Das BMVg gab den Startschuss für die Aufarbeitung des Afghanistan-Einsatzes - es gilt, die richtigen Schlüsse und Lehren für aktuelle und künftige Einsätze der Bundeswehr zu ziehen. Foto: Bundeswehr/Tom Twardy

Das BMVg gab den Startschuss für die Aufarbeitung des Afghanistan-Einsatzes - es gilt, die richtigen Schlüsse und Lehren für aktuelle und künftige Einsätze der Bundeswehr zu ziehen. Foto: Bundeswehr/Tom Twardy

06.10.2021
Von Yann Bombeke ud Franziska Kelch

Startschuss zur Afghanistan-Aufarbeitung: „Eine Chance für Politik, verlorenes Vertrauen zurückzugewinnen“

Eine fundierte Evaluierung des Afghanistan-Einsatzes ist zwingend notwendig – daran zweifelt wohl niemand ernsthaft. Und doch gab es im Vorfeld der Auftaktveranstaltung des BMVg viel Wirbel. So fiel der ursprünglich geplante Programmpunkt zur Parlamentsarmee aus – Verteidigungspolitiker fast aller im Bundestag vertretenen Parteien sagten ihre Teilnahme ab. Zu nah sei der Zeitpunkt der Veranstaltung an den Bundestagswahlen. Auch Außenminister Heiko Maas sagte kurzfristig ab. Dennoch fiel heute der Startschuss zur Bilanzierung. Als gefragter Experte dabei: Der DBwV-Bundesvorsitzende Oberstleutnant André Wüstner.

Die Verteidigungsministerin begründete gleich in ihrem Eingangsstatement, warum sie an der Durchführung der Bilanz-Veranstaltung festgehalten hat: Es sei wichtig, so die Ministerin, den Einsatz nicht nur in der Bundeswehr und im Verteidigungsministerium, „sondern in der ganzen Breite in Deutschland“ aufzuarbeiten. Und weiter: „Es ist besonders wichtig aufzuarbeiten für die, die jetzt im Einsatz sind an anderer Stelle in der Welt und die in Zukunft in den Einsatz gehen werden und die darauf vertrauen müssen, dass wir unsere Lehren aus Afghanistan ziehen.“ Zudem sei es wichtig, die Debatte an diesem Tag zu starten, vor dem großen mit militärischen Ehren zelebrierten Abschluss in der kommenden Woche. „Diese Ehrung in der nächsten Woche sollte nicht im Verdacht stehen, man wolle eine besonders glanzvolle Decke über den Afghanistan-Einsatz legen, um eben eine ehrliche Debatte um Folgen und Lehren aus Afghanistan zu verhindern.“

Generalinspekteur Eberhard Zorn nannte das Ende von Resolute Support „eine Zäsur“ für die Bundeswehr. „Rund 93.000 Soldatinnen und Soldaten haben in Afghanistan gedient, 59 Kameraden sind dort gefallen oder verstorben und viele sind mit Verwundungen an Leib und Seele nach Deutschland zurückgekehrt.“ Für viele Afghanistan-Veteranen und deren Angehörige stelle sich nun wieder die Frage nach dem Sinn des Einsatzes. „Unsere Bilanzierung und Evaluation muss am Ende die Frage nach dem Sinn des gesamten Einsatzes umfassend beantworten.“

Nach einem per Video eingespielten Statement von Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg, der den deutschen Soldatinnen und Soldaten des Afghanistan-Einsatzes dankte und ihre Professionalität würdigte, wurde im ersten Panel über die Auswirkungen des Einsatzes auf die Bundeswehr diskutiert.

In dieser Runde war der DBwV-Bundesvorsitzende Oberstleutnant André Wüstner gern gesehener Experte. Wüstner betonte, dass das Thema den DBwV schon viele Jahre beschäftige. „Wir haben viele vergleichbare Veranstaltungen durchgeführt, um immer wieder zu reflektieren – auch schon während des laufenden Einsatzes.“ Der Bundesvorsitzende begrüßte es, dass nun der Startschuss für die Aufarbeitung des Einsatzes gefallen sei. Zwar habe es anfangs die sogenannten Fortschrittsberichte gegeben, später die Zwischenberichte, doch keine klassische Aufarbeitung während des laufenden Einsatzes. Wüstner betonte: „Viele Soldatinnen und Soldaten, vom Hauptgefreiten bis zum General, haben schon den Unterschied beschrieben, bezogen auf die Berichte, die man militärisch abgegeben hat, und dem, was politisch daraus gemacht wurde.“ Dies gelte es ehrlich aufzuarbeiten. Viele Mitglieder hätten ein großes Gap wahrgenommen zwischen den Dingen, die im Parlament kommuniziert wurden und den Dingen, die sie ursprünglich abgegeben hätten. „Es ist auch eine Chance für Politik, in diesem Aufarbeitungsprozess ein Stück verlorenes Vertrauen zurückzugewinnen“, sagte Wüstner.

