Die letzten ihrer Art: Im Januar 2011 räumen die letzten Wehrpflichtigen, die eingezogen wurden, ihrer Spinde ein. Foto: Bundeswehr/Andrea Bienert

Die letzten ihrer Art: Im Januar 2011 räumen die letzten Wehrpflichtigen, die eingezogen wurden, ihrer Spinde ein. Foto: Bundeswehr/Andrea Bienert

24.03.2021
DBwV

Zehn Jahre ohne Wehrpflicht: eine tiefgreifende Veränderung

Der 24. März 2011 war eine Zäsur in der Geschichte der Bundeswehr: An diesem Tag beschloss der Deutsche Bundestag die Aussetzung der Wehrpflicht – die Bundeswehr wurde damit zur Freiwilligenarmee. Kurz bevor der damalige Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg über die Plagiatsaffäre stolperte, hatte er seine Pläne zur Neuausrichtung der Bundeswehr vorgestellt: Die Truppe sollte von 252.000 auf 163.500 Männer und Frauen reduziert werden, unter anderem mit der Aussetzung der seit 1956 bestehenden Wehrpflicht. Die blieb zwar im Grundgesetz verankert, aber es sollte niemand mehr gegen seinen Willen eingezogen werden.

Seitdem wird immer wieder über die Wehrpflicht debattiert – in aller Regelmäßigkeit kocht die Diskussion wieder hoch. Wir haben vier Entscheidungsträger befragt, wie sie die Auswirkungen dieser Zäsur einschätzen.

 

"In Deutschland wäre heute ein Wiederaufleben der alten allgemeinen Wehrpflicht praktisch fast nicht mehr möglich"

Am Ende war die Wehrpflicht in der Praxis bereits so weit ruiniert, dass ihre Aussetzung erstaunlich wenig Protest und Gegenwehr auf den Plan rief. Knapp die Hälfte jedes heranstehenden Jahrgangs erfüllte schon die verschärften Tauglichkeitskriterien nicht; von den Tauglichen „wählte“ die Hälfte den Zivildienst; von der anderen Hälfte wurde ein Teil eingezogen zum sechsmonatigen Grundwehrdienst beziehungsweise verpflichtete sich als Freiwillig länger Wehrdienst Leistender (FWDL) oder als Soldat auf Zeit. Und immer noch blieb ein erheblicher „Ausschöpfungsrest“. Von Wehrgerechtigkeit konnte längst keine Rede mehr sein. Einerseits.

Andererseits gewann die Bundeswehr 2011 immer noch einen wesentlichen Teil ihrer Zeitsoldaten aus derm Reservoir der W6- oder FWDL-erfahrenen jungen Männer. Die wussten, worauf sie sich einließen – und mochten es. Alle 18-Jährigen mussten sich anlässlich ihrer Musterung wenigstens einmal im Leben mit einem möglichen Dienst in der Bundeswehr (oder der Zivildienstalternative) auseinandersetzen. Auf den unterschiedlichen Rekrutierungswegen dieser späten Wehrpflichtzeit rotierten immer noch vier- bis fünfmal so viele junge Leute aus allen Schichten der Gesellschaft für kürzer oder länger in die Truppe, als das bei der heutigen reinen Freiwilligenarmee (20.000 im Jahr) der Fall ist. Die Wehrpflicht verklammert Gesellschaft und Militär auf ideale Weise.

Aber nun war Finanzkrise, die Bundeswehr sollte ein weiteres Mal schrumpfen. In der schwarz-gelben Regierungskoalition machten zudem die Liberalen sich immer wieder stark für das Ende des Pflichtdienstes. Und das Wehrgerechtigkeitsargument konnte vor Gericht das ganze System ohnehin irgendwann zum Kippen bringen.

Den zentralen Satz des damaligen Verteidigungsministers Karl-Theodor zu Guttenberg sollte man sich ins Kissen sticken, so seltsam klingt er: „Der mittelfristig höchste strategische Parameter, quasi als Conditio sine qua non, unter dem die Zukunft der Bundeswehr gestaltet werden muss, [...] ist das globalökonomisch gebotene und im Verfassungsrang verankerte Staatsziel der Haushaltskonsolidierung [...].“ So ähnlich könnte es demnächst wieder klingen, wenn nach der Bundestagswahl und einem „Kassensturz nach Corona“ (General Zorn) die Zukunft der Bundeswehr neu verhandelt wird.

