Der Autor spricht viel mit ukrainischen Soldaten. Einer sagt, dass er nicht sterben will: „Aber was für eine Wahl haben wir denn?“ Foto: Philipp Kohlhöfer

Der Autor spricht viel mit ukrainischen Soldaten. Einer sagt, dass er nicht sterben will: „Aber was für eine Wahl haben wir denn?“ Foto: Philipp Kohlhöfer

19.03.2023
Von Philipp Kohlhöfer

Ukrainekrieg: Wenn Raketenangriffe zur Routine werden

Der russische Überfall auf die Ukraine liegt mittlerweile über ein Jahr zurück. Jeder, der wissen will, wie tapfer sich die Ukraine wehrt, hatte genug Zeit, um sich zu informieren. Aber zwischen Wissen und Erfahren liegen Welten.

Es ist mein erster Raketenangriff. Vorher waren es nur Drohnen. 71 Raketen werden es sein, es ist der größte Angriff seit Monaten, aber das erfahre ich erst später. Ich sitze im Bunker und bin nervös. Viele der anderen Leute haben Campingstühle oder Yogamatten mitgebracht. Auf den Treppen lernt eine Schulklasse Mathe. Es ist, wenn man das so sagen kann, obwohl es zynisch klingt, fast Routine.

Vier Stunden bin ich im Bunker, der eine U-Bahn-Station ist, sehr tief, zwei Ausgänge. Irgendwann zwischendurch gehe ich mal raus. Man kann wenig sehen, manchmal ist der Himmel hell, dann schlägt es irgendwo ein. Es ist sehr laut. Abwehrfeuer. Das Muster wird sich später ein paarmal wiederholen. Ich bin im Dezember in der Ukraine, in Kiew, Odessa, Lwiw, Saporischschja, Kalusch, Uschgorod. Der Plan ist, auch nach Bachmut zu fahren, aber das erlaubt die ukrainische Armee zu der Zeit schon nicht mehr und darüber bin ich dann auch nicht unglücklich.

Ich bin dort, weil ich einen Film drehe. Es wird um Kunst und Kultur als Waffe im Krieg gehen. Ich bin bei Sängern und Malern, an der Front und in Ateliers und die härtesten Kriegsbilder werden am Ende zu hart sein für das Fernsehen. Tatsächlich habe ich, zurück in Hamburg, eine Woche benötigt, um mit dem Weinen aufzuhören, das mich jeden Abend überkommt.

Vor dem Gang zum Schutzraum noch einen Kaffee und ein Croissant

Dabei ist mir das vor Ort nicht passiert. Es ist erstaunlich, wie schnell man resilient wird. Werden muss. Denn ein Abwehrkrieg ist ja keine selbst gewählte Entscheidung. Zu Beginn meines Aufenthaltes sprinte ich in jeden Bunker, irgendwann fange ich an, vor dem Gang zum Schutzraum beim Bäcker noch einen Kaffee und ein Croissant zu holen und als am vorletzten Tag des Drehs mittags Luftalarm ausgelöst wird, gegen 12, ist die Frage nicht: Gehen wir in einem Bunker? Sondern: Was essen wir denn jetzt?

Es wird Pizza und dann sitzen wir da, der Laden ist voll, die Stimmung gut, keiner redet von den Angriffen, die gerade stattfinden, iranische Shahed 136- Drohnen. Mood: Es wird schon passen. Ich sitze da und bin beeindruckt. Vom Widerstandswillen. Vom Pragmatismus. Von der militärischen Leistung, natürlich, vor allem aber von der gesellschaftlichen. Vom Annehmen der aufgezwungenen Herausforderung.

Das argentinische Grillrestaurant, das gegenüber meinem Apartment liegt, hat geöffnet während der Stromausfälle, die regelmäßig auf die russischen Terrorangriffe folgen.

Grillen kann man ja auch ohne Strom. Die Belegschaft hat einen Holzkohlegrill im Hinterhof aufgebaut, gibt halt keine warme Beilage, aber Gurkensalat – und das reicht ja auch. Dazu ein kaltes Bier, weil das Bier im Dezember in Kiew immer kalt ist. Einer meiner Nachbarn dort, Stadtteill Obolon, 19 Kilometer entfernt von Irpin, im März 2022 ständiges Ziel russischer Artillerie, erzählt, dass er Avatar 2 im Kino gesehen hat. „Und?“, frage ich. „Wie ist der Film?“ Weiß er nicht, sagt er. Ungefähr in der Mitte gab es einen Angriff, alle mussten in den Bunker, er weiß nicht, wie es ausgeht. Er sagt: „Ärgerlich.“

Stromausfall wird ja gerne mal romantisiert in Deutschland. Das Argument, selbst erlebt in der Fußgängerzone meines Stadtteils, geht in etwa so: Kauft man halt ein paar Kerzen, ist doch gemütlich. Stimmt halt nur nicht. Stromausfall ist nichts weniger als der Zusammenbruch des Lebens, so wie wir es kennen. Man kann nicht mal aufs Klo gehen, also, kann man schon, aber Spülen wird schwierig, wenn man das Wasser nicht ein paar Stockwerke nach oben pumpen kann. Es ist möglich, einen kleinen Laden mit einem Generator zu betreiben, ich habe oft warmes Brot bei einer alten Frau gekauft, aber das Einkaufszentrum nebenan hatte dann eben zu: Große Geschäften benötigen natürlich ein Stromnetz. Weil man krank wird, wenn es ständig zu kalt ist, aber keine Heizmöglichkeit besteht, esse ich meistens Snickers mit Ibuprofen. Fünf Tage am Stück habe ich keinen Strom, das ist das längste, und auch wenn es falsch klingt: Daran gewöhnt man sich schlechter als an Raketen.