Die Bundeswehr habe viel im Einsatz gelernt, sagte Wüstner, so habe es Fortschritte im Bereich der Ausstattung, des Mindsets oder im Umgang mit den Einsätzen gegeben. „Aber diese angeblich weiche Frage des Sinns darf man nicht weglassen, weil die bleibt elementar.“ Die Frage des Sinns stelle sich für viele Veteraninnen und Veteranen erst viel später, nach dem Ausscheiden aus dem aktiven Dienst. „Aber darauf gibt es wenige Antworten“, beklagte Wüstner.

An dieser Auftaktrunde waren auch die Brigadegenerale Jens Arlt, der die Evakuierungsmission in Kabul anführte, und Ansgar Meyer, bis zum Sommer letzter deutscher Kontingentführer in Afghanistan, beteiligt. Beide gingen auf die militärischen Aspekte ein. So sei für die Bundeswehr auch ein Technologietransfer erfolgt, erklärte Brigadegeneral Arlt und nannte das Beispiel Drohnen: So habe die Bundeswehr vorher nicht die Möglichkeit gehabt, Situationen aus der Luft zu beobachten. Brigadegeneral Meyer, der vor wenigen Tagen das Kommando über das KSK übernommen hat, hob die Flexibilität hervor, die sich die Bundeswehr in Afghanistan angeeignet habe. Die geordnete Rückverlegungsoperation der Bundeswehr Ende Juni sei das „militärisch komplexeste“, das er jemals getan habe, so Meyer.

Mit Oliver Wendel schilderte auch ein einsatzerfahrener Oberstabsfeldwebel seine Eindrücke. Der Kompaniefeldwebel der 1./Fallschirmjägerregiment 26 betonte, dass der Einsatz aus militärischer Sicht erfolgreich gewesen sei, die Missionen seien erfolgreich durchgeführt worden. „Ich bin ein entschiedener Gegner davon zu sagen, dass der Einsatz ein Desaster war“, sagte Wendel und appellierte, die gewonnenen schmerzhaften Erfahrungen des Einsatzes nicht zu vergessen: Für den Oberstabsfeldwebel ist trotz der aktuellen Fokussierung auf die Landes- und Bündnisverteidigung der Kampf gegen irreguläre Kräfte „die Königsdisziplin für die Infanterie“. Als positiv bewertete Wendel, dass er mit seinem Zug als geschlossene Einheit in den Einsatz gegangen sei. „Ich bin überzeugt, dass wir manche Gefechtssituation nur überstehen konnten, weil wir eine homogene Einheit waren“, sagte Wendel.

Der Historiker Sönke Neitzel hinterfragte kritisch, was man überhaupt von den Afghanen und ihrem Land verstanden habe. So seien die Kommandeure für vier bis sechs Monate im Land gewesen und wenn sie die Funktionsweise der afghanischen Sicherheitskräfte richtig verstanden hätten, hätten sie schon wieder das Land verlassen müssen. Neitzel lobte die begonnene Aufarbeitung des ZMSB – vom Auswärtigen Amt höre man hingegen nur wenig.

