Schutzbedürftige aus Afghanistan bei der Ankunft auf dem Flughafen Taschkent in Usbekistan. Für Wolf Poulet waren die Entwicklungen in Afghanistan vorsehbar. Foto: Bundeswehr/Tessensohn

Schutzbedürftige aus Afghanistan bei der Ankunft auf dem Flughafen Taschkent in Usbekistan. Für Wolf Poulet waren die Entwicklungen in Afghanistan vorsehbar. Foto: Bundeswehr/Tessensohn

01.09.2021
Von Wolf Poulet

„Wer behauptet, man hätte es nicht wissen können, sagt wissentlich die Unwahrheit”

Das Desaster des Abzugs aus Afghanistan verlangt nach einer gründlichen Revision. Was hätten die internationale Gemeinschaft und speziell Deutschland nach 9/11 beim staatlichen Wiederaufbau Afghanistans unter realistischer Einschätzung besser machen können?

Im Auftrag der GTZ (Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit, heute: GIZ) konnte ich Anfang März 2002 an einer frühen Prüfmission in Kabul teilnehmen. Geleitet wurde sie von Bernd Hoffmann, Abteilungsleiter Staat und Demokratie. Das neunköpfige Team verfügte über verschiedene Expertise, erstmalig auch in der Sicherheitspolitik. Meine Aufgabe entsprach dem mir übertragenen Sektorvorhaben „Reform des Sicherheitssektors (SSR) in der Entwicklungszusammenarbeit.“ Anfang März 2002 in Kabul offenbarte schon ein erster Blick auf die staatliche Ordnung des Landes, dass eine solche in geregelter Form nicht vorhanden war. In Bezug auf die Verteidigungsfähigkeit Afghanistans wurde klar, dass die vertriebenen Taliban keine Armee hinterlassen hatten, sondern ihre kleingliedrige Kampfkraft in Schattenbereichen innerhalb und außerhalb der Grenzen weiter aufrechterhielten. Heute übernehmen sie die Kontrolle über das gesamte Land, moderner bewaffnet denn je zuvor, allerdings bisher ohne Fähigkeit zur Luftherrschaft. Wenn man damals eine Afghanische Nationale Armee (ANA) hätte einrichten wollen, die gegenüber der zentralen Regierung loyal sein sollte, musste man auf zahlreiche Kleinarmeen von Clans und „Warlords“ zurückgreifen - geschätzt circa 200.000 Mann.

Theoretisch hätten alle kämpfenden Truppenteile unter die Kommandogewalt der zentralen Regierung gehört. Dies war zu jener Zeit für Clanführer und „Warlords” unzumutbar, es entsprach auch nicht der historisch gewachsenen Staatsauffassung der unterschiedlichen Ethnien. Und natürlich gab es auch noch keine im gesamten Staatsgebiet legitimierte Regierung.

Verlauf der Durchführung

Vonseiten der GTZ gab es für die Prüfung keine Vorgaben. Die Deutsche Botschaft Kabul vermittelte Ansprechpartner, so zum Beispiel die Minensuchhundeschule (MDC), die vom AA Berlin mitfinanziert wurde. Der Direktor MDC war so freundlich, mir für den gesamten Zeitraum einen Pick-up-Truck plus Fahrer – Paschtune mit Englischkenntnissen – zur Verfügung zu stellen. Der Fahrer verschaffte mir problemlos Termine mit staatlichen Stellen. So ging er vor dem Gebäude des Generalstabs, ohne angehalten zu werden, durch die Menschenmenge hinein und kehrte 20 Minuten später mit einem Termin bei Generalstabschef Delawar zurück.

Ich konnte auch den deutschen Brigadegeneral Carl-Hubertus von Butler interviewen, der das 1. Kontingent von Bundeswehrsoldaten in Afghanistan anführte. Einen Tag durfte ich bei der Patrouille durch das Stadtgebiet Kabuls mitfahren. Weitere Gespräche erfolgten mit dem stellvertretenden Leiter des nationalen Geheimdienstes, mit führenden Polizeioffizieren, dem Hauptmann der Feuerwehr Kabul wie auch mit Restpersonal von Zoll und Grenzschutz. Im Ergebnis wurde deutlich, dass die gesamte Sicherheitsstruktur landesweit nur in Fragmenten vorhanden war.

