Seit dem 24. März 2021 Inspekteur der Marine: Vizeadmiral Kay-Achim Schönbach Foto: Bundeswehr / Julia Kelm

06.10.2021
Marco Thiele

„Der Fähigkeit zum Gefecht muss sich alles andere unterordnen“

Die Marine und ihr Personal müssen sich noch stärker an den Forderungen zum Kampf ausrichten, sagt der Inspekteur der Marine, Vizeadmiral Kay-Achim Schönbach. Darüber hinaus erläutert er im Interview, wie die Bündelung von Verantwortung und Kompetenzen in einem „Maritime Warfare Center“ Vorteile für die Einsatzbereitschaft der Flotte bringt und aus welcher Richtung er zukünftig Bedrohungen erwartet.

Die Bundeswehr: Sie haben im Juni in Ihrer ersten größeren Rede den „Kompass der Marine“ gewissermaßen neu kalibriert. Würden Sie für unsere Leser kurz zusammenfassen, wo Ihre Schwerpunkte sind und warum Sie diese so ausgewählt haben?

Vizeadmiral Kay-Achim Schönbach: Nach 100 Tagen und den Tagen, die seitdem bereits verstrichen sind, kann ich sagen, dass es zweifellos zunehmend „Schwerflächen“ denn -punkte sind. Ging es in der Zeit meines Vorgängers stärker darum, die Beschaffung und Modernisierung unserer Marine auf den Weg zu bringen, wird es in der kommenden Zeit auf materiellem Gebiet vor allem um Instandsetzung, -haltung und Nutzung gehen.

Darüber hinaus müssen sich die Marine und ihr Personal in puncto Ausbildung noch stärker an den Forderungen zum Kampf ausrichten – dieser Fähigkeit zum Gefecht muss sich alles andere unterordnen. Wenn wir das hochintensive Gefecht beherrschen, sind alle anderen Aufträge automatisch abwärtskompatibel. Um dieses Ziel zu erreichen, müssen wir unseren gemeinsamen Mindset schärfen und die Prinzipien einer modernen, einsatzorientierten Inneren Führung wiederentdecken und leben.

Wie können wir aus Ihrer Sicht die Planbarkeit des Dienstes verbessern? Welche Möglichkeiten hat ein Inspekteur der Marine dazu? Und was muss dafür gegebenenfalls organisatorisch und/oder prozessual geändert werden?

Planbarkeit für die Truppe erreichen wir am besten, wenn wir hinsichtlich der Verfügbarkeit von Schiffen, Booten und Luftfahrzeugen vorankommen. Damit spreche ich alle an, die mit ihrem Dienst in der Bundeswehr ihren Anteil zur Verfügbarkeit unserer Waffensysteme beitragen. Allen muss klar sein, dass alles Streben in der Bundeswehr der Verfügbarkeit und der Einsatzbereitschaft dienen muss.

Tatsache ist, dass die Marine heute die historisch kleinste Flotte hat, die keinerlei Reserven bilden kann. Schiffe, Boote, Luftfahrzeuge wie auch andere Ausrüstung unserer Marine stehen in nur bescheidenem Umfang zur Verfügung. Neue Einheiten laufen völlig verspätet und nur sehr bedingt bis gar nicht einsatzreif zu. Instandsetzungsvorhaben verzögern sich schon in der Anfangsphase um Monate, verlängern sich drastisch und reißen so regelmäßig Lücken in die Jahresplanung. Einsätze und Bündnisverpflichtungen können wir noch wahrnehmen, die Ausbildung leidet jedoch, und den Besatzungen wird ein Höchstmaß an Flexibilität und Belastbarkeit abverlangt. Und obwohl alle Beteiligten die Einsatzbereitschaft und Verfügbarkeit steigern wollen, klemmt es nach wie vor. Woran liegt das? Ich nenne einige Beispiele: lange Beschaffungsprozesse, Umfang und Qualität der erbrachten Industrieleistungen, Verfügbarkeit von Ersatzteilen, das Rügeverhalten der Industrie, Vergabeprobleme und Kapazitäten des Marinearsenals.

