Innovationen in der Pandemie: Digitale Dashboards ermöglichen dem Bereich Medical Intelligence and Information eine umfassende Lageführung. Foto: Bundeswehr/Kay Erkens

20.02.2022
Yann Bombeke

Auf Spurensuche in der Kläranlage

Welche Krankheiten gibt es im Einsatzgebiet? Sind die Mücken nur lästige Plagegeister oder übertragen sie womöglich gefährliche Krankheitserreger? Dies herauszufinden, ist Aufgabe des Bereichs Medical Intelligence and Information, kurz MI2. In der Corona-Pandemie leisten die Spezialisten aus München auch hierzulande wertvolle Unterstützung.

Wer seinen Urlaub in der Ferne plant, sollte sich vorab über mögliche Gesundheitsrisiken informieren – oft sind Impfungen notwendig, um Schutz vor Krankheiten zu bieten, die es hierzulande nicht gibt. Was der Hausarzt für den zivilen Reisenden erledigt, übernimmt der Truppenarzt für die Soldaten, die in den Einsatz verlegen. Die notwendigen Informationen für den Truppenarzt liefert wiederum der Bereich Operative Medizinische Aufklärung des Sanitätsdienstes der Bundeswehr. Die Einrichtung mit Sitz in München wird auch kurz MI2 genannt – basierend auf dem englischen Begriff „Medical Intelligence and Information“.

Und da ist die Bundeswehr richtig gut aufgestellt, auch im internationalen Vergleich: Unter der Leitung von Oberstveterinär Dr. Katalyn Roßmann sammeln rund 20 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter Informationen aus aller Welt zu den möglichen medizinischen Gefahrenlagen im Einsatz. Ein Blick auf die Einsatzgebiete der Bundeswehr in den vergangenen Jahrzehnten verdeutlicht die Bedeutung dieses Auftrags: War die Bundeswehr bis Anfang der 1990er-Jahre noch darauf ausgerichtet, einen potenziellen Angriff auf das eigene Land abzuwehren und damit in Mitteleuropa zu kämpfen, waren deutsche Soldatinnen und Soldaten danach in Staaten wie Kambodscha, Somalia, Afghanistan und Mali im Einsatz. Damit wurden die Bundeswehrangehörigen gesundheitlichen Gefahren ausgesetzt, die es in Europa nie gab oder schon lange nicht mehr gibt – wie etwa Malaria.

„Wir sammeln und bewerten gesundheitsspezifische Informationen aus den jeweiligen Einsatzgebieten, ordnen diese unter anderem in den kulturellen Kontext des Landes ein. Auf dieser Grundlage geben wir Empfehlungen, wie sich die gesundheitlichen Risiken minimieren lassen“, sagt Oberstveterinär Dr. Roßmann. Das diene nicht nur dem Schutze des Einzelnen, sondern insbesondere auch der Einsatzbereitschaft des jeweiligen Kontingents.

Die von MI2 gesammelten Informationen werden in Form von verschiedenen Produkten dem medizinischen Personal im Einsatz, aber vor allem auch der militärischen Führung zur Verfügung gestellt, da die Letztere ja die Verantwortung für Gesundheit und Einsatzbereitschaft der Kräfte trägt. So gibt das „MEDINT akut“ einen Überblick über die wesentlichen Gesundheitsrisiken für die jeweilige Mission und vorbeugende Empfehlungen. Doch auch während des Einsatzes behält MI2 das Missionsgebiet im Blick: Bricht etwa in der Region eine Krankheit aus, von der die deutschen Kräfte nicht direkt betroffen sind, erstellen die Münchener Experten ein „MEDINT aktuell“. So können die militärischen Führungskräfte vor Ort, aber auch die politischen Entscheidungsträger gegebenenfalls weitere Schritte einleiten. Tritt ein Gesundheitsereignis ein, das die deutschen Soldatinnen und Soldaten unmittelbar betrifft und gefährdet, wird ein „MEDINT Warnung“ herausgegeben. „Diese Dokumente sind immer so verfasst, dass sie auch von nicht-medizinischem Personal verstanden werden können“, sagt Dr. Roßmann. Wenn andere deutsche Behörden an internationalen Einsätzen beteiligt sind, werden ihnen auch die wertvollen Informationen von MI2 zur Verfügung gestellt.

Doch woher kommen diese Informationen? MI2 arbeitet eng mit den Sanitätsdiensten verbündeter Nationen, aber auch mit zivilen Einrichtungen wie dem Robert-Koch-Institut (RKI) oder der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zusammen. Das Internet erleichtert heute zusätzlich die Informationsgewinnung.