Ich habe als zuständiger Berichterstatter der sozialdemokratischen Bundestagsfraktion damals im Parlament aus der Opposition heraus für den Erhalt der Wehrpflicht geworben. Unser Reformmodell sah vor, Wehrerfassung und Musterung beizubehalten, die tauglich Gemusterten aber verbindlich zu fragen, ob sie dienen wollen. Aus den Tauglichen und Willigen hätte die Bundeswehr dann nach Eignung und Bedarf einziehen können, so viel sie braucht (was ja längst keine ganzen Jahrgangsstärken mehr waren) – für 15 Monate, niemanden gegen seinen Willen. Die Schweden gehen inzwischen einen solchen Weg: eine Art Auswahlwehrpflicht.

In Deutschland wäre heute ein Wiederaufleben der alten allgemeinen Wehrpflicht – jetzt wohl kaum noch anders zulässig als für Männer und Frauen gleichermaßen – praktisch fast nicht mehr möglich. Es fehlte an allem: militärischen Strukturen, Ausbildern, Material, Kasernen, Geld. Sicherheitspolitisch wäre eine drastisch vergrößerte Bundeswehr gegenwärtig auch gar nicht erforderlich, soweit absehbar. Als Rückfalloption für schlechtere Zeiten aber stünde noch das Alternativmodell von 2011 in Reserve: der freiwillige Wehrdienst nach allgemeiner Wehrerfassung und Musterung – wenn es mit der Rekrutierung allein am freien Arbeitsmarkt partout nicht klappen sollte. Aber erst dann.

Hans-Peter Bartels

 

"Die Truppe hat den Wandlungsprozess sehr gut gemeistert"

Die Wehrpflicht wurde damals ohne großen Vorlauf ausgesetzt. Umso beachtlicher finde ich die Leistung der Truppe, die den gesamten Wandlungsprozess sehr gut gemeistert hat. Das war kein Kinderspiel und verdient Lob. Eine Veränderung gab es vor allem für das Gefüge unserer Mannschaften, dieser Dienstgradgruppe gehörten die Wehrpflichtigen ja an. Mit einer Dienstzeit von zuletzt sechs Monaten standen sie uns nach der Grundausbildung nur relativ kurz zur Verfügung. Von unseren Mannschaften verlangen wir heute ein hohes Maß an Professionalität mit Blick auf die Komplexität der Einsatzrealität, auf die anspruchsvollen Szenare der Landes- und Bündnisverteidigung, aber auch auf die fortschreitende Digitalisierung. Um hier den nötigen Ausbildungsstand zu erreichen, brauchen wir genug Zeit – und zwar mehr Zeit, als durch die Wehrpflicht je zur Verfügung gestanden hätte. Heute erlebe ich bei allen Truppenbesuchen topausgebildete, lebens- und einsatzerfahrene Mannschaften, die unsere Strukturen stärken. Das stimmt mich sehr zuversichtlich.

General Eberhard Zorn

 

"Zur Zeit der Wehrpflicht war die Truppe in der Mitte unserer Gesellschaft sehr präsent"

Die Aussetzung der Wehrpflicht vor zehn Jahren habe ich damals für einen Fehler gehalten. An meiner Meinung hat sich nichts geändert. Das hat zwei Gründe.

Der erste Grund betrifft die Bundeswehr. Die Aussetzung erfolgte ohne echtes Konzept für die Truppe. Dabei war absehbar, dass sie erhebliche Konsequenzen haben wird. Infrastruktur, Ausrüstung und Ausstattung waren nicht auf eine Freiwilligenarmee eingestellt. Eine hoch spezialisierte Berufsarmee hat ganz andere Anforderungen und Bedürfnisse. Entsprechende Umstellungen brauchen Vorbereitung, Zeit und Geld. Die Trendwenden Material und Finanzen wurden jedoch erst Jahre nach der Aussetzung eingeleitet.

