Oberst Karl-Theodor Molinari (links) zeigt dem Regierenden Bürgermeister Berlins, Willy Brandt (2.v.l.), bei seinem Truppenbesuch am 21. Juni 1961 in der Gneisenau-Kaserne in Koblenz den großen Mahnstein mit dem Berliner Wappentier. Foto: DBwV/Archiv

Oberst Karl-Theodor Molinari (links), damaliger Bundesvorsitzender des DBwV zeigt dem Regierenden Bürgermeister Berlins, Willy Brandt (2.v.l.), bei seinem Truppenbesuch am 21. Juni 1961 in der Gneisenau-Kaserne in Koblenz den großen Mahnstein mit dem Berliner Wappentier. Foto: DBwV/Archiv

28.09.2021
Michael Rudloff

Erfolgloser Wahlkampf im Schatten des Mauerbaus

Vor 60 Jahren scheiterte der erste Anlauf von Willy Brandt auf das Kanzleramt. Erst 1969 sollte er erster SPD-Kanzler werden.

Am 17. September 1961 waren die Bürger der Bundesrepublik aufgerufen, den 4. Deutschen Bundestag zu wählen. Einen Wahlkampf wie diesen hatten sie zuvor nicht erlebt. Erstmals forderte ein Kanzlerkandidat den Amtsinhaber heraus. Der charismatische Regierende Bürgermeister der „Frontstadt“ Berlin, Willy Brandt, präsentierte sich als „deutscher Kennedy“ und dynamische Alternative zu dem seit Gründung der Bundesrepublik 1949 im Amt befindlichen greisen Bundeskanzler Konrad Adenauer, der bereits sein 85. Lebensjahr vollendet hatte.
 

Brandts Wahlkampfleiter Klaus Schütz hatte in den USA das Medienereignis der Wahl des Präsidentschaftskandidaten sowie den Stil John F. Kennedys studiert, auf die Verhältnisse in Deutschland übertragen und den in Deutschland bis dahin unbekannten Begriff des „Kanzlerkandidaten“ importiert. Im Juli 1960 wurde Willy Brandt für diese Aufgabe nominiert und am 22. September einstimmig durch den SPD-Parteitag gekürt.

Anstelle der traditionellen Klassenkampfrhetorik wurde die Kampagne auf den Spitzenkandidaten und dessen Präsenz in der Fläche zugeschnitten. Erstmals intensiv genutzte demoskopische Befunde zeigten ermutigende Popularitätswerte. Brandt verkörperte den Wandel der SPD von der traditionellen Arbeiterpartei zu einer modernen Volkspartei. Im Godesberger Programm von 1959 bekannte sich die bis dahin der Wiederbewaffnung und der Bundeswehr kritisch gegenüberstehende Partei zur Landesverteidigung. Mit einer viel beachteten Bundestagsrede hatte Herbert Wehner im März 1960 die SPD auf die Westintegration eingeschworen und von dem auf Neutralität zielenden Deutschlandplan seiner Partei Abschied genommen. Damit stärkte er die Position Brandts, der für eine gemeinsame Politik mit der Regierung Adenauer „in den Schicksalsfragen unserer Nation“ warb.

Abschied vom Image der „vaterlandslosen Gesellen“

Dass gerade der in antimilitaristischer Tradition aufgewachsene Willy Brandt in der Haltung zur Sicherheitspolitik und zur atomaren Bewaffnung seiner Partei bei ihrem Kurswechsel voranging, irritierte selbst seine Genossen im Parteivorstand. Brandt hatte die Blockade Berlins und die Bedeutung der Luftbrücke für das Überleben Westberlins hautnah erlebt. Für den Regierenden Bürgermeister Berlins war die militärische Bedrohung kein theoretisches Szenario. Zu den westlichen Stadtkommandanten pflegte er enge und vertrauensvolle Beziehungen. Mit General Adolf Heusinger beriet er 1959 inoffiziell Planungen zur Verteidigung Westberlins.

Bei seiner Wahl zum Kanzlerkandidaten auf dem Parteitag 1960 „hämmerte“ Brandt dem Bericht des „Spiegels“ zufolge seinen Genossen die absolute Verbindlichkeit der Erklärung ein, „dass wir treu mit allen Rechten und Pflichten zum Verteidigungsbündnis stehen und nichts tun werden, was es gefährden könnte“. Damit hätten die deutschen Sozialdemokraten, „ihrer Tradition müde“, mit Mehrheit beschlossen, „Politiker zu werden“.

Adenauer erblickte in seinem Herausforderer einen „Angstgegner“. Unter Hinweis auf dessen Flucht vor den Nationalsozialisten nach Norwegen und Schweden wurden Zweifel an seiner vaterländischen Gesinnung gestreut. Auf seiner Wahlkampftour durch das Bundesgebiet ging Willy Brandt daher gezielt auf Soldaten zu, um das immer noch präsente Vorurteil gegenüber Sozialdemokraten als „vaterlandslosen Gesellen“ zu zerstreuen.

Am 19. Mai 1961 besuchte der Kanzlerkandidat der SPD zum ersten Mal einen Truppenteil der Bundeswehr. In der Estetal-Kaserne Buxtehude nahm er nach der Begrüßung durch den Kommandeur der 3. Panzerdivision, Generalmajor Christian Müller, und einer Besichtigung der Truppenunterkünfte, Aufenthalts- und Unterrichtsräume mit Interesse am praktischen und staatsbürgerlichen Unterricht der Soldaten teil. Im Gespräch mit Offizieren nach der Bedeutung der Aussage des Godesberger Programms gefragt, dass die Bundeswehr mehr geführt als verwaltet werden müsse, sprach sich Brandt für eine Entlastung der Führungskräfte von der Verwaltungsarbeit aus. Es sei das ehrliche Bestreben der SPD, „dass die Bundeswehr ein Verteidigungsorgan des ganzen deutschen Volkes ist, nicht auf eine Partei oder Regierung allein gestützt“.