So vielfältig die Gesundheitsrisiken im Einsatz sind – auch Umweltfaktoren wie Klima oder Verschmutzung spielen eine Rolle –, so breit und interdisziplinär ist auch MI2 aufgestellt. Zum Team gehören Mediziner verschiedener Fachrichtungen, aber auch Tierärzte, Epidemiologen, Public Health-Spezialisten, Informatiker, Gesundheitsaufseher, Insekten- und auch Völkerkundler.

Neuerdings leistet MI2 auch wertvolle Hilfe im eigenen Land. Bekannt ist, dass die Bundeswehr seit nunmehr fast zwei Jahren im Rahmen der Amtshilfe zu einer unverzichtbaren Stütze im Kampf gegen die COVID-19-Pandemie geworden ist. Doch der Sanitätsdienst ist nicht nur in den Bundeswehrkrankenhäusern und andernorts zur Stelle, um dort Coronapatienten zu versorgen. Mit seiner Expertise hat MI2 schon früh den Kampf gegen Corona aufgenommen: Die ersten Berichte zum unklaren Infektionsgeschehen aus Wuhan seien gemeinsam mit dem RKI zum Jahreswechsel 2019/20 erstellt worden, sagt Dr. Roßmann und ergänzt: „Im Frühjahr 2020 haben wir schon Laien im Bereich der Kontaktverfolgung trainiert, die dann in den zivilen Gesundheitsämtern eingesetzt wurden.“ Bemerkenswert ist aber neben Verbesserungen in Bereichen der Risikokommunikation oder der Informationstechnologien ein ganz besonderes Projekt: die Etablierung eines Frühwarnsystems zur Beurteilung des Infektionsgeschehens anhand von Abwasseruntersuchungen. Dabei arbeitet MI2 in den Landkreisen Berchtesgadener Land (BGL) und Ebersberg (EBE) eng mit dem Landratsamt und den Gemeinden des Kreises zusammen – so werden seit November 2020 fast 93 Prozent der Bevölkerung zum Beispiel des Landkreises BGL erfasst.

Das funktioniert so: Wer sich mit SARS-CoV-2 infiziert, scheidet das Virus auch über den Stuhl aus. Dabei spielt es keine Rolle, ob der Infizierte Symptome aufweist oder nicht. Durch die Probenentnahme an den Kläranlagen und die anschließende Analyse kann sehr genau gesagt werden, wie sich das Infektionsgeschehen in einem bestimmten Bereich entwickelt – und das schon sehr früh: Bereits zehn Tage, bevor mit den Fallzahlen das Infektionsgeschehen bestätigt wurde, ließ es sich mit hoher Genauigkeit anhand der Abwasserproben vorhersagen. „Die Integration dieser innovativen Ansätze einer umfassenden Lageführung mittels eines digitalen Dashboards und der Etablierung eines Frühwarnsystems anhand eines Abwassermonitorings resultierte im Landkreis Berchtesgadener Land in einem sehr effizienten, proaktiven Krisenmanagement, das als Blaupause für andere Kommunen in Deutschland dienen kann“, heißt es in einer Publikation von MI2.

In der Coronakrise zeigte sich schnell, dass die herkömmlichen Verwaltungsstrukturen in Deutschland durch das Ausmaß des Coronainfektionsgeschehens überfordert waren. Die Beispiele des Berchtesgadener Landes und auch Ebersbergs zeigen, dass sich neue Herangehensweisen bezahlt machen. Das alternative Krisenmanagement, das dort seit Herbst 2020 zur Anwendung kommt, basiert übrigens auf einem Modell, das aufgrund der Erfahrungen aus der Ebola-Krise in Westafrika in den Jahren 2014 und 2015 etabliert wurde. „Seit dem letzten Sommer wird im Einsatz in Mali auch in Gao ein solches Frühwarnsystem betrieben – in seiner Ausprägung, Detaillierung und täglich operativen Umsetzung in NATO- und EU-Einsätzen ein einmaliger Ansatz“, betont Dr. Roßmann.

Trotz einer Empfehlung der EU-Kommission zur Überwachung des Infektionsgeschehens mittels Abwasseruntersuchungen kommt dieses System in Deutschland noch nicht flächendeckend zum Einsatz. Der Grund: Es ist ein komplexes Verfahren, aufgrund der Laboruntersuchungen sehr kostenaufwändig und benötigt Pioniergeist sowie guten Willen multidisziplinärer Teams aus Ingenieuren, Medizinern, Klärwärtern, Informatikern, Verwaltung, Politik und Public Health-Spezialisten. Für Dr. Roßmann ist klar: „Es braucht Improvisationsvermögen, möglichst unbürokratisches Handeln und flexibles Denken: Innovation in der Krise eben – man sollte meinen, dass das ein Kerngeschäft von Streitkräften ist.“ Immerhin sei der Sanitätsdienst mit diesen Entwicklungen in der Surveillance und Digitalisierung Vorreiter sowie Berater in der nun beabsichtigten bundesweiten Testung dieser Frühwarnsysteme.

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