Großes Interesse: Der Hörsaal des Kaiserin-Friedrich-Hauses an der Berliner Charité war bei der gemeinsamen Afghanistan-Veranstaltung von ZMSBw und Bildungswerk des DBwV gut gefüllt. Foto: DBwV/Yann Bombeke

02.12.2022
Von Yann Bombeke

„Denjenigen zuhören, die den Einsatz erlebt und überlebt haben“

Markus Götz hat seine Erfahrungen als Panzergrenadier im Afghanistan-Einsatz in einem Tagebuch festgehalten. Um diese wertvollen Aufzeichnungen, aber auch um die politische Aufarbeitung des Einsatzes, ging es nun bei einer gemeinsamen Veranstaltung des ZMSBw und des Bildungswerks des DBwV in Berlin.

Lange wurde Geschichte von den Historikern auf der Basis offizieller Quellen geschrieben, was wir in den Schulbüchern zu lesen bekamen, war oft die Sicht der Kaiser und Könige oder der politischen Eliten. Erst relativ spät entdeckte die Geschichtsforschung die Perspektive des „kleinen Mannes“ oder der „kleinen Frau“ für sich – obwohl gerade diese Quellen, wenn sie denn die Zeit überstanden haben, den Alltag in einer bestimmten Epoche beschreiben und nicht selten ein realistischeres Bild zeichnen als die Sicht der Eliten, die nur zu oft schöngefärbt daherkam und -kommt.

Das Glück für die Forschung: Von der jüngeren oder jüngsten Geschichte sind bedeutend mehr solcher Quellen erhalten als aus Epochen, die Jahrhunderte zurückliegen. Ein solches Dokument ist das Afghanistan-Tagebuch des Hauptfeldwebel Götz. „Hier ist Krieg“ lautet der Titel der persönlichen Aufzeichnungen von Markus Götz – er beschreibt seinen Einsatz in Afghanistan im Jahre 2010, das Jahr, in dem das Karfreitagsgefecht und zahllose weitere Angriffe und Gefechte einen besonders hohen Blutzoll von der Bundeswehr forderten.

In Berlin wurde das Tagebuch von Markus Götz, der mittlerweile Stabsfeldwebel ist, jetzt vorgestellt – obwohl es schon vor etwas über einem Jahr veröffentlicht wurde. Doch damals ließ die Corona-Pandemie keine öffentliche Veranstaltung zu. Für das Bildungswerk des Deutschen BundeswehrVerbandes und das Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr (ZMSBw), das das Tagebuch gemeinsam mit dem Autoren für die Publikation wissenschaftlich aufbereitet und veröffentlicht hat, war es klar, dass dieser Termin nachgeholt werden muss.

Zwar blickt jetzt die ganze Welt auf den brutalen Krieg Russlands in die Ukraine, die Zeitenwende stellt alles andere in den Schatten. Doch der Afghanistan-Einsatz der Bundeswehr ist keineswegs vergessen – erst recht nicht für zig Tausende Soldatinnen und Soldaten, die in knapp 20 Jahren ISAF und Resolute Support einen prägenden Teil ihrer Dienstzeit am Hindukusch verbracht haben. Und: Der Afghanistan-Einsatz wird nun – endlich – evaluiert. Der Bundestag hat einen Untersuchungsausschuss und eine Enquetekommission eingesetzt, um den Einsatz grundlegend zu bewerten und daraus die richtigen Schlüsse auch für künftige Missionen zu ziehen.

So bot die gemeinsame Veranstaltung von ZMSBw und Bildungswerk im Hörsaal des Kaiserin-Friedrich-Hauses an der Berliner Charité die Gelegenheit, nicht nur über das Tagebuch zu sprechen, sondern auch über die Enquetekommission, die vor wenigen Wochen ihre Arbeit aufgenommen hat. Der Vorsitzende der Kommission, der Bundestagsabgeordnete Michael Müller (SPD), nahm dafür neben dem Bundesvorsitzenden, Oberst André Wüstner, der als Experte Mitglied der Kommission ist, und Dr. Philipp Münch, Projektbereichsleiter im Forschungsbereich Deutsche Sicherheitspolitik und Bundeswehr am ZMSBw, auf dem Podium Platz.

Doch zunächst ging es um Markus Götz und die Erlebnisse, die er in seinem Tagebuch schildert – es sind Kriegserlebnisse. Nach der Begrüßung der Gäste – der Hörsaal war bis auf den letzten Platz belegt – richtete sich der Kommandeur des ZMSBw, Oberst Dr. Sven Lange, direkt an Götz: „Ihr Buch wird Teil der Deutschen Militärgeschichte.“ Lange weiter: „Die Lehren aus Afghanistan werden wir nur dann ziehen können, wenn wir denen zuhören, die den Einsatz erlebt und überlebt haben.“ Das ZMSBw habe sehr früh angefangen, den Afghanistan-Einsatz zu begleiten und auszuwerten. Vom Einsatz-Tagebuch, das Götz verfasst hatte, zunächst in einem 172 Seiten starken Notizbuch im DIN-A6-Format, dann in Heften und schließlich auf einfachen DIN-A4-Seiten, weil im Außenposten Char Darah die Hefte ausgegangen waren, habe das ZMSBw über Umwege erfahren, so Lange. Dies sei „eine gänzlich andere Herausforderung“ gewesen. Schnell habe man das Potential des Tagesbuchs erkannt und bereits 2014 einen Publikationsvertrag mit Götz geschlossen. „Historische Quellen zum Sprechen zu bringen ist niemals eine einfache Aufgabe“, sagte Lange und verwies auf die redaktionelle Bearbeitung, die Kontextualisierung und Überprüfung der Fakten des Tagebuchs.

