EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg (M.) und EU-Ratspräsident Charles Michel vereinbarten in Brüssel eine vertiefte Kooperation von NATO und EU. Foto: NATO

01.02.2023
Von Anja Silbe und Yann Bombeke

„Eine militärisch starke EU kann für die NATO nur von Vorteil sein“

EU und NATO haben im Januar eine vertiefte Zusammenarbeit vereinbart. Wir haben den EUROMIL-Präsidenten Emmanuel Jacob gefragt, was es mit dieser nunmehr dritten gemeinsamen Erklärung zur Kooperation auf sich hat.

Herr Jacob, Sie sind der Präsident von EUROMIL, der Europäischen Organisation der Militärverbände und -gewerkschaften. Als Experte für Sicherheits- und Verteidigungsthemen haben Sie sicher mit Spannung die jüngste gemeinsame Erklärung zur NATO-EU-Zusammenarbeit erwartet. Sind Sie mit den Ergebnissen zufrieden? Waren einige Aspekte für Sie überraschend oder vielleicht sogar enttäuschend?

Emmanuel Jacob: Die dritte gemeinsame Erklärung der EU und der NATO ist wegen der fast einjährigen Verzögerung viel diskutiert worden. Die ungerechtfertigte Aggression Russlands gegen die Ukraine hat das geopolitische Umfeld dramatisch verändert. Obwohl die EU und die NATO ihre Zusammenarbeit verstärkt und koordiniert auf die russische Bedrohung reagiert haben, wird in der Erklärung nur kurz auf die nächsten Schritte eingegangen. Kurz gesagt werden die EU und die NATO nun ihre Zusammenarbeit in vier Bereichen verstärken: Bekämpfung hybrider und Cyber-Bedrohungen sowie aufkommender disruptiver Technologien und Weltraum, Klimakrise und Widerstandsfähigkeit. In diesem Zusammenhang ist es wichtig, darauf hinzuweisen, dass die Erklärung als solche den Weg für eine verstärkte Zusammenarbeit zwischen den beiden Organisationen ebnet, dass es jedoch immer auf die Umsetzung ankommt. So nahm NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg am Tag nach der Unterzeichnung der Erklärung an der Sitzung des Kollegiums der EU-Kommissare teil, auf der die NATO und die EU vereinbarten, eine Taskforce für Resilienz und den Schutz kritischer Infrastrukturen einzurichten.

Ein weiteres positives Element der Erklärung ist, dass sie die Bedeutung des Strategischen Konzepts der NATO und des Strategischen Kompasses der EU für die transatlantische Sicherheit hervorhebt. Während der Pressekonferenz betonte Stoltenberg außerdem, dass die gemeinsame Erklärung den Wert einer fähigeren europäischen Verteidigung anerkenne, die einen positiven Beitrag zur Sicherheit des Bündnisses leiste und komplementär zur NATO arbeite. Es ist höchste Zeit, dem Missverständnis ein Ende zu setzen, dass die Entwicklung einer stärkeren europäischen Verteidigung ein Duplikat der NATO sei. Eine EU mit stärkeren militärischen Fähigkeiten kann für das Bündnis und den transatlantischen Raum nur von Vorteil sein.
 
Die Erklärung umfasst viele verschiedene Aspekte, zum Beispiel die sicherheitspolitischen Auswirkungen des Klimawandels, den Weltraum oder den Umgang mit internationalen Partnern. Welche Themen sind Ihrer Meinung nach die wichtigsten, vor allem wenn man bedenkt, welche Auswirkungen sie auf die Lebenswirklichkeit der europäischen Soldaten haben?

In der heutigen Welt sind die Bedrohungen und Herausforderungen, mit denen wir konfrontiert sind, eng miteinander verknüpft. Wenn man sich mit einer Herausforderung wie dem Klimawandel befasst, muss man auch die aufkommenden disruptiven Technologien oder die traditionellen militärischen Systeme berücksichtigen. Damit die europäischen Soldaten in der Lage sind, auf ein derartiges sich wandelndes Umfeld mit bereichsübergreifenden und miteinander verknüpften Herausforderungen zu reagieren, ist eine angemessene Ausbildung und Schulung unerlässlich. Ein Beispiel dafür ist, dass das Militär bei Einsätzen und Operationen, insbesondere in Afrika, häufig mit Naturkatastrophen oder klimabedingten Bedrohungen konfrontiert wird. Wenn die Soldaten nicht angemessen ausgerüstet und ausgebildet sind, um auf solche Umgebungen zu reagieren, sind die Effizienz und die Gesundheit des Militärpersonals gefährdet. EUROMIL beschäftigt sich schon seit einigen Jahren mit dem Klimawandel und der Rolle des Militärs, noch bevor der Zusammenhang zwischen den beiden Themen von der EU und der NATO sowie von den Militärbehörden erkannt wurde. In der gleichen Richtung wird sich das militärische Personal an Strategien für die Sicherheit im Weltraum oder in Bezug auf neu entstehende disruptive Technologien anpassen müssen. Auch hier gilt, dass ohne klare Leitlinien und ohne angemessene Ausbildung und Ausrüstung die Verteidigungskapazitäten nicht vorankommen und somit auch nicht die erforderlichen politischen Ergebnisse erzielt werden können.

