Die Truppe braucht Soldaten, die ihren Auftrag aus voller Überzeugung erfüllen
Nach dem ersten Handbuch „Innere Führung” ist 66 Jahre später ein neues veröffentlicht worden. Es ist im Geiste des „Vaters der inneren Führung”, Wolf Graf Baudissin, geschrieben. Ein Gespräch über Grundsätze und Überzeugungen mit Oberst i.G. Thomas Berger.
Selbstständig denkend und handelnd sollte er sein, der Soldat, den sich die Väter der „Himmeroder Denkschrift” vorgestellt haben. Aus der Denkschrift vom Oktober 1950 ist 1957 das erste Handbuch „Innere Führung“ für die damals noch junge Bundeswehr geworden. 66 Jahre später gibt es ein neues. Was sind die deutlichsten Unterschiede?
Oberst Berger: Der entscheidende Unterschied ist, dass das „Handbuch Innere Führung“ von 1957 aus der Not heraus geboren war, die neue Konzeption irgendwie an die Truppe, vor allem aber an die Vorgesetzten aller Ebenen zu vermitteln. Deshalb trug es auch den Untertitel „Hilfen zur Klärung der Begriffe“. Des Weiteren enthält das Handbuch von 1957 gerade keine Erklärung, was Innere Führung sein soll. Das entsprechende Kapitel erklärt zunächst, was Innere Führung nicht ist. Gegen Ende der 1960er-Jahre war dann die Kritik am Handbuch so gewachsen, dass letztendlich mit dem Erlass der Zentralen Dienstvorschrift 10/1 „Innere Führung“ im September 1972 das Handbuch obsolet geworden war. Auch wenn es bis zu diesem Zeitpunkt an jeden Offizieranwärter ausgegeben wurde, galten sowohl der Sprachduktus als auch der Inhalt, vor allem aber die fehlende griffige Beschreibung dessen, was Innere Führung ist oder zumindest sein soll, als Hauptmängel. Gerade die Frage nach einer „Definition“ oder zumindest „Beschreibung“ der Konzeption der Inneren Führung wurde auch mit den Vorschriften von 1972, 1993 und 2008 nicht beantwortet. Daher beginnt das neue Handbuch auch mit einem sogenannten Erklärstück: „Was ist Innere Führung“.
Muss man den Staatsbürger in Uniform heute ganz anders ansprechen als in den 1950er und 1960er Jahren?
Die kurze Antwort lautet: Ja, auf jeden Fall! Die etwas längere: Wir stellen fest, dass die jungen Menschen der Generation Z mental und kognitiv anders aufgestellt sind als die Generationen davor. Dem müssen wir Rechnung tragen. Die Ausrichtung auf Haltungen und Vorstellungen in puncto ‚Arbeitswelt erleben‘ und Vereinbarkeit Familie und Dienst, vor allem jedoch der Anspruch nach Sinnhaftigkeit des Berufes, stellen uns jedoch nicht vor unlösbare Probleme, denn vieles setzen wir bereits schon um. Allerdings müssen wir die Menschen auch mitnehmen und ihnen sehr früh, sehr deutlich vermitteln, was es bedeutet, für sein Land, seine Werte und für die Verbündeten einer Wertegemeinschaft einzustehen und welcher Preis damit verbunden sein kann. Das ist Aufgabe aller Vorgesetzen in der Bundeswehr und bedingt, dass ein jeder bzw. eine jede die Frage des „Dienens wofür” für sich klar beantwortet hat!
Krieg in der Ukraine, Krieg in Nahost: Wie können Vorgesetzte sicherstellen, dass die Innere Führung mit ihren Grundsätzen und Werten für den deutschen Soldaten auch in Extremsituationen angewendet wird?
