In der Fragerunde des letzten Parlaments der Wehrpflichtigen im Juni 2010 nehmen die Delegierten kein Blatt vor den Mund. Foto: DBwV

In der Fragerunde des letzten Parlaments der Wehrpflichtigen im Juni 2010 nehmen die Delegierten kein Blatt vor den Mund. Foto: DBwV

28.07.2021
Von Michael Rudloff

65 Jahre DBwV: Sitz und Stimme für Wehrpflichtige

Im Zuge seiner Neuausrichtung nahm sich der DBwV ab 1969 der sozial schwächsten Gruppe an. Ein Parlament wurde gegründet.

Im Mai 1970 stellte die seit wenigen Monaten regierende sozialliberale Koalition das „Weißbuch 1970 zur Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland und zur Lage der Bundeswehr“ vor. In einer kritischen Bestandsaufnahme bewertete es die Kampfkraft der Bundeswehr als „befriedigend“. Breiten Raum nahm die Situation der Wehrpflichtigen und die Frage der Wehrgerechtigkeit ein. Wurde in den ersten Jahren nach Gründung der Bundeswehr nur ein Teil der tauglichen Wehrpflichtigen eingezogen, erschwerten die nun zahlenmäßig schwächer werdenden Geburtsjahrgänge die Erfüllung der wachsenden Anforderungen an die Streitkräfte. Forderungen des Deutschen BundeswehrVerbandes nach größtmöglicher Wehrgerechtigkeit durch gleiche Behandlung der Wehrpflichtigen und Ausgleich für Härten trafen daher auf offene Ohren.

Anregungen des DBwV aufgreifend, stellte die Bundesregierung eine Erhöhung des Entlassungsgeldes, die Anhebung des Wehrsoldes und der Leistungen nach dem Unterhaltssicherungsgesetz, unentgeltliche Bundeswehrurlauber-Fahrkarten für zwölf Heimfahrten pro Soldat und Jahr, Weihnachtsgeld, berufsfördernde Maßnahmen und Regelungen für Studienbewerber in Aussicht. Bereits in der vorhergehenden Legislaturperiode, im Februar 1969, hatte der Deutsche Bundestag eine Änderung des Wehrsoldgesetzes und des Unterhaltssicherungsgesetzes beschlossen und das Entlassungsgeld verdoppelt.

Neue Zielgruppen im Blick

Dass sich der DBwV ab 1968/69 durch die Schaffung organisatorischer Strukturen verstärkt auch der Probleme der Grundwehrdienst Leistenden annahm, war ein wesentlicher Bestandteil der Neuausrichtung des Verbandes, die der 1967 gewählte Bundesvorsitzende Heinz Volland vorantrieb. Er formte aus der sich zunächst unpolitisch verstehenden Interessenvertretung der aktiven Berufs- und Zeitsoldaten einen Akteur, der sicherheits- und sozialpolitische Debatten anregte und in die Gesellschaft trug. Die Ausdehnung der sozialen Zusammensetzung der Mitglieder machte spezifische Kommunikationsformen erforderlich, um die zunehmend differenzierten Interessen zu formulieren, aufeinander abzustimmen und ein koordiniertes Handeln und einheitliches Auftreten des Verbandes zu ermöglichen.

Im DBwV ging man in den ersten Jahren davon aus, dass die meisten Grundwehrdienst Leistenden den zunächst auf zwölf, ab 1962 auf 18 Monate befristeten Wehrdienst als eine temporäre, eher unwillkommene Unterbrechung ihrer Lebensplanung ansehen und daher auch kaum längerfristig als Mitglieder eines soldatischen Berufsverbandes zu gewinnen seien. Deren Interessen sah man in einem Verband der Wehrpflichtigen vertreten.

Wehrpflichtige treten dem DBwV bei

Der 16. Februar 1969 markierte den Kurswechsel. An diesem Tag kamen beide Verbände überein, dass der DBwV die Anliegen der Grundwehrdienst Leistenden mit erheblich größerem Gewicht vertreten kann. Bereits am 1. März ging der Verband der Wehrpflichtigen mit seinen Organen und Mitgliedern in den DBwV auf. Sein Vorstand wurde als Arbeitsgruppe für Fragen der Wehrpflichtigen in den DBwV eingegliedert. Grundwehrdienst Leistende konnten nun Mitglied des DBwV werden. Der Schriftführer des Bundesvorstandes, Oberfähnrich Heidemann, wurde zum Verbandsbeauftragten für Fragen der Wehrpflichtigen berufen. Die Arbeitsgruppe trat zu regelmäßigen Beratungen zusammen. Im Verbandsmagazin richtete sich eine spezielle Rubrik speziell an Wehrpflichtige.

Neben der Ausgestaltung der bereits im Weißbuch von 1970 angesprochenen sozialpolitischen Maßnahmen bildete die durch den DBwV gemeinsam mit dem Reservistenverband vertretene Idee einer allgemeinen Dienstpflicht einen zentralen Bestandteil des Forderungskatalogs des DBwV. Dass trotz des wachsenden Bedarfs der Bundeswehr nicht alle wehrfähigen jungen Männer einberufen wurden, sorgte für Unmut, der in dem Spruch „Die einen dienen, die anderen verdienen“ artikuliert wurde. Die bevorzugte Zulassung zu begehrten Studienplätzen oder beruflichen Weiterbildungsmöglichkeiten sollten einen Ausgleich schaffen.

Wehrgerechtigkeit im Mittelpunkt

Im besonderen Interesse der Grundwehrdienst Leistenden war der Einsatz des DBwV für die Neuordnung des Kantinenwesens. In abgelegenen Standorten der Bundeswehr lagen nach Ermittlungen des DBwV die Preise der von kleinen Pächtern betriebenen und zumeist wenig einladenden Kantinen aufgrund der mangelnden Rentabilität über denen einfacher Gaststätten. Der Einsatz des DBwV für bessere Freizeitmöglichkeiten in den Kasernen traf ebenfalls den Nerv der zum Dienst eingezogenen jungen Soldaten.

