Verteidigungsministerin Christine Lambrecht hat in ihrer Rede zur Nationalen Sicherheitsstrategie vor der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik am 12. September 2022 in Berlin „einige wichtige Punkte gemacht“, sagt Professor Krause. „Sie verwies darauf, dass Bündnisverteidigung wieder im Mittelpunkt stehen muss und dass das Sondervermögen des Bundes der Wiederherstellung der Verteidigungsfähigkeit dienen solle. Sie erklärte auch, dass die USA angesichts ihrer asiatischen Verpflichtungen die Verteidigung Europas nicht mehr in dem Maße sicherstellen könnten, wie es in vergangenen Zeiten üblich war.“ Das Problem ist nur: Federführend bei der Erarbeitung einer Nationalen Sicherheitsstrategie ist nicht das Verteidigungsministerium, sondern das Auswärtige Amt – ausgerechnet das Ministerium, in dem nach Einschätzung von Wissenschaftler Krause seit 25 Jahren aus ideologischen Gründen falsche Außen- und Sicherheitspolitik gemacht worden ist. Foto: DBwV/Yann Bombeke

15.11.2022
Von Dr. Joachim Krause

Ein Sicherheitsrat wäre das Ende der strategischen Blindheit

An keiner deutschen Universität gibt es einen Lehrstuhl für strategische Studien, dafür jede Menge Friedensforschung, die die deutsche Außenpolitik der vergangenen 25 Jahre maßgeblich und ideologisch geprägt hat. Professor Joachim Krause hofft, dass der Bund endlich auch strategische Forschung fördert und einen nationalen Sicherheitsrat einrichtet.

Der große Königsberger Philosoph Immanuel Kant hat 1783 geschrieben, dass Aufklärung der „Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“ sei. Die deutsche Außenpolitik der vergangenen 25 Jahre war so eine Art selbstverschuldeter Unmündigkeit, oder besser gesagt: Sie war gekennzeichnet durch strategische Blindheit. In dieser Zeit wurde entgegen dem Rat von Experten, Freunden und Verbündeten mit großer Unbeirrtheit eine ideologisch angeleitete Politik gegenüber Russland verfolgt, die strategischen Verstand vermissen ließ.

Das Gleiche galt für die Energiepolitik, die panikgesteuert und ideologisch ausgerichtet war und uns in eine gefährliche Abhängigkeit von Russland gebracht hat. Diese Fehler müssen wir nun mit extrem hohen Preisen für Gas, Kohle, Strom und Öl bezahlen und die deutsche Wirtschaft wird voraussichtlich in eine Rezession übergehen. In diesen Jahren wurde auch die Bundeswehr vollständig vernachlässigt und Bündnispolitik klein geschrieben, beziehungsweise Bündnispolitik bestand vornehmlich darin, sich durch Kritik an den USA hervorzutun, aber ansonsten nur kleine Beiträge zur Bündnissolidarität zu leisten. Die Interessen und Anliegen unserer östlichen Bündnispartner wurden weitgehend ignoriert.

In der Hauptsache war deutsche Sicherheitspolitik durch ein friedenspolitisches Erweckungsbewusstsein gekennzeichnet. Alles Militärische war falsch, politische Probleme, so die frühere Bundeskanzlerin, könne man nicht mit Militär lösen, nur mit Diplomatie. Hinweise auf das wachsende Militärpotenzial Russlands wurden als Kalte-Kriegs-Mentalität abgetan und mit dem Hinweis gekontert, man werde schon diplomatische Wege finden, um den Frieden zu sichern.

Als sich 2014 abzeichnete, dass Russland die Konfrontation mit dem Westen sucht, wurde dies von der Bundesregierung ignoriert. Stattdessen wurde eine zweite Nord Stream-Pipeline als angeblich kommerzielles Projekt aufgelegt, die der Ukraine jedoch heftig schadete und von praktisch allen Verbündeten abgelehnt wurde. Der Ukraine wurden deutsche Waffen zur Verteidigung mit dem Hinweis verweigert, dass in der Region schon genügend Waffen wären. Bemühungen innerhalb der NATO zur Verbesserung der Verteidigungsfähigkeit der baltischen Staaten wurden von der Bundesregierung nur halbherzig umgesetzt.

