Rechts neben dem Hochhauskomplex an der breiten Homostel-Straße stand der Pchilka-Einkaufsmarkt in Irpin bei Kiew. Etwa 500 Meter von dem zerstörten Gebäudekomplex entfernt, befindet sich (in nordöstlicher Richtung) das Irpin Militär-Hospital. Die Homostel-Straße liegt auf dem Weg vom nordwestlichen Stadtrand Kiews zum Antonov-Flughafen in Homostel. Nach circa sechs Kilometern, etwa auf halber Strecke, kommt man durch Butcha. Foto: picture alliance/AA|Metin Aktas

31.07.2022
Von Klaus Wittmann

Die Ukraine entschlossener unterstützen

Ohne Gebietsabtretungen werde es für die Ukraine nicht abgehen – so meinen manche. „Wer von denen macht sich klar“, schreibt Brigadegeneral a.D. Dr. Klaus Wittmann, „dass ‚abzutretende Gebiete‘ Regionen, Städte, Dörfer mit Millionen von Ukrainern sind“, denen Folgendes drohe: „Mord, Vergewaltigung, Folter, Verschleppung, Verminung von Ortschaften ...“

Gewöhnen wir uns bloß nicht daran, dass in der Ukraine Krieg „herrscht“ zwischen zwei Kontrahenten! Nein, es ist eine brutale Unterwerfungsoffensive Russlands gegen ein souveränes Nachbarland – verbrecherisch sowohl nach Absicht und Ziel als auch nach den kriegsvölkerrechtswidrigen Methoden.

Aber gut vier Monate nach Beginn der russischen Offensive mehren sich in Deutschland Stimmen für einen baldigen Waffenstillstand und Politiker-Spekulationen, welchen Kriegsausgang man für wünschenswert halten soll.

Bemerkenswert empathielos klang der SPD-Fraktionsvorsitzende Mützenich unlängst in einem Interview: „Ich hoffe, dass es bald zu einem Waffenstillstand kommen kann. Dann können wir uns endlich auf andere Fragen konzentrieren.“ Und zunehmend wird über notwendige „Zugeständnisse“ der Ukraine spekuliert, ganz abgesehen von Präsident Macrons Warnung, Putin dürfe nicht „gedemütigt“ werden. Ist die Befindlichkeit des Aggressors wichtiger als der Schutz der Opfer?

Was würde ein „Waffenstillstand jetzt“ bedeuten?

Waffenstillstand jetzt und als oberste Priorität würde bedeuten, dass Russland das besetzte ukrainische Gebiet mehr als verdoppelt hätte und das Eroberte bestimmt nicht in Verhandlungen zurückgeben würde.

Was die Besatzungstruppen dort treiben, ist bekannt und weiterhin unfassbar: Mord, Vergewaltigung, Folter, Verschleppung von Hunderttausenden, auch Kindern, nach Russland, Absetzung und Verschwindenlassen von Kommunalpolitikern, Plünderungen, systematischer Abtransport von Kulturgut aus Museen, Zerstörung von Wohnhäusern, Schulen, Kindergärten, Krankenhäusern und Kirchen, Diebstahl oder Vernichtung der Weizenernte und Blockieren des Exports, Verminung von Ortschaften, Häusern und Feldern, Russifizierung, Einrichtung von „Filtrationslagern“, Rachejustiz an Kriegsgefangenen.

Das Rufen nach raschem Waffenstillstand atmet den Geist von Alice Schwarzers „Emma“-Aufruf. Aber: Ist die Aufforderung „Nicht den Krieg verlängern!“ etwa an die ukrainische Seite zu richten? Und es erinnert an die Nonchalance, mit der ein ehemaliger Bundeswehrgeneral in einer Talkshow zum ukrainischen Botschafter gönnerhaft sagte, Neutralität sei „doch auch nicht so schlimm“. Doch, sehr schlimm wäre Neutralität zu Putins Bedingungen.

„Ohne Gebietsabtretungen wird es für die Ukraine nicht abgehen“, meinen manche. Wer von denen macht sich klar, dass „abzutretende Gebiete“ Regionen, Städte, Dörfer mit Millionen von Ukrainern sind, denen das oben Beschriebene widerfahren wird! Hören wir auf, der Ukraine Ratschläge zu geben – das heißt, sie weiterhin als „Objekt“ zwischen Ost und West zu betrachten oder sie sogar, wie seit jeher, vorwiegend mit russischen Augen zu sehen!

Halten diejenigen, die implizit die Kapitulation der Ukraine fordern, sich nicht vor Augen, was Putins Ziele „Entnazifizierung“, „Entukrainisierung“ und „Entmilitarisierung“ wirklich bedeuten – und wie weitgehend über die Ukraine hinaus die Forderungen sind, die er Mitte Dezember 2021 an die NATO und die US-Regierung gerichtet hat? Nach einer Niederwerfung der Ukraine würde er an deren Grenzen nicht haltmachen in seinem Streben nach „Demokratie-Eindämmung“, Umsturz der europäischen Sicherheitsordnung und Beherrschung des ehemals sowjetischen Machtbereichs.

