Zwei Kampfpanzer Leopard 2A6 auf dem Vormarsch bei der NATO-Übung „Nobel Jump 2019" in Zagan, Polen. Foto: DBwV/Yann Bombeke

Zwei Kampfpanzer Leopard 2A6 auf dem Vormarsch bei der NATO-Übung „Nobel Jump 2019" in Zagan, Polen. Foto: DBwV/Yann Bombeke

08.04.2024
Jörg See

„Die NATO im Jahr 2024: Wer abschreckt, muss verteidigen können und wollen“

Im Jahr 2024 besteht die NATO, das transatlantische Verteidigungsbündnis, seit nunmehr 75 Jahren – getragen von gemeinsamer Geschichte, Werten und Zielen. Während dieser Jahre hat sie im Kalten Krieg und in der Zeit danach, in der mancher sie für obsolet hielt, immer wieder Veränderungen durchlaufen und sich erfolgreich angepasst.

Heute sieht sich die NATO mit einer sicherheits- und verteidigungspolitisch zunehmend instabileren, gefährlicheren und von Krisen, Kriegen und globalem Wettbewerb geprägten Welt und Zeit konfrontiert. Grund genug, um reflektierend auf dieses Bündnis von mittlerweile 32 Alliierten zu blicken, die sich versprochen haben, sich im Falle eines Angriffs gegenseitig beizustehen. Die NATO ist aber ebenso ein Bündnis, das Einheit, Kohäsion und jederzeit geltende Souveränität lebt, Entscheidungen deshalb nur im Konsens trifft und dessen Stärke darin besteht, trotz Differenzen seine Hauptaufgabe nicht aus den Augen zu verlieren: zusammen mit seinen Partnern auf der ganzen Welt für Freiheit und Demokratie, eine regelbasierte internationale Ordnung und Frieden und Sicherheit für eine Milliarde Menschen auf beiden Seiten des Atlantiks einzustehen.

Was sich im Jahr 2014 mit der illegalen Annexion der Krim durch Russland für die europäische, aber auch internationale Sicherheitslage andeutete und bereits zu wichtigen Anpassungen der NATO an diese führte, hatte im Februar 2022 mit dem völkerrechtswidrigen Angriff Russlands auf die Ukraine nochmals tiefgreifendere Auswirkungen. Mit seinem Willen, Grenzen in Europa mit Gewalt zu ändern und über Zwang, Subversion, Aggression und Annexion Einflussbereiche zu schaffen und unmittelbare Kontrolle zu erlangen, war Russland vom ehemaligen „Partner“ nach Ende des Kalten Krieges zur größten und unmittelbarsten Bedrohung für die Sicherheit der Verbündeten und für Frieden und Stabilität im euroatlantischen Raum geworden. Es wird dies auch auf absehbare Zeit bleiben.

Weg konsequent fortgesetzt

Der nach 2014 eingeschlagene Weg der NATO trug bereits wesentlich dazu bei, dass diese – nach Jahren der Konzentration auf internationales Krisenmanagement – im Februar 2022 schon wieder gut auf die Verteidigung des Bündnisgebietes vorbereitet war. Diesen Weg hat die NATO in den beiden letzten Jahren konsequent fortgesetzt. So bekräftigten die Staats- und Regierungschefs bei ihrem NATO-Gipfel in Vilnius im Jahr 2023: „We are united in our commitment and resolve to prevail against any aggressor and defend every inch of Allied territory.“

Die Refokussierung auf kollektive Verteidigung mittels drei, 360 Grad umfassender regionaler Verteidigungspläne (einer für den Norden: Atlantik und die europäische Arktis, das Zentrum: die Ostseeregion und Mitteleuropa, und den Süden: das Mittelmeer und das Schwarze Meer) spiegelt den Kern der NATO wider: Abschreckung und Verteidigung. Ihr Strategisches Konzept hat dabei Russland und den internationalen Terrorismus als die beiden Hauptbedrohungen definiert (es wurden zwei weitere Kernaufgaben festgeschrieben: Krisenmanagement und kooperative Sicherheit).