Das Problemfeld wurde zwar zum Beispiel im Rahmen der Agenda Nutzung eingehend untersucht, besteht im Wesentlichen aber fort, und man erklärt mir regelmäßig, welche Gründe es für jedes der genannten Probleme gibt. Diese Gründe sind auch nachvollziehbar. Es ist auch so, dass alle Beteiligten gewissenhaft arbeiten. Aber wir haben das Große und Ganze aus dem Blick verloren, und das müssen wir dringend ändern. Das funktioniert mit: Verantwortung wahrnehmen, Spielräume nutzen, entscheiden, Hindernisse ausräumen und auch ein Gefühl von Betroffenheit entwickeln. Nur dann wird sich wirklich etwas ändern.

Deswegen ist alles, was mit dem Eckpunktepapier beschlossen ist, für die Marine eine Riesenchance. Es kommt nun darauf an, die Eckpunkte so auszugestalten, dass identifizierte systemische Probleme auch tatsächlich gelöst werden. Wesentliches Potenzial sehe ich tatsächlich in der Bündelung von Aufgaben, Kräften und Verantwortung hinsichtlich der materiellen Einsatzbereitschaft der Schiffe, Boote und Luftfahrzeuge durch die Aufstellung eines Systemhauses See, in der Erweiterung der Steuerungskompetenz der Marine und der Stärkung eigener Fähigkeiten sowie in Rahmenverträgen für die Instandsetzung und in der noch engeren Einbindung der Industrie. Wenn wir daraus eine Erfolgsgeschichte machen, und da bin ich zuversichtlich, dann steigern wir auch Verfügbarkeit und Einsatzbereitschaft, und das wiederum kommt direkt der Planbarkeit zugute.

Ein weiteres Thema in diesem Zusammenhang ist die Soldatenarbeitszeitverordnung in der aktuellen Form. Auch hier müssen wir mögliche Chancen nutzen, um in Teilen diese Regelungen im Sinne der Einsatzbereitschaft und Planbarkeit anders zu gestalten.

Ein kleines Beispiel: Die leistungsstarke und motivierte Truppe will kleinere Instandsetzungen selbst angehen, muss aber „zeitig“ von Bord gehen, weil dann die Schiffe abgeschlossen werden. Ergebnis: Der Antriebsdiesel ist einen weiteren Tag unklar. Das kann so nicht bleiben.

Sehen Sie weiteren Handlungsbedarf, um die Einsatzbereitschaft der Marine zu steigern?

Ja, allerdings, den sehe ich schon deswegen, weil das angesprochene Eckpunktepapier auch die Aufstellung des Maritime Warfare Centers (MWC) vorgibt. Das ermöglicht künftig die Verzahnung von Doktrin- und Taktikentwicklung, Übungsvorhaben, synthetischer Ausbildung und der Erprobung von Einsatzverfahren. Genauso sollen Expertise und Erfahrungen unserer Flotte direkt mit der Weiterentwicklung und Impulsen für die Ausbildung verbunden werden. Ein solches Center bringt deutliche Vorteile für die Einsatzbereitschaft der Flotte. Dieses Konstrukt kommt, denn dies ist bereits entschieden. Den Kern wird sicher das Taktikzentrum der Marine in Bremerhaven bilden, aber auch das muss noch weiter ausgeplant werden. Das MWC macht die Marine operativer, vor allem aber professioneller. Das müssen wir werden, weil wir uns wieder intensiver mit Landes- und Bündnisverteidigung beschäftigen müssen. Deswegen habe ich auch angewiesen, wo wir es ermöglichen können, die Zusammenarbeit mit den großen Marinen und deren Trägerverbänden höher zu priorisieren. Da spielt die Musik, vor allem im Nordatlantik. Hier können wir den Seekrieg in allen Facetten üben.

Sie sprachen eingangs von der Kampfbereitschaft. In Ihrer Grundsatzrede haben Sie den „Willen zum Kampf“ unterstrichen. Können Sie darauf noch einmal näher eingehen?

Ich betone das deswegen immer wieder, weil das der Kern unseres Berufes ist. Nicht Schiffe, sondern Menschen kämpfen, um eine Weisheit von Graf Luckner aufzugreifen. Nun ist das zugegebenermaßen eine Binse, aber wir haben keinen Beruf wie jeden anderen. Vor diesem Hintergrund ist es so wichtig, dass wir das Potenzial unserer Menschen in der Marine wieder mobilisieren. Gerade jetzt, da wieder stärker als in der Vergangenheit die Notwendigkeit zur Landes- und Bündnisverteidigung betont wird, ist der richtige Geist der Truppe und in der Truppe von herausragender Bedeutung.