Am deutlichsten – auch heute noch – sind die Konsequenzen beim Thema Personal. Seit Aussetzung ist die Truppe stabslastiger geworden. Sie ist im Durchschnitt um drei Jahre gealtert. Die Bundeswehr muss sich sehr anstrengen, genügend Nachwuchs (und Fachkräfte) zu gewinnen. Der geplante Personalaufwuchs auf 203.000 Soldatinnen und Soldaten bis 2027 ist eine echte Herausforderung.

Der zweite Grund betrifft die Gesellschaft. Der Bundespräsident hat anlässlich 65 Jahre Bundeswehr gesagt, dass es zwischen Gesellschaft, Politik und Bundeswehr keine Distanz geben dürfe. Die Bundeswehr ist eine Parlamentsarmee. Soldatinnen und Soldaten sind Staatsbürgerinnen und Staatsbürger in Uniform. Sie kommen aus unserer Gesellschaft. Und sie stehen ein für unsere Gesellschaft, Demokratie, Frieden und Sicherheit. Ein besonderes Band hält Gesellschaft, Politik und Bundeswehr zusammen.

Zur Zeit der Wehrpflicht war die Truppe in der Mitte unserer Gesellschaft sehr präsent. In jeder Familie wurde über sie gesprochen – spätestens als man selbst, der Enkel, Sohn, Bruder oder Freund gemustert wurde. Heute gibt es weite Teile der Gesellschaft, die keinerlei Berührungspunkte mit der Bundeswehr haben. Das ist keine gute Entwicklung. Denn die Bundeswehr muss fest in der Gesellschaft verankert sein.

Natürlich: Die Wehrpflicht war kein Automatismus für eine enge Verbindung von Bundeswehr und Gesellschaft. Sie wäre es auch heute nicht. Doch sie könnte wesentlich dazu beitragen. Deswegen bin ich der Überzeugung, dass wir die Aussetzung der Wehrpflicht offen bilanzieren sollten – mit Blick in die Zukunft: Mit welchen Angeboten können wir genügend junge Leute und einen ausreichenden Querschnitt der Bevölkerung für gesellschaftliches Engagement begeistern – in der Bundeswehr und in anderen Bereichen? Zwischen freiwillig und verpflichtend kann ich mir vieles vorstellen. Klar ist, die alte Wehrpflicht kann unter heutigen Bedingungen nicht wieder eingeführt werden. Ich würde mich freuen, wenn wir diese Debatte als Gesellschaft zehn Jahre nach Aussetzung führen.

Eva Högl

 

"Der befürchtete Verlust von gemeinwohl-orientierten Einstellungen hat sich nicht bewahrheitet"

Das Ende des Zivildienstes vor zehn Jahren und die damit verbundene Einführung des Bundesfreiwilligendienstes (BFD) war ein gravierender Einschnitt, der seinerzeit auch prompt die Skeptiker auf den Plan rief. Der Haupteinwand lautete, dass mit dem Auslaufen des Zivildienstes ein erhebliches Arbeitskräftepotenzial im Sozial- und Gesundheitsbereich wegfällt. Diesen Bedenken lag jedoch ein Missverständnis zugrunde. Denn was heute für den BFD gilt, galt damals auch schon für den Zivildienst: Beide definieren sich durch das Gebot der Arbeitsmarktneutralität. Damals wie heute verrichten die Menschen unterstützende, zusätzliche Tätigkeiten und ersetzen keine professionellen Fachkräfte.

Auch der befürchtete Verlust von gemeinwohlorientierten Einstellungen und ein Niedergang des Gemeinsinns hat sich rückblickend nicht bewahrheitet: Jedes Jahr engagieren sich bei allen Freiwilligendiensten in Deutschland (BFD, Freiwilliges Soziales Jahr u.a.) rund 100.000 junge und ältere Menschen, davon rund 14.500 im Deutschen Roten Kreuz. In der Gesamtschau können wir als Spitzenverband der Freien Wohlfahrtspflege also auf erfolgreiche zehn Jahre BFD zurückblicken.

Gerda Hasselfeldt

 

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