Das Bildungswerk des DBwV hat im Jahr 2021 unter anderem ehemalige Kommandeure des PRT Kundus zu einer Klausurtagung eingeladen. Foto: DBwV/Bombeke

27.12.2021
Oliver Krause

Evaluierung des Afghanistan-Engagements: Ernst meint es nur die Bundeswehr

Immer wieder wurde im Deutschen Bundestag die Forderung nach einer Evaluation des Einsatzes am Hindukusch erhoben. Die eigene Rolle hat das Parlament dabei aber ausgeklammert.

Lange hat sich die Politik in Deutschland davor gedrückt, eine offizielle Evaluation des deutschen Engagements in Afghanistan zuzulassen. Das BMVg hat schließlich Anfang Oktober unter dem Titel „Zwanzig Jahre Afghanistan – Startschuss für eine Bilanzdebatte“ den Anfang gemacht. Kein Zweifel: Der Wille zur kritischen Auseinandersetzung mit dem eigenen Handeln und Nichthandeln ist mit Blick auf Afghanistan in der Bundeswehr am größten. Eine vergleichbare Identifikation mit dem Einsatz gibt es in keinem anderen der beteiligten Ressorts. Auch der Bundestag selbst ging nicht mit gutem Beispiel voran. Zwar wurde im Parlament immer wieder die Forderung nach einer Evaluation erhoben, die eigene Rolle wurde dabei aber ausgeklammert. Im Fokus stand die Exekutive und dort insbesondere das BMVg und die Bundeswehr. Obwohl die Bundeswehr nie müde wurde zu betonen, dass sie beziehungsweise Militär allein den Einsatz nicht zum Erfolg bringen könnte, blieb Deutschlands Engagement am Hindukusch in der öffentlichen Wahrnehmung vornehmlich ein militärisches. Daran ändert auch das Mantra der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik nichts, wonach Kriege und Konflikte nur politisch – also nicht militärisch – gelöst werden können.

Hervorragenden Job gemacht
Es ist daher keine Überraschung, dass die Bundeswehr weiterhin im Fokus steht, wenn es um die Aufarbeitung des Einsatzes als Ganzes geht. So soll laut Koalitionsvertragsentwurf die Evakuierungsmission in einem parlamentarischen Untersuchungsausschuss untersucht werden. „Zudem wollen wir den Gesamteinsatz in einer Enquete mit wissenschaftlicher Expertise evaluieren“, versprechen SPD, Grüne und FDP. Der Bundeswehr kommt dabei sicherlich zugute, dass ihre Soldatinnen und Soldaten trotz aller („typisch deutschen“) Widrigkeiten einen hervorragenden Job gemacht haben.

Man darf beispielsweise daran erinnern, dass die Lücke zwischen Zielsetzung und vorhandenen Mitteln von Beginn an eklatant war. Zwar hatten Auswärtiges Amt, Innen- und Entwicklungshilfeministerium ambitionierte Absichten für den „Wiederaufbau“. Allein, es fehlte am entsprechenden Personal vor Ort. Dass deutsche Polizisten sich freiwillig für den Einsatz melden mussten, stand beispielsweise einer umfassenden Sicherheitssektorenreform entgegen. Umgekehrt kam die schiere Größe Afghanistans erschwerend hinzu; es ist beinahe doppelt so groß wie Deutschland. Eine Präsenz in der Fläche, wie es die Bundeswehr von Beginn an leisten sollte (viel konkreter war ihr Auftrag damals nicht), war angesichts der kleinen Kontingente nicht möglich – zumal die politische Vorgabe aus Berlin, dass bloß nichts „passieren“ sollte, ein selbstbewusstes Vorgehen der Truppe von vornherein unterband. Selbst bei der Entwaffnung der Taliban durfte die Bundeswehr die frisch aufgestellten afghanischen Sicherheitskräfte nur unterstützen. Gleichzeitig konnte den Bauern Afghanistans nie eine attraktive Alternative zum Mohnanbau geboten werden.

Argwohn in anderen Ressorts
Dass die Truppe versuchte, die personelle Schwäche der anderen Ressorts mit dem eigenen größeren Kräfteansatz aufzufangen, brachte sie in eine schwierige Lage. Obwohl die Streitkräfte keine Führung beanspruchten, war der ohnehin vorhandene Argwohn der anderen Ressorts groß. Zu einer wirklichen Vernetzung der vielfältigen außen- und sicherheitspolitischen Instrumente, um ein gemeinsames Ziel zu erreichen, sollte es nie nachhaltig kommen.

