und zu kämpfen.

Am 23. Juli wurden in Berlin für die Marine Weichen in die Zukunft gestellt. Die 25-Millionen-Euro-Entscheidungen haben weitreichende Auswirkungen auch auf die Fähigkeiten in der Einsatzflottille 1 (EF1): drei neue Flottendienstboote, zwei neue U-Boote, die Modernisierung unserer Minenjagdboote sowie die Beschaffung wichtiger Peripherie für den RBS 15 Mk3, dem Hauptwaffensystem der Korvetten, wurden auf den Weg gebracht.

Als Nutzer kann ich die Argumente für diese Entscheidungen nur unterstreichen: Die Bundeswehr holt lange hinausgezögerte Ersatz- und Ergänzungsbeschaffungen auf Basis des Fähigkeitsprofils der Bundeswehr nach, um laufende Einsätze, einsatzgleiche Verpflichtungen wie die intensive Ausbildung bis hin zum Kampf am scharfen Ende der Landes- und Bündnisverteidigung innerhalb der Nationalen Zielvorgabe nachhaltig erfüllen zu können. Die an Hauptwaffensystemen zahlenmäßig kleinste Flotte „ever“ wird nicht „aufgerüstet“, sondern lediglich bedarfsgerecht ausgerüstet, um kleine Umfänge ergänzt und ansonsten – aus Alt mach Neu – ersetzt. Warum ich als Kommandeur EF1 zumindest ganz aktuell dabei leider nur ein lachendes Auge habe, möchte ich begründen:

Entscheidungen für die Zukunft

Im April 2018 habe ich die vielfältigste Flottille der Marine, wahrscheinlich aber auch das facettenreichste Brigadeäquivalent der Bundeswehr übernommen. Aus der „Planung“ kommend, wusste ich: Um das Fähigkeitsprofil Bundeswehr bis 2031+ zu erfüllen, brauchten alle Systeme meiner Flottille eine Erneuerung oder Ersatz. Zu sichtbar war das Ende der Nutzungsdauer oder die Folgen der „Obsoleszenzenfalle“. Die Liste war lang: neue Minenabwehreinheiten, sonare und weitreichende Unterwasser-Drohnen, Mehrzweck-Tender, Flottendienstboote, Hilfsschiffe wie Schlepper, ergänzende zusätzliche U-Boote und Korvetten. Auf der Liste standen auch RHIBS (Rigid Hulled Inflatable Boats, Festrumpfschlauchboote) und kleine Einsatzboote für Spezialkräfte und das Seebataillon, Ausbildungsanlagen, neue Unterkünfte und Betreuungseinrichtungen, Pieranlagen [Sixth space] … – diese Liste ist nicht erschöpfend. Nun, kurz vor meinem Wechsel, dreieinhalb Jahre und kaum eine Pandemie später, betrachte ich die Liste und muss konstatieren: Zumindest die Planung läuft gut! Es wurden viele wichtige Entscheidungen für die Zukunft meiner Geschwader und Verbände getroffen. Aber: Sie stehen leider erst auf dem Papier oder, wie zusätzliche Korvetten, als Rohbau in der Werft. Die Zahl meiner Hauptwaffensysteme im Betrieb und für den Einsatz hat sich in meiner Kommandeurszeit nicht verändert. Es lassen sich nur ganz wenige Neuerungen „in echt“ anfassen. Das „Bestandspersonal“, die Soldatinnen und Soldaten im Einsatz, diejenigen Multiplikatoren, die im „Heute und Jetzt“ ihren Dienst verrichten, haben davon zuerst einmal [Sixth space] … nichts.

Doch genau dieses Personal trägt die Last der Einsätze, ist heute mehr denn je aufgefordert, „Kämpfen zu können“ zum Maßstab ihres Handelns zu machen, soll teilweise mit „Traditionsschiffen“ von 40/50+ Jahren die Antworten auf die Bedrohungen des heutigen sicherheitspolitischen und technologischen Umfelds bereithalten.

Werkzeugkasten an Fähigkeiten

In meiner aktuellen Rolle spüre ich die Schere zwischen Zukunftsplanung und „Systemen in der Nutzung“ tagtäglich. Die langen planerischen Linien einerseits sind überlebenswichtig für die Auftragserfüllung der Bundeswehr in der Zukunft. Andererseits: Neue Hauptwaffensysteme auf dem Papier können heute nicht kämpfen. Sich auf den Fall „in extremis“ vorzubereiten und zertifizieren zu lassen, um die geforderte „Kaltstartfähigkeit“ zu besitzen, ist die Aufgabe der Besatzungen auf den in Betrieb befindlichen Einheiten, der Truppenverbände an Land, die sich auf ihre jeweiligen Einsatzrollen vorbereiten.

Mein weinendes Auge richtet sich also auf die Lage der Truppe auf Dienstposten, auf deren Tagesdienst, die kontinuierliche Einsatzausbildung auf eingeführtem Gerät und die Möglichkeiten der „Betriebsperipherie“ in Stäben und Ausbildungsinstitutionen, dieser Lage Herr zu werden.

