Soldaten vom Panzerbataillon 393 bei der Übung „Wettiner Schwert“: Über aus dem Stand schnell verlegbare und operationsfähige Großverbände verfügt das Heer aktuell nicht. Foto: Bundeswehr/Marco Dorow

27.05.2022
Von Dr. Hans-Peter Bartels

Drei Bedingungen für das Gelingen der Zeitenwende

Das wuchtige Pathos der „Zeitenwende-Rede“ von Bundeskanzler Olaf Scholz hallt noch nach. Die neue, gefährlichere Zeit ist unwiderruflich da. Aber bei der angekündigten „Wende“ in der deutschen Sicherheits- und Verteidigungspolitik hakt es.

Es hakt zwischen der Ampel-Regierung und der CDU/CSU-Opposition, die für die Grundgesetzänderung zum „Sondervermögen Bundeswehr“ gebraucht wird. Es hakt innerhalb der Koalition zwischen den Sozialdemokraten auf der einen Seite und den Fraktionen von Grünen und FDP auf der anderen, im Kabinett zwischen Scholz, der sich inzwischen anscheinend für eine abwartendere Linie entschieden hat (möglicherweise aus Furcht vor der russischen Atomdrohung), und Vizekanzler Robert Habeck sowie Außenministerin Annalena Baerbock, die größeren Druck auf Russland befürworten. Und auch innerhalb der SPD gibt es kontroverse Diskussionen, nicht zuletzt über zusätzliche Verwendungszwecke für die 100 Milliarden Euro.

Soll die „Wende“ gelingen, sind drei Dinge dringend neu zu ordnen:
Erstens: „First things first!“ Das heißt heute, Waffen für den Überlebenskampf der Ukraine zur Verfügung stellen! Dabei geht es nicht nur um das Abknapsen von Handwaffen und Munition aus den kargen Beständen unserer Bundeswehr, sondern ab sofort auch um komplexere Militärtechnik, Stichwort „Schwere Waffen“. Das bisher vorgeschobene Argument, alles, was wir jetzt abgäben, schwäche leider unsere eigene Verteidigungsfähigkeit, trägt nicht. Denn Deutschlands Beitrag zur Bündnisverteidigung in Europa richtet sich ja gegen keine andere militärische Bedrohung als genau die, der die Ukraine zurzeit im bitteren Krieg um ihre staatliche Existenz entgegentreten muss.

Um es auf den Punkt zu bringen: Russische Kampfkraft, die sich im Anrennen gegen eine wirksame ukrainische Verteidigung abnutzt, bedroht dann auch uns und unsere Bündnispartner im Osten nicht mehr. Wir können abgeben. Insbesondere aus solchen Materialbeständen, die unsere eigene Industrie zügig wieder auffüllen kann. Und was für die Operation „Ringtausch“ möglich ist, müsste dann auch für Direktabgaben an Kiew gelten.

Die Koordination aller deutschen Ausrüstungshilfe für die Ukraine sollte im  Übrigen klar beim Verteidigungsministerium liegen. Das übliche Kompetenzmikado  zwischen Bendlerblock, Auswärtigem Amt, Wirtschaftsministerium und Kanzleramt schafft unnötige Reibung und Verzögerung.

Was die Industrie schnell liefern kann, auch zur Ausschöpfung des EU-Waffenhilfe-Fonds von inzwischen 1,5 Milliarden Euro (wovon wie üblich ein Viertel, 375 Millionen, deutsche Steuergelder sind), muss kontinuierlich koordiniert und genehmigt werden. Erst sammeln, dann mit NATO-Partnern und der Ukraine koordinieren, dann formal genehmigen – das hat in der Vergangenheit zu inakzeptablem Zeitverzug geführt.
Nicht besonders überraschend ist jetzt zusätzlich Ausbildungshilfe der Bundeswehr (in Deutschland oder in Polen) für den ukrainischen Umgang mit komplexerer westlicher Technik ein Thema geworden. Auch das ist nichts für die Methode „Prüfen und auf die lange Bank schieben“, sondern für prompte Entscheidungen.