In einem weiteren Panel ging es um die Folgen des Einsatzes für Militär und Gesellschaft. Der ehemalige Wehrbeauftrage Reinhold Robbe monierte das Missverhältnis in der Wahrnehmung seitens Politik und Gesellschaft. So würden Mandate für Auslandseinsätze durch das Parlament oft mit breiter Mehrheit beschlossen oder verlängert, jedoch von weiten Teilen der Bevölkerung abgelehnt. „Es ist Aufgabe der Politik, daran etwas zu ändern“, sagte Robbe. Der frühere Bundestagsabgeordnete Winfried Nachtwei erklärte, dass es aus seiner Sicht in den ersten zehn Jahren eine intensive gesellschaftliche Debatte über den Afghanistan-Einsatz gegeben habe, aber  nach dem Ende von ISAF und dem Übergang zur Resolute Support eine „Afghanistan-Ermüdung“ eingetreten sei. Nachtwei vermisste auch die positiven Nachrichten vom Hindukusch: So seien Meldungen über etliche wichtige und erfolgreiche Aufbauprojekte von den Medien gar nicht erst aufgegriffen worden. Ähnlich argumentierte Generalleutnant a.D. Rainer Glatz. Auch für den ehemaligen Befehlshaber des Einsatzführungskommandos stand das „Militärische dominant in den Medien“. Dass zeitweise bis 1700 Nichtregierungsorganisationen in Afghanistan aktiv waren, sei kaum jemals erwähnt worden.


Glatz ging auch auf das Glaubwürdigkeitsproblem der Politik ein: Wenn Soldatinnen und Soldaten im Familien- und Freundeskreis erzählen, wie es in Afghanistan läuft und die Politik ein komplett anderes Bild vermittelt, entstehe ein „Riesenproblem“. Mehr Ehrlichkeit forderte auch Generalarzt Dr. Ralf Hoffmann: Der Beauftragte des BMVg für einsatzbedingte posttraumatische Belastungsstörungen und Einsatztraumatisierte wünscht sich eine klare Debatte zu den laufenden Einsätzen in der Politik, aber auch in der Gesellschaft. „Das wünschen sich die Soldatinnen und Soldaten“, so Hoffmann.

Im dritten und letzten Panel des Tages ging es um die Lehren aus dem Einsatz für den vernetzten Ansatz. Botschafter Dr. Jasper Wieck, Sonderbeauftragter der Bundesregierung für Afghanistan und Pakistan, hat sich der vernetzte Ansatz erst mit dem Afghanistan-Einsatz herausgebildet. Es sei dabei darum gegangen, „für die Menschen Perspektiven zu schaffen, so dass sie sich nicht dem Terrorismus und Dschihadismus zuwenden“. Mit dem Aufbau staatlicher Strukturen habe man es „zumindest in Inseln ziemlich weit gebracht“, so der Diplomat.

Auch für Botschafter a.D. Maurits R. Jochem, ehemaliger Nato Senior Civilian Representative in Afghanistan waren die politischen Ziele am Hindukusch nicht immer klar definiert. „Ein Fehler war, dass es nicht von Anfang an formelle Gespräche mit den Taliban gab, keine ausreichende politische Interaktion mit Pakistan und Iran, viele der Warlords wurden in ihren Positionen belassen. Und die Nato hat Korruption und Drogenhandel nicht ausreichend bekämpft. Und diese Elemente haben alle den Erfolg des Einsatzes behindert.“

In ihrem Fazit sagte die Verteidigungsministerin, dass der vernetzte Ansatz „ohne Alternative“ sei. „Für uns ist klar: Bundeswehr-Einsatz ist nie ein Einsatz um seiner selbst willen“, sagte Kramp-Karrenbauer. Die Bundeswehr schaffe Räume und Sicherheit, damit gesichert zivile Strukturen entstehen könnten, so die Ministerin. Allerdings müsse man den vernetzten Ansatz anders leben – dafür habe man bei dieser Auftaktveranstaltung viele wichtige Hinweise erhalten, was man für die Zukunft als „Lessons learned“ mitnehmen könne.

Ein große Herausforderung ist für Kramp-Karrenbauer das mehrfach angesprochene Vertrauensproblem zwischen Militär vor Ort und der Politik. Die Ministerin forderte für die Zukunft eine ehrliche Kommunikation „über die Ziele und über den Sinn unserer Einsätze“. Kramp-Karrenbauer weiter: „Wir müssen die Dinge klar und ehrlich miteinander kommunizieren.“ Die „Nagelprobe“, ob die Lektionen aus Afghanistan erlernt worden seien, würde sehr schnell auf uns zukommen, so die Ministerin. „Sie wird kommen in Form der Diskussionen rund um den Einsatz in der Sahel-Zone, insbesondere in Mali. Denn dort müssen wir die Sinnfrage beantworten, müssen wir die Ziele definieren und dort müssen wir festlegen, mit welchen Mitteln wir unsere Bundeswehr in Zukunft auch in den Einsatz schicken.“

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