Um diese Pläne ausführen zu können, gilt es, die in Vilnius und zuvor in Madrid getroffenen Entscheidungen der NATO rasch und umfänglich zu implementieren. Viele Verbündete haben dem Supreme Allied Commander Europe (SACEUR) unter Nutzung des NATO Force Models (NFM) bereits faktisch ihre gesamte nationale Streitkräftestruktur in verschiedenen Bereitschaftsgraden zur Verfügung gestellt. Parallel werden die Führungsstrukturen angepasst.

Schlüsselelement und wichtiger ­Baustein

Deutschlands Beitrag mit einer permanenten Stationierung einer deutschen Brigade in Litauen ist ein Schlüsselelement im Regionalplan Zentrum und ein wichtiger Baustein im Rahmen eines weit größeren deutschen Beitrags (im Rahmen des NFM), den es rasch verfügbar zu machen gilt. Er unterstützt und stärkt die Ausführbarkeit der Regionalpläne und damit die NATO-Ostflanke als Ganzes bereits weit vorn im Sinne des Strategischen Konzepts: „forward defences“. Dort befinden sich nunmehr unter anderem mittlerweile acht (bis auf Brigadegröße skalierbare) Battlegroups der enhanced Forward Presence (eFP).

Um den Aufbau der dazu erforderlichen Kräfte zu gewährleisten, gewinnt der NATO Verteidigungsplanungsprozess (NDPP) enorme Bedeutung. Er führt die konkreten Bedarfe aus den Verteidigungsplänen mit langfristigen Erfordernissen der Streitkräfteplanung zusammen, um technischen Entwicklungen und Erkenntnissen aus derzeitigen und künftigen Kriegen Rechnung tragen zu können. Auf die Alliierten kommen daher nun die seit Jahrzehnten anspruchsvollsten Fähigkeitsziele zu. Die Botschaft ist klar: „Get ready to fight tonight! Mobilize your forces!“ Die durch langjährige Unterfinanzierung entstandenen Lücken in zentralen Bereichen, u.a. in der Luftverteidigung, der Kommunikationsunterstützung, der Logistik und der sogenannten Enabler gilt es nun, kurzfristig zu schließen. Dazu gilt es, klare Prioritäten zu setzen, um die Ausführbarkeit der Verteidigungspläne zu beschleunigen. Gleichzeitig entbindet dies nicht von der Pflicht, für den “fight tomorrow” innovative und technisch komplexe Fähigkeiten neu zu entwickeln („transformation“).

All das bedarf langfristiger und nachhaltiger Finanzierung: „money matters‘‘. Zwei Prozent des BIP für Verteidigung auszugeben, ist seit dem Gipfel in Vilnius eine Untergrenze. Aktuell erreichen zwei Drittel der Verbündeten dieses Zwei-Prozent-Ziel und es werden monatlich mehr. Der Bedarf wird noch weit über zwei Prozent hinausgehen, um die Abschreckungs- und Verteidigungsfähigkeit bei gleichzeitiger Unterstützung der Ukraine stemmen zu können. Man erinnere beispielsweise auch, dass der deutsche Verteidigungshaushalt unter Bundeskanzler Willy Brandt bei 3,5 Prozent des BIP lag. Diese finanziellen Mittel aufzubringen, ist eine langfristig und nachhaltig zu regelnde Aufgabe; alles andere wäre unglaubwürdig.

Dies geschieht u.a. durch eine gestärkte Rolle für das Supreme Headquarters Allied Powers Europe (SHAPE) als das „Warfighting HQ“, den Ausbau des Joint Force Commands Norfolk, des Joint Enabling and Support Commands in Ulm und einer neuen Rolle/Struktur der Korps, um eine klare und agile Führung von „multi-domain operations“ zu ermöglichen. „Train as you fight“ ist der Grundsatz und verdeutlicht die Wichtigkeit der Beübung dieser neuen Strukturen, verbunden mit hoher Verfügbarkeit und Einsatzbereitschaft. Die diesjährige NATO-Übung Steadfast Defender unterstreicht das eindrucksvoll.