Am 22./23. März 1974 richtete der Verband die erste größere Tagung speziell für Wehrpflichtige aus. Im Rahmen der Kontaktgespräche zur Ermittlung und Präzisierung verbandspolitischer Forderungen beriet Heinz Volland mit 40 Wehrpflichtigen aus allen Wehrbereichen Vorschläge für Initiativen des DBwV. Neben der Abschaffung des Zapfenstreichs, einer verbesserten Unterbringung und Sozialleistungen stand die Frage der Wehrgerechtigkeit im Mittelpunkt. In einer Beschlussempfehlung wurde der DBwV veranlasst, sich für die Umwandlung der Wehrpflicht in eine allgemeine Dienstpflicht einzusetzen. Entsprechende Vorstöße durch den DBwV und den Reservistenverband hatte die Bundesregierung jedoch bereits im vier Jahre zuvor erschienenen Weißbuch abgelehnt.

Mit Sitz und Stimme im Bundesvorstand

Die 10. Hauptversammlung des DBwV beschloss am 11. Oktober 1977 wichtige Satzungsänderungen. Die Wehrpflichtigen erhielten von nun an Sitz und Stimme im Bundesvorstand. Vertreten wurden sie durch den neu eingeführten Beisitzer Wehrpflichtige, der jeweils auf der jährlich stattfindenden Wehrpflichtigen-Tagung gewählt wurde. Damit war der Einfluss der Wehrpflichtigen bei der Meinungs- und Willensbildung innerhalb des Verbandes institutionell verankert.

An der dritten Wehrpflichtigen-Tagung, die wenige Wochen nach der Hauptversammlung in Bonn zusammentrat, nahmen 61 Wehrpflichtige (W15), zehn Gäste und sieben Mitglieder des Bundesvorstandes teil. Zunächst firmierten diese Veranstaltungen noch etwas prosaisch als „W-15-Tagungen“. Bald setzte sich die Bezeichnung als „Parlament der Wehrpflichtigen“ durch. Der DBwV gestaltete damit in eigener Verantwortung ein Format, das er ursprünglich von der Bundesregierung gefordert hatte. 1970 hatte Verteidigungsminister Helmut Schmidt einer entsprechenden Anfrage des Bundestagsabgeordneten und stellvertretenden DBwV-Vorsitzenden Hermann Stahlberg nach Einberufung eines ersten Wehrpflichtigenparlaments eine Absage erteilt und auf alternative Gesprächsangebote verwiesen.

Das Parlament der Wehrpflichtigen wurde zunehmend politischer und entwickelte sich zu einem auch in der Öffentlichkeit beachteten Forum gewählter Delegierter der grundwehrdienstleistenden DBwV-Mitglieder. Hier diskutierten sie ihre aktuellen Probleme des Dienstes in den Streitkräften, verabschiedeten Beschlussempfehlungen an den Bundesvorstand und wählten ihre Vertreter im Bundesvorstand und in den Bereichsvorständen. Eine Stärkung der demokratischen Legitimation der Delegierten bewirkte die ab 1982 geübte Praxis, in allen Bereichen Vorbereitungstagungen durchzuführen.

Ort verbandspolitischer Willensbildung

Regelmäßig nahmen der Wehrbeauftragte des Deutschen Bundestages, Mitglieder der Bundestagsfraktionen sowie Repräsentanten der Führungsstäbe der Streitkräfte an den Tagungen teil. Dabei ging es nicht immer harmonisch zu. Gegen eine geplante drastische Kürzung des Entlassungsgeldes und die beabsichtigte Halbierung des Verpflegungsgeldes protestierten 1993 erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik die jungen Soldaten in Uniform mit Transparenten und Handzetteln vor der Hauptwache des Verteidigungsministeriums auf der Bonner Hardthöhe.

Die Frage nach der Zukunft der Wehrpflicht bestimmte seit Mitte der neunziger Jahre zunehmend die Debatte. Sie stand im Mittelpunkt des Parlaments, bei dem vom 28. bis 29. Juni 2010 mehr als 40 Wehrpflichtige und Freiwillig Wehrdienst Leistende (FWDL) aus der ganzen Republik in Berlin mit hochrangigen Politikern diskutierten. Das Medieninteresse war ungewöhnlich hoch, die Tagesschau berichtete. Prominentester Gastredner war der Bundesminister der Verteidigung, Karl-Theodor zu Guttenberg. Er machte deutlich, dass eine Streichung der Wehrpflicht aus dem Grundgesetz mit ihm nicht zu machen sei, betonte jedoch andererseits, dass angesichts der bestehenden Strukturen und der strengen Sparvorgaben ein „Weiter so“ für die Bundeswehr nicht in Frage komme. Zustimmung fand die Kritik des Bundesvorsitzenden Ulrich Kirsch an der Eile, mit der die Reformpläne vorangetrieben wurden. Der Erhalt der allgemeinen Wehrpflicht bildete die wichtigste Forderung des Beschlusses des Parlaments der Wehrpflichtigen 2010. Es sollte das letzte sein.

Rund 55 Jahre nach ihrer Einführung setzte der Bundestag am 24. März 2011 die allgemeine Wehrpflicht zum 1. Juli dieses Jahres aus. Damit endete auch die Geschichte des „Parlaments der Wehrpflichtigen“.

Mit Rat und Hilfe stets an Ihrer Seite!

Nehmen Sie Kontakt zu uns auf.

Alle Ansprechpartner im Überblick