Ich habe bei Leuten geduscht, die ich nicht kenne, die in einem Stadtteil lebten, der eben Strom hatte. Man leiht sich Powerbanks, lässt immer das Licht an, weil es nämlich sein kann, dass man nachts um zwei Uhr mal für drei Stunden Strom hat, und das sollte man nicht verpassen. Weil man dann nämlich aufstehen muss, um Wäsche zu waschen oder etwas Warmes zu essen.
 

Wir führen seit Monaten Geisterdebatten in deutschen Talkshows, oft lautstark geprägt von Leuten, die niemanden aus der Ukraine kennen und noch nie im Land waren. Irgendwer veröffentlicht schwachsinnige offene Briefe, in Social Media wird sich aufgeregt und jede kleine Entscheidung wird zu einer Grundsatzdebatte verengt. Aber das ist alles egal: Die Entscheidung ist längst gefallen. Die Ukraine wird nie wieder Teil der russischen Welt sein, selbst wenn sie diesen Krieg verlieren sollte, das ist spätestens seit dem 24. Februar entschieden und diese Entscheidung wird seither jeden Tag aufs Neue unterstrichen.

Ich rede über nichts anderes als die russische Invasion

Ich rede mit Frontsoldaten aus Bachmut, mit Kämpfern der Südfront bei Cherson, aber auch mit Leuten, neben denen ich zufällig im Bunker sitze. Ich unterhalte mich im Zug mit Menschen, denn Zug fahre ich oft. Ich bin an Essensständen, an Wärmepunkten und einmal sogar beim Eislaufen und rede dabei über nichts anderes als über die russische Invasion. Ich frage junge Mütter und alte Männer, Schulkinder und Busfahrer, Schaffner und Kassiererinnen und sogar den Mann, der mir einen Bartschneider im Elektrofachmarkt verkauft. Als die Haushälterin meines Hauses mir erzählt, dass ihr Enkel in Bachmut gefallen ist, sagt sie nicht, dass sie aufgeben will. Sie sagt: „Wir werden die Unterdrücker besiegen.“ Ich bin fast vier Wochen ununterbrochen in der Ukraine und treffe niemanden, der kapitulieren will. Keinen einzigen. Nirgends. Niemanden, der Teil Russlands sein will. Niemanden, der Territorium abgegeben will.

Im Lwiw stehe ich im Bahnhof und warte auf den Zug nach Kiew. Neben mir ein Soldat, wir fangen an zu reden. Er ist gerade aus Bachmut rotiert, Fronturlaub. Er fährt weiter nach Westen, zu seiner Frau und seinen Kindern, zwei kleine Mädchen. Natürlich, sagt er, will er nicht sterben. Er sagt, er würde lieber nicht kämpfen. „Aber was für eine Wahl haben wir denn?“ Er sagt: „Ich will nicht, dass meine Kinder in einer russischen Ukraine aufwachsen.“ Er sagt, er will in die Zukunft und nicht die Vergangenheit. „Wir führen einen Unabhängigkeitskrieg“, sagt er. Ich lade ihn zum Kaffee ein. Wir tauschen Nummern aus. Er sagt: „Sie sollen sich einfach verpissen, das ist unser Land.“ Und wenn es nötig ist, dann kämpft er für seine Töchter bis zum Ende.

Jediritter gegen das Imperium

Es mir unklar, im Sinne von: Ich kann es intellektuell nicht nachvollziehen, wie jemand im Westen nicht die Ukraine unterstützen kann. Selten waren die Rollen klarer verteilt als hier: Gut gegen Böse, Richtig gegen Falsch, Licht gegen Dunkelheit, Demokratie gegen Diktatur, Jediritter gegen das Imperium. Selbst wenn einem die Ukraine egal ist, gibt ja solche Leute, dann muss man doch alles dafür tun, dass sie diesen Krieg gewinnt. Wer an einer stabilen europäischen Sicherheitsarchitektur interessiert ist, muss dafür sorgen, dass Russland diesen 2014 selbst angezettelten Krieg verliert.

An einem Abend irgendwann Mitte Dezember sitze ich in einer Bar, ein Soldat neben mir, Scharfschütze, seit 2014 in der Armee, im echten Leben Kameramann. Zwei Tage später wird er nach Mykolajiw aufbrechen. Wir trinken Cocktails. Es hat starke Vietnam-Film-Vibes, Medienheini sitzt mit Soldaten rum, während nicht weit entfernt der Krieg tobt. Den allerdings kann man in diesem Moment bequem vergessen. Um uns herum junge Leute und natürlich sehen die auch nicht anders aus als in Berlin. Es gibt Strom, es ist warm, ein DJ legt Musik auf und wenn ich da ein Bild gemacht hätte, um es zu posten, würde jeder Böswillige sofort darauf verweisen, dass dort doch alles normal ist und die Ukrainer sich nicht so anstellen sollen. Und das stimmt natürlich nicht: Es sind vielmehr Ausschnitte, bevor der Strom wieder verschwindet. Momente, die auch den letzten daran erinnern sollten, dass Kiew selbstverständlich eine europäische Stadt ist, voller Kultur. Was denn sonst? Sie den Russen zu überlassen, wäre, wie Mailand den Russen zu überlassen.

Ende Dezember fahre ich nach Warschau. „Bis bald“, sagt der Mann am Bahnhof, der mir den Weg zum Zug beschreibt. Ich nicke, erwidere das. Er sagt: „See you in Europe.“

Der Zug setzt sich in Bewegung …


Der Autor

Philipp Kohlhöfer ist Autor und Kolumnist, unter anderem für GEO. Er arbeitet auch für das Forschungsnetz Zoonotische Infektionskrankheiten, gefördert vom Bundesministerium für Bildung und Forschung.

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