Bevor der Autor das Wort hatte, wurde ein Grußwort von Karl-Theodor zu Guttenberg, der von 2009 bis 2011 Verteidigungsminister war, eingespielt. Guttenberg lobte die „wunderbar klare Sprache“ des Zeitzeugenberichts von Götz. Zudem sei es „wissenschaftlich exzellent aufbereitet“.

Der Autor des viel gelobten Werks sprach dann mit dem bekannten Historiker Prof. Dr. Sönke Neitzel und Dr. Christian Hartmann vom ZMSBw, der das Tagebuch für die Veröffentlichung ediert hat. Für ihn waren die Aufzeichnungen von Götz mit der „speziellen Militärsprache und vielen Abkürzungen“ vergleichbar mit einem „ungeschnittenen Film“. Das Tagebuch sei „ein Glücksfall“ für einen Historiker. Die Erinnerung an den Afghanistan-Einsatz und die gesellschaftliche Wertschätzung ist in Hartmanns Augen „viel zu gering“.

Markus Götz kam damals als Panzergrenadier in ein stark von den Seedorfer Fallschirmjägern geprägtes Kontingent. „Es ist eine Verbundenheit entstanden, die heute noch anhält“, sagt Götz. Die Erfahrungen, die der Stabsfeldwebel in zwei Afghanistan-Einsätzen gemacht hat, spielen auch noch heute eine Rolle, bei seiner aktuellen Tätigkeit in einer Grundausbildungskompanie. „Was ist das scharfe Ende“, fragt Götz, „wenn man eine Gruppe oder einen Zug in ein Gefecht führen muss und am Ende jemand fallen oder verwundet werden kann?“ Götz ist sich sicher: „Wir haben unser Kerngeschäft beherrscht, haben darauf aufgebaut und uns an den Einsatz angepasst.“ Diese Erfahrungen spielen für Götz heute noch eine große Rolle in der Ausbildung junger Soldaten.

Die Soldatinnen und Soldaten bringen ihre Erfahrungen, auch Kampferfahrungen, in eine sich stetig weiterentwickelnde Bundeswehr ein. Doch gilt das auch für die Politik? In der zweiten Diskussionsrunde ging es dann um die politische Aufarbeitung des Afghanistan-Einsatzes. Michael Müller, Vorsitzender der Enquetekommission, ist zuversichtlich, dass auch dies gelingen wird. „Das ist auch ein Statement des Bundestages. Man sieht, dass da etwas im Argen ist, dass da etwas aufgearbeitet werden muss, und man will es herausholen aus dem täglichen Kleinklein der Ausschussarbeit.“ Mit einer Enquetekommission können man mit „anderen Mitteln sehr tief in die Themen reingehen“.

Auch Dr. Münch empfindet es als positiv, dass es neben dem Untersuchungsausschuss zum Abzug aus Afghanistan auch eine Enquetekommission gebe. In diesem Gremium könne man über einen längeren Zeitraum detailliert in die Tiefe gehen. „Ich hätte mir nur gewünscht, dass man dasselbe für den Beginn des Afghanistaneinsatzes hätte machen können. Das ist eine mindestens genauso wichtige Frage: Wie sind wir da reingekommen?“

Oberst André Wüstner sagte, dass das Engagement in der Kommission fraktionsübergreifend sehr hoch sei. „Der Weg ist das Ziel“, sagte der Bundesvorsitzende. Er merke jetzt schon, dass Bundestagsabgeordnete die Prüffragen zum Mali-Einsatz stellen, die man zuvor in der Enquete zu Afghanistan behandelt habe. Wüstner gab sich zuversichtlich mit Blick auf die Ergebnisse, die von der Enquetekommission erarbeitet werden. Der Verbandschef weiter: „Ich hoffe nur, dass man mit den Folgerungen entsprechend umgeht.“

In den ersten Sitzungen sei für Wüstner sichtbar geworden, dass die einzelnen betroffenen Ministerien sehr unterschiedliche Sichtweisen zu Afghanistan haben und ein unterschiedliches Verständnis zur Aufarbeitung vorherrsche. „Für mich ist spannend, wie sich die Arbeit mit den Ressorts in der Enquete entwickelt“, sagte der Bundesvorsitzende. Es bleibe abzuwarten, wie sich die Verantwortungsträger aus den verschiedenen Ressorts einlassen, so Wüstner.

Die Erwartungshaltung im Deutschen BundeswehrVerband mit Blick auf alle, die im Afghanistaneinsatz waren, sei, „dass man diesen Einsatz ehrlich aufarbeitet“, so Oberst Wüstner. Und abschließend nochmal in aller Deutlichkeit: „Für mich ist entscheidend, dass man sich ehrlich macht.“
 

Die vollständige Veranstaltung hat das ZMSBw aufgezeichnet:

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