Blick auf die Zentrale des Bundesnachrichtendienstes (BND) in der Berliner Chausseestraße. Foto: picture alliance / ZB/euroluftbild.de | euroluftbild.de/Robert Grahn

01.04.2023
Von Oliver Krause

Not bricht Eisen: Deutschlands bekanntester BND-Agent packt aus

Die DBwV-Redaktion trifft Gerhard Conrad: Im Interview spricht der frühere Agent des Bundesnachrichtendienstes (BND) über die Nationale Sicherheitsstrategie, den BND in der Zeitenwende, Terrorabwehr und Doppelagenten.

Herr Dr. Conrad, statt sich im Angesicht eines Kriegs in Europa auf eine Nationale Sicherheitsstrategie zu verständigen, streiten die Ressorts. Was muss denn noch passieren, damit die Bundesregierung ihre Hausaufgaben macht?

Gerhard Conrad: Eine Nationale Sicherheitsstrategie ist eine gesamtstaatliche Aufgabe, da sie ja alle Dimensionen von Sicherheit umfassen soll. Hierzu zählen neben der äußeren und inneren Sicherheit auch die Bereiche Resilienz, Versorgung, Gesundheit, Klimafolgen, Gefährdungen aus dem Finanzmarkt, weltwirtschaftliche Risiken, sobald sie existenzielle Konsequenzen für die Sicherheit Deutschlands haben. So müsste sie von den zuständigen Fachministerien auch verstanden – und organisiert – werden. Das kann nur unter der Federführung des Bundeskanzleramts gelingen. Sachlogisch brauchen wir also als erstes einen persönlichen Beauftragten des Bundeskanzlers für eine wirksame Koordinierung der Erarbeitung unserer Sicherheitsstrategie. Daraus sollte sich dann ein ressortübergreifendes Zentrum für Lagefeststellung, Lagebeurteilung und Entscheidungsvorbereitung, letztlich ein Nationaler Sicherheitsrat entwickeln.

Es kommt also auf den Kanzler an? Muss er ein Machtwort sprechen?

Das ist gar nicht so einfach. Alle Koalitionäre müssen ihre partei- und ressortpolitischen Erwägungen und Selbstbehauptungsansprüche hintanstellen und ihrer staatspolitischen Verantwortung gerecht werden. Ein „Machtwort“ kann der Bundeskanzler letztlich nur dann wirksam sprechen, wenn die Parteien, die seine Koalition tragen, dieses auch akzeptieren.

Zum BND selbst: Nehmen Sie ein Jahr nach der „Zeitenwende“ wahr, dass sich der Blick auf den Dienst im politischen Berlin verändert hat?

Durchaus, aber jedenfalls nicht in erforderlichem Maße in der öffentlichen Wahrnehmung. Was wir hören, ist allerdings, dass der Dienst von der Bundesregierung unmittelbar und in großem Maße in Anspruch genommen wird. Präsident Bruno Kahl hat sozusagen eine direkte Vortragspflicht beim Kanzler, bei der Innen- oder der Außenministerin. Das hat es so nur selten gegeben.

Der BND ist also – anders als die Bundeswehr – noch vollumfänglich einsatzbereit?

Im Frieden hat die Bundeswehr Zeit, sich auf den Ernstfall vorzubereiten. Sie beschafft, übt, bildet aus, lernt, reformiert und so weiter. Der BND ist mit seinem Aufklärungsauftrag immer im Einsatz und insofern ist die politische Anforderung an seine unmittelbare Funktionalität höher.

Ein hochrangiger Mitarbeiter soll aber Staatsgeheimnisse an Russland verraten haben. Ist der Dienst angeschlagen? Sollte man von seiner Stärkung absehen, bis er sich neu aufgestellt hat?