In der Sicherheitspolitik legt die EU großen Wert auf Mobilität, d.h. auf die schnelle Verlegung von Truppen und Material von West nach Ost. Dieser Punkt war nicht Gegenstand der Erklärung. Haben Sie eine Idee, warum?

Die militärische Mobilität ist ein wichtiger Bereich der Zusammenarbeit zwischen der EU und der NATO, wie es in der zweiten gemeinsamen Erklärung von 2018 heißt. Außerdem wird in der dritten gemeinsamen Erklärung anerkannt, dass in diesem Bereich greifbare Ergebnisse erzielt wurden und die Zusammenarbeit fortgesetzt wird. In jeder Erklärung werden neue Bereiche der Zusammenarbeit zwischen den beiden Organisationen genannt, was nicht bedeutet, dass die laufende Zusammenarbeit bei verschiedenen Projekten nicht fortgesetzt wird. Es ist auch wichtig zu erwähnen, dass die EU am 10. November 2022 den Aktionsplan Militärische Mobilität 2.0 veröffentlicht hat. Dieser neue Aktionsplan deckt den Zeitraum von 2022 bis 2026 ab und wird – neben anderen Themen – die Zusammenarbeit mit der NATO und wichtigen strategischen Partnern verstärken.

Mit welchen Konsequenzen können die Soldaten in Europa aufgrund der Erklärung rechnen?

Es ist noch zu früh, um mit Sicherheit sagen zu können, wie sich die dritte gemeinsame Erklärung auf die europäischen Soldaten auswirken wird, aber ich würde mir mehr gemeinsame Übungen und Schulungen des Militärpersonals wünschen, um auf aktuelle und zukünftige Bedrohungen und Herausforderungen vorbereitet zu sein. Militärische Zusammenarbeit im euro-atlantischen Raum ist der Schlüssel, um die Sicherheit Europas und seiner Bürgerinnen und Bürger zu gewährleisten.

Werfen wir einen Blick auf den Krieg in der Ukraine. Welche Schritte sollten die NATO und die EU in diesem anhaltenden Konflikt unternehmen?

Sowohl die EU als auch die NATO haben die Ukraine von Beginn des Konflikts an stark unterstützt. Dieser Trend sollte nicht nachlassen, weitere Waffenlieferungen und finanzielle Unterstützung sind unerlässlich. In dem Krieg geht es nicht nur um die territoriale Integrität der Ukraine, sondern auch um europäische Werte und Demokratie. Das ukrainische Volk hat einen beispiellosen Mut bewiesen, als es für den Schutz unserer Werte kämpfte, und deshalb müssen wir es weiterhin in jeder erdenklichen Weise unterstützen.

Was halten Sie von der Lieferung von schwerem Militärgerät wie Schützenpanzern an die Ukraine?

Die EU hat zum ersten Mal lethales Gerät an ein Land geliefert, das sich in einem Konflikt befindet – ein richtungsweisender Schritt der Mitgliedstaaten. Die Lieferung von schwerem militärischem Gerät an die Ukraine ist möglicherweise die einzige Möglichkeit, das Land dabei zu unterstützen, die Angriffe Russlands abzuwehren. Gleichzeitig müssen sich die EU und die Mitgliedstaaten darauf konzentrieren, ihre Bestände aufzufüllen und die Zusammenarbeit mit der europäischen Verteidigungsindustrie zu verstärken, da sie sonst nicht nur nicht in der Lage sein werden, Waffen an die Ukraine zu liefern, sondern auch nicht über die Mittel verfügen werden, ihr eigenes Land zu verteidigen – falls dies erforderlich sein sollte. Die EU arbeitet nun an Möglichkeiten, um Investitionslücken zwischen den Mitgliedstaaten zu schließen und die europäische Verteidigungsindustrie zu stärken. Der Vorschlag der Kommission für das Gesetz zur Stärkung der europäischen Verteidigungsindustrie durch gemeinsame Beschaffung (EDIRPA) für den Zeitraum 2022-2024 zur Stärkung der europäischen Verteidigungsindustrie durch gemeinsame Beschaffung mit einem 500-Millionen-Euro-Instrument war ein Wendepunkt für die europäische Verteidigung.  

Die gemeinsame Erklärung folgt auf ihre Vorgänger aus den Jahren 2016 und 2018. Wurde in dieser Reihe von Erklärungen ein stärkerer Fokus auf die sozialen Aspekte des europäischen Militärpersonals gelegt?

Leider wird die Frage der sozialen Rechte von Militärangehörigen bei politischen Diskussionen auf hoher Ebene oft nicht berücksichtigt. In allen gemeinsamen Erklärungen der EU und der NATO wurde dieses Thema nicht angesprochen. EUROMIL hat sich und wird sich auch weiterhin dafür einsetzen, dass die sozialen und Arbeitsrechte des Militärpersonals auf die Tagesordnung der politischen Entscheidungsträger gesetzt werden. In diesem Fall ist es wichtig zu erwähnen, dass Schritte nach vorne gemacht wurden. So hat das Europäische Parlament auf seiner Plenartagung am 18. Januar 2023 den Jahresbericht zur Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP) angenommen. In dem Bericht heißt es ausdrücklich, dass das Europäische Parlament „die Mitgliedstaaten nachdrücklich auffordert, die sozialen und arbeitsrechtlichen Rechte von Militärangehörigen zu berücksichtigen, wenn sie im Rahmen der EU gemeinsam ausgebildet und eingesetzt werden“.

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