Wir sind nicht nur „Botschafter in Blau“ und der Ort von Seefahrtsromantik, sondern ein Instrument, das in extremis den Krieg auf, über, unter und an der See zu führen hat. Das muss jede/r begreifen und annehmen. Und nicht, weil ich das sage, sondern, weil es so ist.

In diesem Zusammenhang: Welche Klaviatur kann die Marine der Politik bieten? Oder anders gefragt: Welche Instrumente hat die Politik durch die Marine zur Verfügung, um die Interessen Deutschlands zu vertreten oder durchzusetzen?

Wir müssen der Politik die Deutsche Marine weiterhin erfolgreich als flexibles und verlässliches Instrument anbieten können. Kein anderes Mittel im „Werkzeugkasten Streitkräfte“ gibt der Politik auf dem Gebiet der Sicherheits- und Verteidigungspolitik diesen Strauß an Möglichkeiten. Sei es Präsenz durch Vorausstationierung, Unterstützung unserer Partner und Alliierten weltweit, mandatierte Einsätze, Mittel zur Sanktion oder zur Diplomatie oder schlicht „Flagge zeigen“. Und dies alles, ohne das Territorium betroffener Staaten zu betreten oder zu befahren.

In puncto Landes- und Bündnisverteidigung müssen wir uns die offensichtliche Bedrohung stets vor Augen führen. Unsere Bundesministerin hat dies auch immer wieder klar angesprochen. Russland und China rüsten stetig auf. Allein China hat in den letzten vier Jahren Einheiten vom Ausmaß der gesamten französischen Marine in Dienst gestellt und ein enges Netzwerk an weltweit verteilten Marinestützpunkten aufgebaut. Keiner kann mit Verlässlichkeit sagen, welche Szenarien wir künftig zu bedienen haben. Bleibt unser regionaler Schwerpunkt die Ostsee, die Nordsee und der Nordatlantik oder werden wir in ganz anderen Regionen eingesetzt, die wir heute noch nicht ausmachen können? Daher müssen wir alles tun, um die Verfügbarkeit unserer Einheiten, und damit meine ich nicht nur unsere schwimmenden, stetig zu erhöhen. Und nicht irgendwann, sondern jetzt, denn die Herausforderungen sind jetzt da und warten nicht darauf, dass wir uns „geschüttelt“ haben.

In welchem sicherheitspolitischen Umfeld bewegen wir uns aus deutscher Sicht?

Eines vorweg: Der Inspekteur der Marine macht keine Politik, auch keine Sicherheitspolitik, das ist die Aufgabe und Verantwortung unserer gewählten Politiker. Im konkreten Fall unserer Bundesministerin. Ich berate und exekutiere besagte Politik.

Zu Ihrer Frage: Ich habe das ja eben schon kurz angerissen, will aber gerne noch einmal näher darauf eingehen. Der chinesische Staatspräsident bemüht seit einiger Zeit das sogenannte Mandat des Himmels der KP Chinas. Das heißt nichts anderes als die Legitimation zum Herrschen, und zwar aus dem Recht des Stärkeren heraus. China betont zwar immer wieder, es strebe nach Harmonie. Seine Politik und vor allem das Schaffen von Tatsachen sprechen aber eine ganz andere Sprache. Wir beobachten seit Jahren das Aufschütten von Inseln im Südchinesischen Meer, den Ausbau zu Militärstützpunkten und das Bedrängen der Nachbarn. Hier hat China unter Missachtung des Völkerrechts Fakten geschaffen.Warum darf uns das nicht kaltlassen? Erstens: Völkerrecht ist Gewohnheitsrecht. Wenn die Weltgemeinschaft China gewähren lässt, macht das Schule. Anderen könnte das später als Rechtfertigung für die Durchsetzung eigener Machtinteressen dienen. Zweitens: Durch das Südchinesische Meer laufen die wichtigsten Seerouten nach Ostasien und neun von zehn Containern, die in Deutschland ankommen, erreichen uns über die See.