Zweitens: Die Operation „Lücken schließen“ mithilfe des von Bundeskanzler Scholz in Aussicht gestellten Sondervermögens kann, wenn das Beschaffungsmanagement entsprechend ertüchtigt ist, eigentlich nicht schiefgehen. Denn die Ausrüstungsplanungen für eine moderne Vollausstattung gibt es längst. Das Konzept zur Erfüllung aller NATO-Zusagen heißt „Fähigkeitsprofil der Bundeswehr“ und stammt von 2018. Die zusätzlichen 100 Milliarden Euro würden (wenn parallel der reguläre Verteidigungshaushalt Richtung zwei Prozent vom BIP aufwächst) jetzt ziemlich genau die Summe der Finanzierungslücken bei all diesen Projekten abdecken, vom „Tornado“-Nachfolger und dem Schweren Transporthubschrauber über digitale Kommunikation und mehr Artillerie bis zu Nachtsichtgeräten, Schutzwesten und Rucksäcken.

Zusätzlich muss wohl aus gegebenem Anlass ein neues Projekt der „erweiterten Luftverteidigung“ zum Raumschutz aufgelegt werden. Einen Namen gibt es schon: „Territoriale Flugkörperabwehr German Iron Shield“ (gegen SS-26 „Iskander“, RS-26 „Rubezh“, SS-27 „Topol“ und SS-24 „Jars“). Entsprechende Missile-Defense-Systeme haben Israel mit „Arrow-3“ und die USA mit „THAAD“ entwickelt.

Auch eine weitreichende seegestützte Raketenabwehr durch die Marine wäre wünschenswert und möglich. Die amerikanischen „Aegis“-Zerstörer der „Arleigh-Burke“-Klasse, von denen regulär vier in Europa stationiert sind, schützen gegenwärtig vom Mittelmeer und von der Ostsee aus das europäische Bündnisgebiet, so gut es geht.

Die Verteidiger und die Haushälter im Deutschen Bundestag dürften jetzt sehr scharf darauf achten, dass kein Geld liegen bleibt – und dass es schnell geht.

Drittens: Ohne innere Strukturreform nützt zusätzliches und besseres Material zu wenig. Die Bundeswehr war mit der Spar- und Schrumpfreform der Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg und Thomas de Maizière von 2011 voll auf den damals laufenden Afghanistan-Einsatz ausgerichtet worden. Deshalb gibt es heute keine aus dem Stand verlege- und operationsfähigen Großverbände des deutschen Heeres mehr. Fest zugesagt sind der NATO aber inzwischen drei kampfstarke Divisionen (je etwa 20.000 Soldatinnen und Soldaten) mit acht bis zehn einsatzfähigen Brigaden. Im Moment ist keine einzige Brigade strukturell komplett ausgestattet und autark.

Nach aktueller Analyse des Heeres fehlen den Divisionen vor allem die direkt zugeordneten Divisionstruppen. Und alle Unterstützungselemente, von Nachschub über Fernmelder bis Sanität, müssen aus anderen, eigenständigen Organisationsbereichen beantragt, bewilligt und zugeführt werden. Es gibt kein funktionsfähiges Ganzes, keine „organischen“ Verbände. Auch dafür existieren die Pläne zur Umgliederung. Aber die Umsetzung stockt seit dem Regierungswechsel.

Das Motto, das Generalinspekteur Eberhard Zorn im April im Interview mit dem DBwV-Verbandsmagazin „Die Bundeswehr“ ausgegeben hat, ist zweifellos richtig, heute gilt mehr denn je: „Train as you fight!“ Aber die ganze konzeptionelle Wahrheit dahinter muss dann auch heißen: „Organize as you fight!“ Ein möglicher Bündnisfall oder eine schnelle abschreckende Krisenreaktion an der Ostflanke der NATO darf nicht mit zähen bundeswehrinternen „Truppensteller-Konferenzen“ beginnen.

Allein für die Verstärkung des deutschen NATO-Kontingents in Litauen um 350 Soldatinnen und Soldaten mussten sich im Februar und März Generalstäbler von fünf militärischen Organisationsbereichen untereinander abstimmen. Es hat funktioniert. Aber im Fall der Fälle würde die dafür nötige Führungskapazität anderswo gebraucht. Es ist ernst.

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