Wir müssen in der Ausbildung den Grundstein dafür legen, damit es in Extremsituationen nicht zur Entgrenzung kommt. Dabei spielt das vorbildliche Verhalten der Vorgesetzten und deren erzieherisches Einwirken auf das Verhalten und die Haltung der Unterstellten eine herausgehobene Rolle. Deutsche Soldatinnen und Soldaten halten sich an die geltenden Gesetze und Normen. Terroristische Angriffe wie in Israel oder Szenen wie in Butscha, mit Gräueltaten auch an der ukrainischen Zivilbevölkerung, verübt von vorrückenden russischen Einheiten, sind durch nichts zu rechtfertigen und sind mit unserem Werteverständnis in keiner Weise vereinbar. Und das ist nicht verhandelbar!
1957 ging es wie heute um die Einsatzbereitschaft der Truppe, aber auch um die Selbstreflexion. Inwiefern haben sich die Grundsätze der Inneren Führung verändert?
Der Wesenskern der Inneren Führung ist die Integration der Streitkräfte in den freiheitlichen demokratischen Staat, wie ihn das Grundgesetz konstituiert, und die Integration der Soldaten in die sie umgebende Gesellschaft, aus der sie ja auch hervorkommen. Beschrieben wird diese Integration durch das Leitbild des mündigen „Staatsbürgers in Uniform“, das Eintreten für die im Grundgesetz verankerten Werte und Normen und die Grenzen von Befehl und Gehorsam. An diesem Wesenskern hat sich bis heute nichts geändert! Jedoch trägt die Innere Führung politischen und gesellschaftlichen Veränderungen Rechnung. Sie setzt sich mit Themen wie Vielfalt, Führen im digitalen Zeitalter und Resilienz auseinander. Sogar für die militärischen Herausforderungen der Zukunft wie die Integration von künstlicher Intelligenz und ethische Aspekte des Einsatzes autonomer Fahrzeuge bietet die Innere Führung Antworten und Lösungsansätze. Und das Handbuch aus dem Zentrum Innere Führung leistet dabei einen wertvollen Beitrag.
Der Co-Autor Peter Tauber sagt, das neue Handbuch „Innere Führung“ ersetze nicht das von 1957, sondern trete gewissermaßen daneben. Wie kann man das erklären?
Was hier einer der Mitautoren des neuen Handbuches im Wesentlichen ausdrücken will, ist, dass es hier nicht um einen Ersatz für etwas Altes oder Überkommenes geht. Damals haben Experten bestimmte Begrifflichkeiten erklärt und die gesamte Ausdrucksform lässt nur eine Interpretation im Sinne von „so ist es“ zu. Gleichfalls steht dort noch viel Richtiges und wird als historisches Werk unserer Bundeswehr genutzt. Im neuen Handbuch unterlagen sowohl die Substanz als auch das Zustandekommen der Autorenschaft einem völlig anderen Ansatz. Autoren, die sich freiwillig auf Basis eines Partizipationskonzeptes gemeldet haben, die die komplette Breite der Bundeswehr und das nahezu komplette Dienstgrad- bzw. Amtsbezeichnungsspektrum abdecken, stellen in ihren jeweiligen Artikeln ihre persönliche Herangehensweise, Auffassung und dann vor allem den Inhalt eines Themas zur Disposition. Das Handbuch soll dabei einerseits zur Diskussion und zur Auseinandersetzung vor Ort, in den Dienststellen und Truppenteilen der Bundeswehr anregen, und andererseits als Nachschlagewerk dienen und einen Beitrag zur Weiterentwicklung leisten.
Die Autoren wollten eine Sprache, die vom Grenadier bis zum Generalinspekteur alle gleich gut verstehen: Ist das gelungen?
Es galt, einen guten Kompromiss zu finden, und ja, das ist uns gelungen. Im Großen und Ganzen wurde diese Forderung im Sinne von „das Einfache ist das Schwierige“ weitgehend umgesetzt. Gleichfalls bleibt aber auch die Feststellung, dass manche Themen eben einer eingehenderen Erörterung bedürfen und selbst Formulierungsprofis an ihre Grenzen stoßen. Darüber hinaus sind bei diesem Thema Simplifizierungen unangebracht.
