Teil der Bündnisverpflichtungen: Deutsche Leopard-Panzer nehmen an einer Parade in Litauen teil. Foto: Bundeswehr/ Marco Dorow

Teil der Bündnisverpflichtungen: Deutsche Leopard-Panzer nehmen an einer Parade in Litauen teil. Foto: Bundeswehr/ Marco Dorow

07.04.2024
Von Philipp Kohlhöfer

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Die gegenseitige Beistandspflicht in Artikel 5 ist die größte Versicherung, die die NATO hat. Aber wie sicher ist die eigentlich?

Es ist das zweite Wochenende im März und ein normaler Fernsehabend in Russland. Eingeleitet wird diesmal mit „Paris brennt“, ein wenig Taurus- Geplänkel vorweg, um in Stimmung zu kommen, dann das Unpolitischste überhaupt, das Wetter. Der Meteorologe sagt: „Heute ist es ideal für Nuklearschläge gegen die Länder der NATO.“

Drei Tage zuvor wird Schweden das 32. Mitglied der Allianz. Die NATO ist attraktiv wie selten zuvor. Im Wesentlichen liegt das an Artikel 5 – der wiederum nur eine Chiffre ist für den nuklearen Schutzschirm.

Nur: Die NATO versteht sich zwar als „Nukleares Bündnis“, verfügt selbst aber über keine Atomwaffen – und ist abhängig von amerikanischen, britischen und französischen Waffen. Die Franzosen sind aber nach wie vor nicht Teil der nuklearen Planungsgruppe der NATO, weil Paris die vollständige Entscheidungsgewalt über sein Atomwaffenarsenal behalten will. Und was die USA und Großbritannien, aber auch die Deutschen und vor allem Wackelkandidaten wie Ungarn oder die Türkei wirklich einbringen, sollte es benötigt werden, ist eine ganz andere Frage.

Artikel 5 ist weich formuliert

Denn in Artikel 5 steht auch, dass die Alliierten Beistand leisten, in dem „jede (Partei) von ihnen unverzüglich für sich und im Zusammenwirken mit den anderen Parteien die Maßnahmen, einschließlich der Anwendung von Waffengewalt, trifft, die sie für erforderlich erachtet.“

Von Atomwaffen steht da nichts. Wenn ein Staat der Meinung ist, dass die einzige Kanone, die er für erforderlich erachtet, eine Gulaschkanone zur Truppenversorgung ist, dann ist das auch in Ordnung. Einen verbindlichen Anspruch auf militärischen Beistand gibt Artikel 5 deshalb nicht her. Was vor allem an den Amerikanern liegt: Der Kongress wollte sein Mitspracherecht über Krieg und Frieden nicht aus der Hand geben. Was für die USA gilt, gilt ähnlich auch für alle übrigen NATO-Demokratien – vor allem für die deutsche Parlamentsarmee. So ist das Schutzversprechen der NATO ein militärisches, wirken muss es politisch.

„Wenn Artikel 5 gezogen wird“, sagt PD Dr. Frank Sauer, Politologe und Senior Research Fellow an der Universität der Bundeswehr in München, „dann muss im Konsens entschieden werden.“ Unter Joe Biden scheint das kein Problem zu sein. Trump allerdings kann so auch die NATO demontieren, ohne sie zu verlassen. Sauer sagt: „Die übrigen NATO-Mitglieder können dann zwar aktiv werden, aber nicht in den Strukturen der NATO.“ Selbst wenn der Konsens hergestellt wäre, gelte, dass alles möglich sei. „In Deutschland wäre das die Frage, ob man den Verteidigungsfall feststellen kann.“ Denn der gelte eigentlich nur für das Bundesgebiet. „Das sind also alles keine Automatismen, sondern relativ komplizierte politische Prozesse.“

Historisch unsicher

Ob sich die Europäer auf Artikel 5 verlassen können, ist allerdings nicht erst seit Donald Trump fraglich. Sauer sagt: „Die Frage nach der glaubwürdigen Abschreckung ist so alt wie der Kalte Krieg.“ Abschreckung sei schon zwischen zwei Parteien ein kompliziertes Unterfangen, weil es immer darum gehe, die Glaubwürdigkeit der Vergeltungsdrohung sicherzustellen. Bei der erweiterten Abschreckung werde es noch schwieriger, „weil man sich fragt, ob derjenige, der die Drohung bereitstellt, auch selbst bereit ist, etwas von sich zu opfern“. New York für Berlin etwa.

Gegenseitiges Misstrauen war so nicht außergewöhnlich: Die Deutschen zweifelten an den Amerikanern, die Amerikaner unterstellten den Deutschen selbst, eine Atomwaffe anzustreben. Die nukleare Teilhabe, sagt Frank Sauer, sei auch eine „Verklammerungsmethode, um transatlantische Sicherheit zu verzahnen“. Sollten die USA unter einer Administration Trump aber von ihrem politischen Versprechen, Artikel 5 des NATO-Vertrages militärisch auszufüllen, abrücken, müssen sie Europäer militärisch so stark werden, dass sie für die europäische Sicherheit innerhalb der NATO selbst sorgen können.

Immer wieder wird dazu eine gemeinschaftliche Bombe der Europäischen Union ins Spiel gebracht. Die Idee hat Charme, aber da die Europäer sich nicht mal über Gemüseverordnungen einig sind, erscheint dieser Vorschlag doch sehr weltfremd. Wie sollen die Entscheidungsstrukturen im Fall eines nuklearen Angriffs aussehen? Soll ein Portugiese einen Atomschlag in Litauen befehlen? Und selbst wenn es dazu nicht kommt: Wer soll es bezahlen? Würden die kleinen Länder den großen vertrauen? Alles sehr kompliziert. In ihrer heutigen Form ist die Union zu glaubwürdiger nuklearer Abschreckung nicht fähig.