Am 21. Juni folgte ein weiterer Truppenbesuch, diesmal in Koblenz, symbolisch in „Sichtweite“ der Bundeshauptstadt Bonn. In der damals größten Garnisonsstadt Europas mit rund 12.000 Soldaten gehörte nahezu jeder vierte Bewohner einer Soldatenfamilie an. Der Ablaufplan war ein Kompromiss, den das Wahlkampfteam dem Verteidigungsminister Franz Josef Strauß abgerungen hatte. Um die Bundeswehr aus dem Wahlkampf herauszuhalten, wurde auf eine Rede des Kanzlerkandidaten und anschließende Diskussion mit dem Offizierskorps verzichtet. Man einigte sich stattdessen auf einen rein protokollarischen Ablauf. Es blieb bei einer Präsentation der Bundeswehr am Standort ohne Freiraum für einen inhaltlichen Austausch. Nach der Begrüßung 9.45 Uhr vor dem Generalkommando des III. Korps durch General Heinrich Gaedcke stellte Oberst Karl-Theodor Molinari als Kommandeur der Panzerbrigade 14 seinen Großverband in einem Kurzvortrag vor. Auf dem Standortübungsplatz Schmidtenhöhe wurden Brandt einige Rad- und Kettenfahrzeuge präsentiert. Mit süffisanter Herablassung beschrieb der „Spiegel“, wie Brandt sich zunächst etwas steif in dieser ihm ungewohnten Situation bewegte und die militärisch knappen Ausführungen mit einem jovial wirkenden „Sehr schön, sehr schön“ quittierte. Tat er sich beim Erklimmen eines Feldküchen- und eines Werkstattwagens anfangs schwer, nahm er die Einladung Molinaris gerne an, im Kampfanzug in einen bereitgestellten Kampfpanzer M48 einzusteigen. Beim Umstieg in einen Schützenpanzer zeigte er sich bereits geübter. In dem nun „innigeren Einvernehmen“ mit dem Bundesvorsitzenden des DBwV verfolgte Brandt nach einer Fahrt durch zerpflügte Panzertrecks auf der Höhe 280 die Gefechtsübung „Sonnenaufgang“, bei der Panzer mit Panzergrenadieren, unterstützt durch zwei F-84-Jagdbomber, einen imaginären Feind in die Flucht schlugen. Nachdem beide die Vorbeifahrt der Truppe abgenommen hatten, lud Molinari den Gast zu einem gemeinsamen Mittagessen mit „verbesserter Truppenverpflegung“ in das Offizierheim ein.

Beeindruckt vom neuen Geist der Bundeswehr

Ein „Small talk“ mit ausgewählten Stabsoffizieren und der Austausch von Erinnerungsgeschenken beendete den Truppenbesuch. Molinari überreichte Brandt den Brigadewimpel mit dem – wie Brandt bemerkte – heraldisch richtigen Berliner Bären. Der Gast aus Berlin hatte im Gegenzug eine schwergewichtige Skulptur des Wappentiers im Gepäck, die vor dem Stabsgebäude des Bataillons ihren Platz fand. Vor der Presse zog er ein positives Fazit seines Besuchs, lobte den Stand der Ausbildung, die aus der Bundeswehr hervorgegangene Generation der Kompaniechefs sowie den kameradschaftlichen Geist des Umgangs zwischen Offizieren, Unteroffizieren und Mannschaften. Beeindruckt habe ihn insbesondere das Bemühen, in der Bundeswehr ein gesamtdeutsches Bewusstsein wachzuhalten. Beim Fototermin im Turmluk des Panzers M48 gab sich Kanzlerkandidat Brandt optimistisch. Den Zuruf seines Wahlkampfmanagers „Gleich bis nach Bonn, Herr Bürgermeister“, erwiderte er mit einem siegessicheren: „Da hält uns keiner auf.“

Die Mauer bremst den Durchmarsch nach Bonn

Es kam bekanntlich anders. Die Betriebskampfgruppen der DDR, die gemeinsam mit der NVA bis zum Sonnenaufgang des 13. August 1961 die Sektorengrenze in Berlin hermetisch abriegelten, gaben dem Wahlkampf eine Wendung. Die von den Planern der SPD-Kampagne bewusst ausgesparte Außenpolitik wurde zum zentralen Thema in der Schlussphase des Rennens um das Kanzleramt. Während sich Brandt in den Krisentagen als Regierender Bürgermeister in Berlin an vorderster Front bewährte, fand Adenauer erst am 22. August seinen Weg nach Berlin. Die Wähler honorierten dies mit einem Zugewinn von 4,4 Punkten und 36,2 Prozent für die SPD. Den Weg in Kanzleramt ebnete dies allerdings nicht. Mit 45,5 Prozent blieb die CDU stärkste Kraft und stellte mit Konrad Adenauer erneut den Bundeskanzler. Wieder einmal bewahrheitete es sich, dass Wähler in Krisenzeiten Experimente scheuen und auf Bewährtes setzen. Inwieweit der Bau der Mauer das Ergebnis der Bundestagswahl am 17. September 1961 entschieden hat, bleibt Spekulation.

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