„Wir.Dienen.Deutschland.“ ist das Dach für das Haus der „Inneren Führung“ – das Handbuch ist nicht nur für Soldaten und Soldatinnen bestimmt, sondern auch für Menschen, die der Bundeswehr nicht unbedingt nahe stehen. Ist das neue Handbuch auch ein Ratgeber für die Zeitenwende?
Das Handbuch erhebt nicht den Anspruch des Ratgebers für die Gesellschaft. Wenn man allerdings mit „einen Rat geben“ verbindet, dass dafür sensibilisiert werden sollte, wieder mehr Bürger und Bürgerinnen unseres Landes aufgrund der kolportierten „Zeitenwende“ auf erforderliche Entwicklungen hinzuweisen, dann kann das Handbuch inklusive der damit einhergehenden Vermittlungsmaßnahmen aus dem sogenannten „Baukasten“ seinen Beitrag zur Herstellung der vom Verteidigungsminister geforderten Wehrfähigkeit der Gesellschaft leisten.
Sie sprechen davon, dass mit der Zeitenwende auch eine Gedankenwende einhergehen muss: Wie können Sie unseren Leserinnen und Lesern diese Gedankenwende beschreiben?
Es kommt vor allem auf das Selbstverständnis als Soldat und als Soldatin an! Berufe in den Streitkräften haben nun einmal besondere Anforderungen: physisch, psychisch und charakterlich. Daher ist eine wirkungsvolle Innere Führung auch ein unverzichtbarer Beitrag zur Einsatzbereitschaft einer Bundeswehr, deren Soldatinnen und Soldaten einen möglichen Krieg nicht nur gewinnen können, sondern auch gewinnen wollen. Dazu gehören Widerstandsfähigkeit und der Wille, Entbehrungen, Härten oder Belastungen in Übung und Einsatz zu tragen, und diese, gerade als Vorgesetzter und Vorgesetzte mit Vorbildfunktion, mit seinen Untergebenen zu teilen. Dabei sind gerade soldatische Tugenden wie Mut, Tapferkeit oder Wahrhaftigkeit unverzichtbar. Das alles ist mentale Stärke, die gerade jetzt im Angesicht des Krieges wichtig ist. Wir mussten erfahren, dass in der Zeit der Auslandseinsätze diese Grundsätze nicht immer und überall zum Tragen kamen. Vor allem aber gehört auch zum neuen „Mindset“, sich zu lösen von langfristig planbaren und klar abgegrenzten Einsätzen, wo spätestens ab dem dritten Kontingent in Sachen Betreuung und Fürsorge nahezu keine Wünsche mehr offenbleiben.
Sie sagen, dass es ohne Innere Führung keine volle Einsatzbereitschaft der Bundeswehr geben kann? Nennen Sie uns ein Beispiel für diese These.
Einsatzbereite Streitkräfte definieren sich nicht ausschließlich über das zur Verfügung stehende Material und eine fundierte Ausbildung an Waffen und Gerät. Wir benötigen dazu auch die Soldatinnen und Soldaten, die im Sinne der Inneren Führung ihren Auftrag aus Überzeugung erfüllen wollen und auch wissen, wofür sie es tun. Mit der richtigen Kampfmoral können Sie wahre Schätze heben in Ausbildungs- und Einsatzbereitschaft. Mit der richtigen intrinsischen Motivation gelingt es beispielsweise auch, Ausbildungs- und Reaktionszeiten nachhaltig zu verkürzen. Schauen Sie in die Ukraine. Dort war bereits vor dem 24. Februar 2022 die Frage des ‚Wofür dienen?‘ offensichtlich dergestalt beantwortet, dass die russische Seite auf eine hochmotivierte Armee getroffen ist und deren Absicht eines überrollenden völkerrechtswidrigen Angriffs in kurzer Zeit einen Riegel vorgeschoben hat. Sie sehen also, dass die Innere Führung die unabdingbare Grundlage für einsatzbereite Streitkräfte bildet. Für eine Bundeswehr, die einen potenziellen Gegner nicht nur abschrecken soll, sondern im Ernstfall bereitsteht, um tatsächlich einen gegen unser Land geführten Krieg gewinnen zu können.