Wir dürfen das Kind nicht mit dem Bade ausschütten! Nach allem, was bisher öffentlich bekannt ist, handelt es sich im Wesentlichen um einen Mitarbeiter, der sich eigeninitiativ angeboten hat. Er wurde also nicht gezielt von russischer Seite im Rahmen einer Operation identifiziert, geforscht und angeworben. Es ist zunächst einmal ein Sicherheitsfall, kein Spionagefall. Der Beschuldigte hat offenbar in einem sehr begrenzten Zeitraum zwei Materialpakete über einen Mittelsmann übergeben lassen, der seinerseits erst den eigenen Kontakt zu einem russischen Dienst in Moskau arrangieren musste. Dafür hat der Mitarbeiter dann einen unverhältnismäßig hohen Geldbetrag erhalten, was dafürspricht, dass ihn der FSB für weitere Aktionen an sich binden wollte. Dazu ist es dankenswerterweise nicht mehr gekommen. Es gab bekanntlich den Hinweis eines befreundeten Diensts, sodass der Verratsfall aufflog. Im Übrigen braucht der BND kurzfristig vermutlich gar nicht viel mehr Geld, eine große Zahl an Stellen ist zurzeit noch gar nicht besetzt. Erst in den nächsten Jahren stehen erhebliche Investitionen in Personal und Material an, gerade auch angesichts der technologischen Revolutionen durch KI sowie Quantum Computing und hervorgerufen durch einen demografisch bedingten Exodus von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, den es durch fachlich hoch qualifiziertes Personal zu kompensieren gilt.

Auch im Bereich der Terrorabwehr sind es häufig ausländische Dienste, die den entscheidenden Tipp geben. Was sagt das über unsere Leistungsfähigkeit aus?

Für sich genommen erst einmal nicht allzu viel. Jeder dieser Fälle ist genau zu analysieren; es muss festgestellt werden, wie genau der befreundete Dienst an die Information gelangt ist. Wenn sie ein Ergebnis der Fernmeldeaufklärung war, muss die Frage lauten: Hätten wir Deutsche die Information mit Blick auf unsere rechtlichen Grundlagen, globale technische Aufstellung und hochauflösende analytische Kapazität ebenfalls gewinnen können? Im Zweifel wohl eher nicht, aber für eine abschließende Antwort ist es noch zu früh. Auf der anderen Seite müssen wir alle in vielen Fällen auf die Kooperation der jeweils befreundeten Dienste vertrauen. Die Cyber-Welt ist selbst für die amerikanische NSA zu groß.

Müssen wir mit weiteren Doppelagenten rechnen?

Nochmal: Carsten L. war kein klassischer Doppelagent, kein „Maulwurf“, er hätte allerdings bei ungehinderter Fortsetzung seines begonnenen Verrats, dann auch in neuer Position, auf die Dauer einer werden können. Er war kein Heinz Felfe und keine Gabriele Gast. Eine Unterwanderung des Dienstes lässt sich aus dem Fall nicht ableiten. Ein Fall ist kein Fall. Wie bei Vorkommnissen in der Bundeswehr und der Polizei darf nicht vom Einzelfall auf die gesamte Organisation und ihre Angehörigen geschlossen werden. Das ist unverhältnismäßig. Trotzdem muss die Frage geklärt werden, wie L. sich vom Dienst – und letztlich der Bundesrepublik Deutschland – so weit entfremden und unerkannt die durchaus beträchtliche kriminelle Energie zur Verübung der Tat akkumulieren konnte.

Ist das Vertrauen befreundeter Dienste in den BND erschüttert?

Wohl eher nicht. Das wäre nur dann der Fall, wenn der BND möglicherweise betroffene Dienste nicht informieren würde und damit den Eindruck zuließe, er wolle etwas vertuschen. Ein Verratsrisiko ist auch bei anderen Diensten grundsätzlich gegeben. Man ist da gut beraten, nicht mit Steinen aus dem Glashaus zu werfen, sondern auf gemeinsame Schadensbegrenzung zu setzen.
 
Was können Sie über den entstandenen Schaden sagen?

Diese Frage ist von außen schwer zu beantworten. Bemerkenswert ist jedenfalls, dass Carsten L. nicht nur wegen Geheimnisverrat, sondern wegen schweren Landesverrats in Untersuchungshaft sitzt. Das heißt, der Schaden dürfte wohl beträchtlich sein. Es scheint aber kein Material von anderen Diensten involviert zu sein, was sonst vor allem ein „dienstpolitisches“ Problem wäre. Es sollen jedoch dem Vernehmen nach Unterlagen sein, die Aufschluss darüber geben, welche Fähigkeiten der BND zur Fernmeldeaufklärung hat. Die russische Reaktion darauf können Sie sich ausmalen: Man wird dort jedenfalls versuchen, sich dem Zugriff der deutschen Sensoren zu entziehen. Die Frage ist aber, ob das so einfach gelingt.