Mit Blick auf die Zukunft wird Europa den USA mit mehr als einem möglichen „Gravitationszentrum“ (Europa, Indo-Pazifik und naher und mittlerer Osten) auf Augenhöhe begegnen wollen und müssen – militärisch gemessen an der entsprechenden Bereitstellung von Kräften, Fähigkeiten und Finanzen. Es wird darum gehen, so pragmatisch und kohärent wie möglich auch mit Partnern wie der EU die verteidigungsindustriellen Kapazitäten durch klare (gebündelte, interoperable) Bedarfssignale an die Industrie deutlich und nachhaltig zu erhöhen. Neben der Schaffung und Anpassung politischer und ggf. normativer Rahmenbedingungen bedarf es dazu langfristiger Aufträge an die Industrie sowie eine staatliche Bereitschaft, selbst zu handeln, wo es dringend notwendig ist oder auch dort zu kaufen, wo dringende benötigte Produkte verfügbar sind. All das ist erforderlich, um die politischen Entscheidungen (Stärkung der Abschreckung und Verteidigung) weiter voranzutreiben und parallel die Ukraine zu unterstützen.

Gesamte Gesellschaft ist gefragt

Die zivile Widerstandsfähigkeit wird dauerhaft ein weiterer Schlüsselpunkt für Abschreckung sein. Gesellschaften in der Allianz mit ganz unterschiedlicher Bedrohungsperzeption – abhängig von der jeweiligen geographischen Lage – auf einen potentiellen Krieg zwischen Staaten vorzubereiten und auf die unzähligen Möglichkeiten, mit denen ein Gegner uns herausfordern könnte (von der Störung der Logistik im Hinterland bis hin zu Cyber-Attacken oder Desinformationskampagnen), ist bereits jetzt eine Herausforderung. Dennoch gilt es, genau dort stark zu sein, wo Gesellschaften am vulnerabelsten – auch am spürbarsten für die eigenen Bürger – getroffen werden können (zum Beispiel bei Beeinträchtigungen des freien Warenverkehrs, Angriffen auf Infrastruktur und Strom- und Energieversorgung, etc.). Zu lösen ist dies nur gesamtstaatlich und gesamtgesellschaftlich.

Deutschland wäre in einer heutigen Krise oder gar einem Konflikt kein Frontstaat mehr, dafür aber Aufmarschland und Drehscheibe mit einem zivil-militärisch gesteuertem Unterbau. Dieser wird aktuell im sich in Erarbeitung befindlichen Operationsplan Deutschland und der zu überarbeitenden Konzeption Zivile Verteidigung noch näher zu definieren sein. Unsere Gesellschaften werden wieder lernen müssen, sich auf schwierige und kritische Situationen vorzubereiten sowie Entscheidungen mitzutragen, die der gesamtstaatlichen und gesellschaftlichen Resilienz dienen. Das reicht von Entscheidungen zum Schutz kritischer Infrastruktur, des Zivilschutzes bis hin zur Stärkung der Streitkräfte durch neue/andere Modelle der Mobilisierung und der Erhöhung von deren Durchhaltefähigkeit.

Nach 75 Jahren stellt sich die NATO weiterhin diesen Herausforderungen in ausgesprochen schwierigen Zeiten. Sie gestaltet und verändert – geeint, gezielt und mit hohem Tempo. Deswegen war und ist die NATO so erfolgreich. Der Gipfel in Washington im Juli dieses Jahres wird weitere Wegmarken hierzu setzen.

Mit Rat und Hilfe stets an Ihrer Seite!

Nehmen Sie Kontakt zu uns auf.

Alle Ansprechpartner im Überblick