„Putin dem Schrecklichen“ ist jeder Vertragsbruch zuzutrauen

Und bei einem „Friedensschluss“ unter „Abtretung“ von Krim und Donbass würde der russische Despot, dem – aus Erfahrung – jeder Vertragsbruch zuzutrauen ist, und der ausländische Staatsmänner reihenweise belogen hat, bald auch in der Ukraine erneut gewaltsam seine umfänglicheren Ziele verfolgen.

Neuerdings vergleicht er sich mit Peter dem Großen, der im Nordischen Krieg „russische Erde einsammelte“. Die Analogie zu Iwan dem Schrecklichen liegt näher! Er führt keinen Feldzug, sondern einen Kreuzzug. „Es wird kein Zurück geben“, verlautbarte er kürzlich bei seinem Wirtschaftsforum in St. Petersburg.

Natürlich gibt es für nichts eine militärische „Lösung“. Gegen den Furor des Putinschen Unterwerfungskriegs hilft aber – neben der Einigkeit von NATO und EU, den Sanktionen und der europäischen Perspektive für die Ukraine – vorrangig nur militärischer Widerstand. Seine Pläne müssen durchkreuzt werden, seine nur in der Feuerkraft überlegenen Truppen müssen zurückgedrängt werden und abziehen. Schon um für Verhandlungen die ukrainische Ausgangslage so günstig wie möglich zu gestalten, ist das nötig.

 

Geradezu absurd erscheint die derzeitige deutsche Debatte: Putin „darf nicht gewinnen“, so auch der Bundeskanzler. Aber soll die Ukraine „siegen“ oder nur „bestehen“ bzw. „sich verteidigen können“? Ein Kommentator befürchtet die heimliche Suche nach einem „Putin-kompatiblen Ende des Krieges“. Hinter den restriktiveren Formulierungen scheint bei manchen die Erwartung zu stehen, Russland werde nach Erreichen des „bedingungslosen“ Etappenziels einer Besetzung von Donbass und Landbrücke zur Krim die Kampfhandlungen weitgehend einstellen und den „Schwarzen Peter“ der Kriegsfortsetzung der ukrainischen Führung zuschieben – die natürlich diesen Gebietsverlust nicht hinnehmen kann, schon wegen der Menschen dort. Dann braucht man, so vielleicht das Kalkül, die Ukraine nicht mehr so vorbehaltlos zu unterstützen und nicht mehr alle versprochenen Waffen zu liefern.

Diese hätte die Ukraine schon vor Monaten gebraucht, um das Vorrücken der russischen Truppen im Donbass zu stoppen. Gleich nach Bundeskanzler Scholz’ „Zeitenwende“-Rede am 27. Februar 2022, spätestens aber nach dem Auftrag des Bundestages an die Regierung am 28. April hätten die konkreten Konsequenzen gezogen worden müssen. Stattdessen: sporadische Lieferungen, Verzögerungen, Verhinderung von Haubitzen-Abgaben aus Estland, Vorbehalte, Ausflüchte, ewige Diskussionen über leichte/schwere und defensive/offensive Waffen und das Scheitern von „Ringtausch“-Abmachungen.

Hätte man für den Flakpanzer „Gepard“, die Panzerhaubitze 2000, das Flugabwehrsystem Iris-T und die angekündigten Mehrfachraketenwerfer oder sogar für den Schützenpanzer „Marder“ und den Kampfpanzer „Leopard“ im März entsprechende Entscheidungen getroffen, so wären Herrichtung, Munitionsbeschaffung und Ausbildung weitgehend erfolgt und diese sehr wirksamen Systeme seit Wochen im Einsatz.

Die wachsende Anzahl unterschiedlicher Erklärungen für das Zögern macht diese nicht glaubwürdiger. Eine maßgebliche Politikerin erklärte mir beim Parlamentarischen Abend des Deutschen BundeswehrVerbandes am 2. Juni dieses Jahres, man habe nicht früher entschieden, um einen deutschen Alleingang und „Sonderweg“ zu vermeiden – worauf ich erwiderte, in Polen, im Baltikum und in der Ukraine werde gerade diese Art „Besonnenheit“ als „deutscher Sonderweg“ betrachtet. Und nicht nachvollziehbar ist des Bundeskanzlers Äußerung in Vilnius am 7. Juni. „Niemand liefert [Waffen] in ähnlich großem Umfang, wie Deutschland das tut.“ Die Statistik der Unterstützerstaaten spricht eine andere Sprache, und die jetzt veröffentlichte Liste bisheriger deutscher Waffenlieferungen an die Ukraine ist im Teil „geliefert“ nicht überaus eindrucksvoll. Mehrere besonders wirksame Systeme (wie auch das Artillerieortungsradar COBRA, das die jetzt gelieferte Panzerhaubitze 2000 besonders wirkungsvoll macht) befinden sich auch zwei Monate nach dem Bundestagsbeschluss lediglich im Stadium von Absicht, Zusage, Vorbereitung, Ausbildung oder gar potenzieller Ablehnung. Mit Recht sagte Außenministerin Baerbock am Rande des NATO-Gipfels: „Jeder Tag zählt!“