Bleiben wir bei der Leistungsfähigkeit: Sie beklagen einen zu bürokratischen Ansatz im Dienst. Prozesstreue zähle mehr als ein lageadäquates Aufklärungsergebnis. Ursache für diese institutionelle Vorsicht ist aber politisches Misstrauen.

Im Grunde ist diese Haltung der – falschen – Vorstellung geschuldet, dass keine harten Sicherheitsinteressen gefährdet sind und es damit unverhältnismäßig sei, Risiken einzugehen. Wenn kein Menschenleben auf dem Spiel steht, sind Politiker sehr zurückhaltend im Einsatz nachrichtendienstlicher Mittel. Anderes Beispiel: Denken Sie an die in Rekordzeit gebauten LNG-Terminals, das neue „Deutschlandtempo“, auf das alle so stolz sind. Absolute Priorität hatte hier das Ergebnis, nicht der Prozess, weil die Energieversorgung gefährdet war. Not bricht bekanntlich Eisen! Wenn sich ein Staat existenziell bedroht sieht oder es sogar ist, kommt er zu anderen Ergebnissen in der Güterabwägung. Israel ist existenziell bedroht, weshalb der Mossad extralegale Tötungen durchführt. Russland sieht sich existenziell bedroht, weshalb der GRU im Tiergarten einen Mordanschlag verübt hat. Beides lässt sich natürlich nicht auf Deutschland übertragen. Das ist klar. Gleichwohl wird man angesichts der inzwischen nicht mehr abzuleugnenden neuen Qualität der sicherheitspolitischen Herausforderungen um eine Überprüfung der bisherigen Verhältnismäßigkeitserwägungen nicht mehr herumkommen können.

Nun müsste die Bundesrepublik nicht „russischer“ werden, sie könnte aber „britischer“ oder „französischer“ werden. In London und Paris gibt es sehr wohl ein Verständnis dafür, dass ein Nachrichtendienst auch Risiken eingehen müsse. In Berlin sucht man diese Einsicht immer noch vergebens.

Viele Politiker haben die Krise, in der wir uns befinden, zwar intellektuell verstanden, akzeptieren sie aber letztlich nicht als „fact of life“, und schon gar nicht über ein mögliches Ende des Konflikts in der Ukraine hinaus. Noch immer gibt es die Suche nach einem Ausweg, damit man sich der existenziellen Herausforderung von Krise, Konflikt und Krieg nicht stellen muss. Selektive Wahrnehmung und Verdrängung sind verbreitete menschliche Verhaltensweisen, die politische Entscheidungsprozesse beeinflussen. Deshalb brauchen wir einen gesellschaftlichen Lernprozess. Politiker agieren nicht im luftleeren Raum, sie möchten wiedergewählt werden. Es ist unerheblich, wie sachlich berechtigt ihr Ansinnen ist, wenn es gesellschaftlich nicht getragen wird, zahlen sie am Ende die Zeche mit Zins und Zinseszins. Denken Sie an Helmut Schmidt und den NATO-Doppelbeschluss, denken Sie an Gerhard Schröder und die Agenda-2010. Beide hatten in der Sache Recht, haben aber mit ihrer Kanzlerschaft dafür bezahlt.

Wo müsste der BND denn besser werden?

Was ich sagen kann, ist, dass sich der Dienst den neuen Herausforderungen stellen muss. Die größte hat dabei in erster Linie gar nichts mit Russland oder China zu tun, obwohl beide ganz maßgeblich unsere Lage in den kommenden Jahrzehnten bestimmen werden. Sie lautet Demografie und technologische Revolution. Der ganze öffentliche Dienst – und so in besonderem Maße auch die Nachrichtendienste – wird neue Wege gehen müssen, damit die klügsten Köpfe in ausreichender Zahl zu ihm kommen. Hierfür wird er willens und in der Lage sein müssen, verwaltungsrechtliche Strukturen und budgetäre Rahmenbedingungen im Interesse von Leistungs- und Zukunftsfähigkeit zu überprüfen.

Andernfalls zahlen wir mit unserer Sicherheit.

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