China hat ein weltweites ökonomisch-militärisches Netz aus Stützpunkten aufgebaut, sei es durch 99-Jahre-Pachtverträge von Häfen wie in Pakistan und Sri Lanka oder sogar den Bau eines Marinestützpunktes in Djibouti. Diese Häfen und Stützpunkte liegen alle ausnahmslos an den bedeutendsten Seehandelswegen im indopazifischen Raum. Sie sind die maritime Fortsetzung oder Ergänzung der neuen Seidenstraße Chinas. Deswegen rüstet China seit Jahren mit immensem Tempo seine Marine auf. Deswegen sind Schiffe und ganze Verbände der chinesischen Marine mittlerweile weltweit unterwegs und pflegen den friedlichen Austausch, wie China sagt. Tatsächlich will China im Indo-Pazifik aber handlungsfähig sein und Teile dieser Seegebiete kontrollieren können. Dass dies die USA auf den Plan ruft, dürfte einleuchtend sein. Uns muss es aber genauso beunruhigen, weil die USA deswegen schon jetzt den Blick eher in Richtung China als nach Europa richten. Denn auch Russland rüstet seit Jahren konsequent und massiv auf. Inzwischen verfügt Russland über mindestens gleichwertige, teilweise sogar überlegene militärische und maritime Fähigkeiten im Ostsee- und Nordflankenraum. Russland demonstriert ebenso wie China die Handlungsfähigkeit seiner Marine, auch in weit entfernten Seegebieten. Die Wegnahme der Halbinsel Krim und die „Vorgänge“ in der Region Donbass waren vor einigen Jahren der Weckruf für uns alle.

Unterm Strich haben wir es also mit zwei autokratischen Staaten zu tun, die in Teilen ohne Rücksicht ihre Interessen durchsetzen und weiter durchsetzen werden.

Welche Strategie müsste Ihrer Ansicht nach verfolgt werden und welche Rolle spielen dabei Allianzen und die Marine?

Nochmal, die strategischen Entscheidungen trifft die Politik. Bei aller wirtschaftlichen Stärke bleibt Deutschland eine Mittelmacht in der Mitte Europas, die wegen ihrer geografischen Lage von allen Krisen an der Peripherie Europas unmittelbar betroffen ist. Allianzen zu schmieden und zu pflegen, liegt also in unserem ureigensten Interesse. Und weil Europa eine Halbinsel ist und im Norden, Süden und Westen nasse Flanken hat, brauchen wir Seestreitkräfte, die dort handlungs- und durchsetzungsfähig sind. Das gilt für das internationale Krisenmanagement und erst recht für die Landes- und Bündnisverteidigung.

Zudem vernetzen Globalisierung und Digitalisierung unsere Welt, und zwar vor allem über die Ozeane. Ich habe das schon am Beispiel des Südchinesischen Meeres deutlich gemacht. Gleiches gilt für den Atlantik und den Indo-Pazifik. In diesen riesigen Seegebieten erreicht Deutschland alleine wenig bis gar nichts. Aber mit anderen zusammen kann die Deutsche Marine einen Beitrag leisten.

Ich war vor Kurzem beim Indian Ocean Naval Symposium (IONS). Dort konnte ich mich mit den Marinechefs der Anrainerstaaten, aber auch Frankreichs, Großbritanniens und der USA zu Fragen der maritimen Sicherheit austauschen. Wir haben im IONS seit 2016 Beobachterstatus. Letztes Jahr hatte die Bundesregierung die Leitlinien zum Indo-Pazifik beschlossen, und die Marine hat die Fregatte „Bayern“ in die Region entsandt. Mit all dem unterstreicht Deutschland seinen Willen zur Stärkung des Multilateralismus und der regelbasierten Ordnung.

Zum Abschluss: Angenommen, Sie hätten einen Wunsch frei für die Marine. Was wäre das?

Zunächst einmal wünsche ich mir, dass wir die Augen nicht vor den Realitäten verschließen. Dann sollten wir alles dafür tun, um bei der Modernisierung und Ausrüstung der Marine zügig voranzukommen. Das alles muss natürlich finanziert werden, auf Jahre hinaus und trotz Corona. Deswegen sehe ich es als eine meiner wichtigsten Aufgaben, zu beraten und immer wieder die notwendigen Ableitungen zu erklären. Das sind wir der Bevölkerung schuldig. Ich bin mir sicher: Wenn wir das tun, dann wird auch die Einsicht in die Notwendigkeit zur Stärkung der Marine und der Bundeswehr insgesamt bei den Bürgerinnen und Bürgern weiter wachsen.

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