Ungeachtet notwendiger Abstimmung mit Alliierten wird deutsche Führung erwartet. Ständiges Berufen auf andere wirkt wie Verstecken hinter diesen. „Führung“ durch das Land im Zentrum Europas würde nicht „Vorpreschen“ bedeuten, sondern beherztes Voranbringen der gemeinsamen Unterstützung. Ich habe selbst 2011 die Aussage des polnischen Außenministers Sikorski miterlebt, er fürchte deutsche Macht weniger als deutsche Untätigkeit.

Wolodymyr Selensky ist das Gesicht der Freiheit

In seiner Fernsehrede am 8. Mai 2022 stellte der Bundeskanzler vier Grundsätze auf: keine deutschen Alleingänge, eigene Verteidigungsfähigkeit erhalten, uns nicht mehr Schaden zufügen als Russland, keine Entscheidung, die die NATO zur Kriegspartei werden lässt. Das ist alles selbstbezogen, auf uns konzentriert statt auf die Leiden und Selbstbehauptung der Ukrainer.
Dazu kommt das Schüren der Angst, eine Lieferung schwerer Waffen werde zu atomarer Eskalation führen. Das nenne ich „Selbstabschreckung“. Atomwaffen sind heutzutage nicht mehr zur Kriegführung geeignet, aber sehr wirksam zur Erpressung – gegenüber dem, der sich erpressen lässt! Also: Nerven behalten – und nicht der Bevölkerung solches einreden, um sich dann auf die öffentliche Meinung zu berufen. Festigkeit auch gegenüber Putins ständigen Drohungen und Außenminister Lawrows Ansage, westliche Waffenlieferungen seien „legitime Ziele“. Nichts an diesem Krieg ist „legitim“! Putin nicht provozieren? Für welche seiner Taten hat es denn einer „Provokation“ bedurft?

Bundeskanzler Scholz ist viel zu kundig, als dass er sich mit all den Vorbehalten und der Atomkriegsangst identifizierte. Warum dann also? Ist es gar Sorge um die Gefolgschaft in der eigenen Partei? Aus Erinnerung daran, wie Bundeskanzler Helmut Schmidt in der Nachrüstungsdebatte die Unterstützung seiner Partei verlor und die FDP das zum Anlass für den Koalitionswechsel nahm? Jedenfalls: Zwischen der Selbstbehauptung einer in ihrer Existenz bedrohten Nation und den Vernichtungszielen Putins gibt es keinen denkbaren Kompromiss. Selenskyj ist heute das Gesicht der Freiheit, Putin verkörpert die „Torheit der Tyrannen“. Keinesfalls darf er – wie 2014 – in dem Glauben bestärkt werden, Aggression zahle sich aus. Eine von Russland unterworfene Ukraine würde auch keinen Marshall-Plan mehr benötigen.

Die Entscheidung über Kriegsziele, Aufnahme von Verhandlungen und etwaige Zugeständnisse liegt allein bei Führung und Volk der Ukraine. Auch für einen länger anhaltenden Kampf um den Donbass und auch wenn sich die Ukraine – hoffentlich bald gestärkt durch weitere wirksame Waffensysteme – an die Wiedereroberung temporär verlorener Gebiete macht, verdient sie vorbehaltlose Unterstützung. Dringend – und beschleunigt – braucht sie weiterhin Waffen gegen Truppen, Artillerie, Raketen, Flugzeuge und Kriegsschiffe sowie Munition und Betriebsstoff. Prägnant nannte ein Kommentator westliche Waffenlieferungen die „Lebensader“ der Ukraine. Aber nicht nur deren militärische Durchhaltefähigkeit ist erforderlich, sondern auch unser politischer Durchhaltewille.

Es heißt ja, man solle „vom Ende her denken“. Wenn die Ukraine obsiegt, wollen wir dann unter denen sein, die das maßgeblich mitbewirkt haben? Beziehungsweise: Wenn sie unterliegt und als eigenständiges europäisches Land ausgelöscht und zerstückelt wird, wollen wir uns dann sagen müssen, dass unsere militärische Unterstützung ungenügend, weil halbherzig, war – dass wir nicht alles getan haben, was uns möglich gewesen wäre? Da steht der Ruf Deutschlands mit auf dem Spiel.

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