Eine deutsche Bombe?

Also die französischen Waffen europäisieren? „Der französische Nuklearschirm ist das einzige realistische überhaupt und auch der ist schon nicht sonderlich realistisch“, sagt Frank Sauer. Zwar betont Frankreich regelmäßig, dass es bereit sei, Europa seine nuklearen Fähigkeiten zur Verfügung zu stellen, damit daraus ein gemeinsames Sicherheitssystem entstehen könne. Aber ein Modell, wie sie die europäischen NATO-Mitglieder mit den USA haben, ist mit Frankreich bisher undenkbar. Um sich dem anzunähern, könne man sich zuerst, sagt Sauer, zu einer Übung zusammentun, dann vielleicht ein Abkommen schließen, damit Rafale-Kampfflugzeuge mit ein paar Sprengköpfen in Deutschland stationiert werden könnten. „Dafür sehe ich aber keinen politischen Willen.“ Und es ändert auch nichts daran, dass dieser französische Atomschirm dann keiner ist, der ganz Europa überspannt. Weil die Franzosen ohnehin keine Gefechtsfeldwaffen in ihrem Arsenal haben, kann man damit auf einen nuklearen Schlag mit taktischen Waffen, den Russland etwa im Baltikum ausführen könnte, nicht reagieren. Ein nukleares Abschreckungsdefizit hätten wir also sowieso. Und was mit dem französischen Angebot wird, sollte Marine Le Pen Präsidentin werden, ist nochmal eine ganz andere Frage.

München für ein Dorf in Finnland

Bleibt die nationale Bombe. Bisher ist allerdings noch nicht wirklich durchdacht, was der Besitz einer Atombombe militärisch, strategisch, politisch und finanziell bedeutet. Das Zwei-Prozent-Ziel wird für den Aufbau und den Erhalt einer nuklearen Bewaffnung niemals ausreichen. Nuklearwaffen als solche nutzen zudem gar nichts, solange sie nicht überlebensfähig sind. Für landgestützte Atomwaffen ist Deutschland viel zu klein, es fehlt die strategische Tiefe. Atomwaffen im Land wären nur Ziele. Wir könnten unsere Waffen über ganz Europa verteilen, etwa in Skandinavien, den Niederlanden oder Polen. Das Dilemma dabei: Wir stehen dann vor demselben Problem, das die Amerikaner jetzt schon haben und dass es bei der erweiterten Abschreckung immer gibt. Sollen wir ein Dorf in Nordfinnland mit der Existenz Münchens verteidigen? Und warum sollen die Finnen glauben, dass wir das tun? Der andere Weg wären atomar betriebene U-Boote, die wochenlang unter Wasser sein können, um die Zweitschlagsfähigkeit zu gewährleisten.

Die hohen finanziellen Kosten von Nuklearwaffen binden zudem Mittel, die ansonsten in die konventionelle Rüstung investiert werden könnten. Nuklearwaffen sind kein Ersatz für eine funktionierende Marine, eine schlagkräftige Luftwaffe und ein starkes Heer. Der Kreml lernt die Lektion gerade: 5000 Atomsprengköpfe haben nicht dabei geholfen, Awdijiwka zu erobern. Rein politisch wird die Aufkündigung des Atomwaffensperrvertrages und des 2+4-Vertrages, die uns den Besitz von Atomwaffen verbieten, vermutlich zudem eine Kettenreaktion auslösen, da sich dann jede mittelgroße Nation überlegen würde, Atomwaffen zuzulegen.

Die Idee, dass Nuklearwaffen unbesiegbar machen und jede Bedrohung ausschließen, ist in einer Gemengelage, wo es mehrere Nuklearmächte gibt, ungleich komplizierter. Zumal mit mehr Waffen das Risiko einer Fehlkalkulation steigen wird – selbst wenn niemand eskalieren will. Und da sind wir noch nicht bei den garantierten innenpolitischen Debatten zur atomaren Aufrüstung. „Eine deutsche Bombe“, sagt Sauer, „bringt uns eine Menge Kosten, aber nur einen sehr überschaubaren Nutzen“.

Geld für die Armee

Der beste Weg zur Abschreckung ist ein anderer: Konventionell aufrüsten. Wir müssen viel mehr Geld in Verteidigung investieren. Das ist immer noch billiger, politisch, militärisch und ökonomisch, als alle anderen Alternativen. Werden wir so stark, dass Russland es in einem ersten Schritt nicht schafft, die NATO etwa aus dem Baltikum zu verdrängen, können auch keine neu eroberten Gebiete unter den russischen atomaren Schutzschirm gestellt werden. Nur dann müssen wir sicher nicht entscheiden, ob wir Manchester oder Köln für Tallinn opfern.

Europäische Atomwaffen setzen falsche Prioritäten. Nur die jahrelange Vernachlässigung der europäischen Armeen, insbesondere der deutschen, ist der Grund, warum wir jetzt eine Atomwaffendiskussion führen müssen. Nur ein starker europäischer Arm der NATO, der den USA Lasten abnimmt, wird die USA langfristig in Europa halten – völlig egal, wer der nächste Präsident ist.

Ein erster und wesentlicher Schritt dabei: Die Unterstützung der Ukraine. Sie kann mehr für die Glaubwürdigkeit von Artikel 5 tun als deutsche Atomwaffen. Denn wenn sich das Bündnis entschlossen sogar hinter einem Nichtmitglied versammelt: Wie entschlossen wird die NATO dann erst sein, wenn es darum geht, ein Mitglied zu verteidigen?

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