Täglich wollen die Angehörigen meiner Flottille „besser werden“. Wir alle lesen Zeitung, nehmen aus eigener professioneller Perspektive in diversen Medien und Fachpublikationen wahr, wie Partner, aber auch mögliche Gegner ihre Waffensysteme auf neue Technologien ausrichten, wie neue Formen der Bedrohung entstehen und politische Systeme wie selbstverständlich ihr Militär als Mittel der Politik und Interessenvertretung einsetzen – auch in unserem „Home Turf“ in Nordsee und Ostsee. Die Bundeswehr, die Marine und damit die Einsatzflottille 1 hat diesbezüglich einen Auftrag und viele Aufgaben: Wir sollen der Politik und unseren Bündnissen einen militärischen Werkzeugkasten an Fähigkeiten zur Verfügung stellen, um im gesamten politischen Spektrum abgestimmt wirken zu können. Mit unserem Werkzeugkasten soll aber auch etwas ganz Wichtiges verbunden sein: Wir müssen jeden anzunehmenden „Kampf gewinnen können“. Soldaten wollen und sollen besser sein als der Gegner. Ansonsten sind diese Mittel der Politik wirk- und sinnlos.

Weiterentwicklung entlang aktueller Bedrohungen

Mit diesem Gedanken vermisse ich im aktuellen System das institutionalisierte, kontinuierliche und inkrementelle Weiterentwickeln vorhandener Fähigkeiten und Systeme entlang einer ehrlichen und kritischen, stets aktuellen Bedrohungsanalyse. Entwicklungen bleiben niemals stehen, insbesondere nicht in der heutigen Zeit. Es hilft nicht, zum Zeitpunkt des Vertragsabschlusses eines neuen Waffensystems „State of the Art“ zu sein und dann abzuwarten, wie sich die Technologie an einem vorbeientwickelt, sich Gegner auf einen selbst einstellen. Es würde auch niemand auf die Idee kommen, ein Virusprogramm auf dem Stand von vor zehn Jahren zu lassen.

Wir haben das Dilemma eines Apparates, der einerseits auf Basis rechtlicher Vorgaben auf der Verwaltungsseite zu 100 Prozent auf Friedensdienstbetrieb, Arbeitsschutz und so weiter ausgerichtet sein muss, sich aber auf militärischer Seite darauf ausrichten muss, Risiken einzugehen, zu kämpfen, Dinge im Extremfall kaputtzumachen. Wenn wir unsere eigenen Ziele ernst nehmen, dann muss der verfahrensrechtliche Rahmen im System Bundeswehr, unsere Vorgaben und Verfahren, an das Ziel „Siegen können“ angepasst werden: Wir müssen bei jeder Gelegenheit versuchen „dürfen“, unser Arbeitsgerät, unsere Systeme und Waffensysteme zeitgemäß zu optimieren, nicht eingeführtes Wehrmaterial in der Einsatzumgebung auszuprobieren.

Mit der Wehrtechnischen Dienststelle 71 hat meine Flottille jüngst eine Kooperationsvereinbarung geschlossen. Vom Forschen und Entwickeln, inklusive Einkauf von neuen Technologien und dann Testen und Experimentieren an Bord unter realen Bedingungen, sind wir aber noch weit entfernt. Vor den meisten geistigen Augen flackern nun die Paragrafen auf, welche genau eine solche Vorgehensweise verhindern. Aber erst ein Umfeld, in dem schnell auf neue Bedrohungen, neue Technologien und neue Taktiken reagiert werden kann, macht uns zu einsatzbereiten Streitkräften im „Kaltstart“. Nicht umsonst sind die israelischen Streitkräfte hier ein Vorbild.

Diese Ideen stecken auch in den Vorgaben des Eckpunktepapiers. Mit einem Umsortieren von Verantwortlichkeiten bei Rüstung sowie Betrieb und Nutzung ist es aber nicht getan. Im Betrieb muss systemisch Risikobewusstsein und Innovationsfähigkeit gefördert werden. Einsatzverfahren und das Üben, orientiert an der Situation „in extremis“, sind unser Maßstab. Dieser beißt sich mit 100-prozentigen Friedensdienstvorgaben. Um dieses Dilemma aufzulösen, eignet sich das Führungsprinzip „Einfach mal machen“ nur begrenzt. Viel zu schnell stößt man an die Grenzen der Zuständigkeit anderer und des „Erlaubten“. Es muss politisch und gesellschaftlich gewollt sein und die nationalen Vorgaben müssen es auch zulassen, dass die Bundeswehr jederzeit mit allen zivilen und militärischen Bereichen für alle Aufgaben, für Heimat- und Katastrophenschutz, für internationales Konfliktmanagement aber tatsächlich auch für die Landes- und Bündnisverteidigung, vorbereitet ist. Sie muss duellfähig, zeitgemäß ausgerüstet und manchmal eben auch nur intelligent in Details weiterentwickelt sein, um ein Gefecht auch gewinnen zu können. Unser System muss agiler werden – im Tagesdienstbetrieb, in der täglichen Nutzung, heute im Einsatz. Dieses Ziel zu erreichen, ist zuvorderst eine Entscheidung des Kopfes und des Willens und nicht des Geldes, sprich: Der Mindset muss stimmen – bei uns allen!

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