Die Bundeswehr blieb unfähig, wesentliche Beiträge zur Bündnisverteidigung zu leisten. Die versprochene Erhöhung des Anteils der Verteidigungsausgaben am Bruttosozialprodukt blieb aus. Stattdessen belehrten deutsche Politikerinnen und Politiker jeden, der es hören wollte, über die Segnungen von Rüstungskontrolle und Abrüstung. Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine wäre bei einer strategisch aufgeklärten und die Risiken einbeziehenden deutschen Politik vermutlich nicht geschehen. Heute ringt die deutsche Politik verzweifelt darum, wie dieser Krieg beendet werden kann.

Enttäuschung: Kein kritischer Blick auf die Fehler der Vergangenheit!

Die Bundesregierung arbeitet derzeit an einer nationalen Sicherheitsstrategie. Wer erwartet hat, dass aus einem kritischen Blick auf die Fehler der Vergangenheit ein strategisch aufgeklärter Ansatz zur Benennung und Systematisierung von Herausforderungen erfolgt, der wird enttäuscht. Die Federführung liegt beim Auswärtigen Amt und damit bei jener Institution, die in den vergangenen 25 Jahren die größten Fehler deutscher Außenpolitik zu verantworten hatte. Zwar sprach Außenministerin Annalena Baerbock mit Blick auf Russland von der Notwendigkeit eines Neuanfangs und der Berücksichtigung militärischer Bedrohungen. Aber wenn man sich ihre Rede vom März 2022 anschaut, in der sie die Grundlagen der neuen Sicherheitsstrategie vorstellte, dann landet man doch wieder bei wohlklingenden Worthülsen.

Sicherheit, so die Ministerin, setze sich aus drei essenziellen Elementen zusammen: (1) Die Unverletzlichkeit unseres Lebens, wie der Schutz vor Krieg und Gewalt, vor akuter, konkreter Bedrohung, (2) die Notwendigkeit, die Freiheit unseres Lebens zu schützen und (3) die Sicherheit der Grundlagen unseres Lebens. Das ist sehr tief philosophisch gedacht. Eine Auseinandersetzung mit strategischen Entwicklungen, Herausforderungen und Optionen ist das nicht.

Das Auswärtige Amt hat in diesem Sinne einen Prozess der Meinungsbildung initiiert, an dem auch normale Bürgerinnen und Bürger partizipieren können. Ebenfalls wurde auch die Wissenschaft einbezogen. Auffallend war, dass dabei Instituten der Friedensforschung eine große Rolle zukam. Das sind ausgerechnet jene Institute, die in den vergangenen 25 Jahren den ideologischen Überbau für die oben skizzierten Irrwege deutscher Russland-, Bündnis- und Energiepolitik geliefert hatten. Vertreter der strategischen Wissenschaften blieben draußen vor. Ob daraus eine nationale Sicherheitsstrategie wird, bleibt zweifelhaft. Wenn es gut wird, dann führt dieser Prozess zu einer notwendigen kritischen Selbstreflexion bei der überwiegend friedensbewegten Anhängerschaft von Grünen und SPD, die von diesen Parteien über Jahrzehnte durch eine ideologische Melange von Antimilitarismus und idealisierter Ostpolitik in Unmündigkeit versetzt worden waren.

Der Hort der Hoffnung: das Bundesverteidigungsministerium

Mehr Hoffnung ist auf Beiträge des Verteidigungsministeriums zu setzen. Die Verteidigungsministerin hat in ihrer Rede vor der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik am 12. September 2022 einige wichtige Punkte gemacht. Sie verwies darauf, dass Bündnisverteidigung wieder im Mittelpunkt stehen muss und dass das Sondervermögen des Bundes der Wiederherstellung der Verteidigungsfähigkeit dienen solle. Sie erklärte auch, dass die USA angesichts ihrer asiatischen Verpflichtungen die Verteidigung Europas nicht mehr in dem Maße sicherstellen könnten, wie es in vergangenen Zeiten üblich war. Aber zur nuklearen Abschreckung durch die USA gäbe es aus europäischer Sicht keine Alternative. Daher gelte: Europa müsse die USA entlasten und Europa müsse mehr für seine Verteidigung tun. Ansonsten werde man sich am neuen strategischen Konzept der NATO sowie am strategischen Kompass der EU orientieren.