Als sich die Sicherheitslage verschlechterte und die Bundeswehr mit allem, was sie hatte, täglich im Kampf stand, war an Wiederaufbau ohnehin nicht mehr zu denken. Das lag auch daran, dass die afghanische Armee (ANA), mit ihrer notorisch unzuverlässigen Führung, nicht in der Lage war, einmal befreite Räume zu halten. Eng und kameradschaftlich war hingegen die Zusammenarbeit mit den amerikanischen Verbündeten, die oftmals auch ein besseres Lagebild als die Bundeswehr besaßen, insbesondere auf der taktischen Ebene.

Dass sich die Bundeswehr in Afghanistan und dort insbesondere in Kundus im Krieg befand, wollte in Deutschland und dem politischen Berlin bekanntermaßen gleichwohl niemand so richtig wahrhaben. Selbst innerhalb der Bundeswehr gab es teilweise eine andere Wahrnehmung des Einsatzes. Es brauchte am Ende die Bundesanwaltschaft, die nach dem Luftangriff von Kundus feststellte, dass sich Deutschland in einem nicht internationalen bewaffneten Konflikt befindet, also einem Bürgerkrieg. Strukturell blieb die Bundeswehr dennoch im Friedenszustand, im Einsatz galt beispielsweise weiterhin die Pflicht zur Abgasuntersuchung nach deutschem Recht. Dass die Bundeskanzlerin die Befehls- und Kommandogewalt für sich hätte reklamieren können, ist hierzulade ein geradezu absurder Gedanke.

Wichtige Frage wurde verdrängt
Rückblickend war wohl die Afghanistan-Konferenz in London 2010 der Wendepunkt des Engagements. Die internationale Gemeinschaft beschloss zwar, die Truppe aufzustocken, aber auch die schrittweise Übergabe der Verantwortung an die Afghanen wurde vorempfunden. Die Frage, ob Afghanistan überhaupt für seine eigene Sicherheit sorgen kann, wurde verdrängt. Dabei konnte jeder wissen, wie es um die Leistungsfähigkeit des Sicherheitsapparats bestellt war. In diesem Sinne hätte die schnelle Machtübernahme der Taliban vor wenigen Monaten eigentlich niemanden überraschen dürfen. In den letzten zwei Jahren hat die afghanische Armee ohne US-Unterstützung keine Operation erfolgreich beendet. Bereits ab 2005 hatten sich wohlhabende Afghanen, die Elite des Staates, in den umliegenden Ländern Rückzugsmöglichkeiten geschaffen. Dass „einfache“ Soldaten und Polizisten einer solchen Elite die Gefolgschaft verweigern, dürfte nicht verwundern. Hinzu kommt, dass viele der Provinzkommandeure korrumpiert wurden, sodass sie keinen Widerstand leisteten, als die „Mopedbande mit Kalaschnikows“ (General a.D. Domröse) anrückte.

Zurück zum Vorhaben der Ampel: Ob ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss und eine Enquete tatsächlich fundierte Ergebnisse oder zumindest Quellen, auf die die historische Forschung aufbauen kann, zutage fördern werden, ist fraglich. Insbesondere Ersteres ist im Kern ein politisches, kein wissenschaftliches Instrument. So richtig die offizielle Evaluierung des Engagements grundsätzlich ist, sie entbindet den Rest der Gesellschaft nicht von der eigenen Verantwortung. Dessen ist sich auch der DBwV bewusst, der eben nicht nur fordert, sondern auch einen eigenen Beitrag leistet.

Veranstaltungen des Bildungswerkes
Ende Mai hatte das Bildungswerk des DBwV bereits eine pandemiebedingt rein digitale, prominent besetzte Diskussionsveranstaltung zu Afghanistan ausgerichtet: Gesprochen und diskutiert haben unter anderem der Generalinspekteur, General Eberhard Zorn, der Abteilungsleiter SE, Generalleutnant Bernd Schütt, Prof. Sönke Neitzel, der ehemalige Wehrbeauftragte, Dr. Hans-Peter Bartels, aber eben auch Veteranen wie Einsatzversehrte und der Bundesvorsitzende. Außerdem hat das Bildungswerk kürzlich ehemalige Kommandeure des PRT Kundus zu einer Klausurtagung eingeladen. Die Veranstaltung fand auf Initiative von Prof. Sönke Neitzel von der Universität Potsdam statt, der mit dem Bundesvorsitzenden die Tagung leitete. Am Beispiel des Provincial Reconstruction Teams Kundus zeigt sich wie unter einem Brennglas die Geschichte des deutschen Einsatzes in Afghanistan. Kurzum: Wer evaluieren will, der findet ein Format.

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