Die atlantische und europäische Orientierung der deutschen Sicherheitspolitik sind tatsächlich wichtige Grundpfeiler, die man nicht so vernachlässigen kann wie in den vergangenen Jahrzehnten. Insofern ist die beste deutsche nationale Sicherheitsstrategie, wenn sich Berlin an das hält, was im Bündnis vereinbart worden ist, und wenn man alles tut, um sicherzustellen, dass Europa eine eigenständige Säule in der NATO bildet. In diesem Zusammenhang wies die Ministerin völlig zu Recht darauf hin, dass die deutsche Rüstungsexportpolitik ein massives Hindernis für engere und effektivere Kooperation im Rüstungssektor sei.

Erheblicher Reformbedarf beim BND und im Auswärtigem Amt

Wichtig ist die Überwindung der strategischen Blindheit der Vergangenheit. Wenn der Prozess hilft, hier Fortschritte zu machen, dann ist das gut so. Viel entscheidender sind aber Fortschritte in den folgenden Bereichen: Es muss eine Institution geschaffen werden, die die strategische Lage Deutschlands und seiner Verbündeten in einer Vielzahl von Feldern im Auge behält und nicht parteipolitischem Druck ausgesetzt ist, sondern professionell arbeitet und auch wahrgenommen wird. In ihr müssten Experten aus den Ministerien, dem Bundesnachrichtendienst sowie unabhängige Experten zusammenarbeiten und regelmäßig im Kabinett vortragen (im Sinne einer Lage-Analyse). Vorbild wäre der Nationale Sicherheitsrat der USA, den man an die Bedingungen eines parlamentarischen Regierungssystems anpassen muss. Entscheidend ist, dass ein strategisches Zentrum deutscher Außenpolitik entsteht, welches im Austausch mit vergleichbaren Einrichtungen des Auslands steht.

Die Instrumente deutscher Außen- und Sicherheitspolitik müssen geschärft werden. Die Bundeswehr ist gerade dabei, wieder einsatzfähig zu werden. Wenn es stimmen sollte, dass der Bundesnachrichtendienst bis zum 24. Februar 2022 davon ausging, ein Angriff Russlands auf die Ukraine sei unwahrscheinlich, und bis zum September 2022 die Politik darüber informiert hat, dass Russland weiterhin die militärische Initiative im Ukrainekrieg innehabe, dann besteht dort ein erheblicher Reformbedarf. Aber auch das Auswärtige Amt bedarf nach einem Vierteljahrhundert der Ausrichtung an ideologisch geformten friedenspolitischen Grundsätzen der Wiederbesinnung auf das, was eine klassische, professionelle Diplomatie ausmacht. Es sollte vor allem im atlantischen und europäischen Rahmen den Schwerpunkt setzen und sich nicht mehr in einem kleinteiligen globalen Multilateralismus verlieren.

Es muss etwas dafür getan werden, dass das Bewusstsein für strategische Zusammenhänge in den deutschen Parteien und den Medien gestärkt wird. Weder in der SPD noch in der Union oder in der FDP hat es bislang eine kritische Auseinandersetzung über die Fehler der Vergangenheit (und insbesondere über die Personen, die dafür verantwortlich waren) gegeben. Überall hört man nur, man sei von Putin getäuscht worden. Das ist nicht genug, denn es waren die eigenen Ideologien und Fehlannahmen, die dazu geführt haben, dass man so leicht getäuscht werden konnte. Die Grünen sind dort lernfähiger. Bei AfD und LINKE ist die Lage hoffnungslos. Wenn man die derzeitigen Mediendebatten zum Ukrainekrieg anschaut, dann fällt das geringe Maß an strategischem Hintergrundwissen bei den meisten deutschen Journalisten und Journalistinnen und vor allem bei Talkshowmastern auf.

Es muss auch etwas dafür getan werden, dass im deutschen Bildungswesen wieder strategisch gedacht werden darf. Es gibt keinen Lehrstuhl für strategische Studien an einer deutschen Universität, dafür jede Menge Lehrstühle und Studiengänge für Friedensforschung, an denen weitgehend diejenigen Ideologien weiter vermittelt werden, die 25 Jahre die deutsche Außenpolitik geleitet hatten. Es gibt eine millionenschwere Forschungsförderung des Bundes für Friedensforschung, aber keinen einzigen Topf für strategische Forschung.

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