Während unseres Aufenthalts begannen am 6.März 2002 in Kabul Regierungsverhandlungen mit allen in die Hauptstadt geladenen Kommandanten.

Geplante Vorhaben für 2002

Am Ende der Mission wurden für das Thema „Sicherheit“ sieben Planungsansätze für Einzelvorhaben vorgestellt:

  1. Durchführung einer Konfliktstudie in zugängigen Provinzen
  2. Pilotprojekte im Bereich Demobilisierung/Reintegrierung, Zusammenarbeit mit UNICEF, Kooperation mit Welthungerhilfe
  3. Abstellung eines sicherheitspolitischen Beraters in das Innenministerium, Organisation durch UNDP
  4. Beratung des Verteidigungsministeriums (Informationsreise von Armeeoffizieren nach Deutschland)
  5. Durchführung einer Konferenz (in Kabul!) zur Definition SSR (Durchf.: BICC)
  6. Unterstützung des Polizeiprogramms des BMI (Civil adviser nach Kabul)
  7. Unterstützung Aufbau- und Lehrprogramm BMI für Feuerwehr Kabul

Wäre das Programm etwa in dieser Form durchgeführt worden, hätten GTZ/BMZ, und damit auch die Bundesregierung, spätestens im März 2003 einen soliden Einblick in die sicherheitspolitischen Rahmenbedingungen in Afghanistan erhalten. Nun, nach einem milliardenschweren Engagement, fiel diese Armee binnen Tagen in sich zusammen, als hätte es sie nie gegeben. Ich glaube nicht, dass Deutschlands Einfluss im internationalen Kontext ausgereicht hätte, um die Entwicklung der afghanischen Armee frühzeitig und nachhaltig zu beeinflussen. Hätte aber 2002/3 eine gründliche Vorstudie der Bedingungen das Desaster vorhersagbarer gemacht? Wären die Korruptionsstrukturen im Land und Loyalitäten der Kämpfer frühzeitiger hinterfragbar geworden? Mit Sicherheit.

Soweit aber wollten es das BMZ und die dem Militär überwiegend abgeneigte GTZ gar nicht erst kommen lassen.

Vier Wochen nach Rückkehr aus Kabul erhielt mein Büro einen Anruf, das Projekt sei abgesetzt, die Mittel (300.000 Euro) würden für „Wasser“ und „Strom“ benötigt. Das war’s dann.

Seit über 20 Jahren propagieren in zahllosen Dokumenten der Weltsicherheitsrat, der UN-Generalsekretär, EU-Kommission und EU-Rat, OECD (Dokumentation) und anderes mehr, dass fragile Staaten nur durch die Einführung eines funktionierenden Sicherheitssektors (SSR) in Richtung Stabilität und Herrschaft des Rechts (Rule of Law) gelangen können. Die sonst so folgsamen deutschen Behörden ignorieren dies seit vielen Jahren, ebenso die Friedens-NGOs und der akademische Diskurs. Man will es nicht wissen und ignoriert daher die Unterstützung fragiler Staaten mittels nachhaltiger Hilfe bei der SSR. Es erscheint deutschen Politikern aller Fraktionen wahltaktisch nicht hilfreich, dieses Thema zu erläutern. Aber geht es nicht jenseits von parlamentarischem Wegducken und Wahltaktik um die Verpflichtung, außenpolitische Interessen Deutschlands zu benennen und zu vertreten?

Vor 20 Jahren bereits hätte eine besser instrumentierte Politik vor allem in Afrika noch junge Staaten mit SSR „erreichen“ können. Heute verdrängen China und Russland im entwicklungspolitischen Wettbewerb westliche Akteure. Ihre weitgehend politisch bedingungslosen „Kooperationen“ erscheinen den Führungsriegen der Drittstaaten unkomplizierter, eine Brücke ist eine Brücke und nicht notwendigerweise ein Kleinhandwerkerprojekt mit Frauenförderung. Und sicherheitsorganisatorisch erweist sich der Westen längst selbst nicht mehr als Referenzvorbild, Deutschland schon gar nicht.

Die Wahrnehmung außenpolitischer Interessen folgt unter Merkel einem merkwürdigen Muster: Man beschwert sich, um ein Beispiel aus Afrika zu nennen, dass sich China die Fischgründe vor Mauretanien sichert und die Infrastrukturen über langfristige Kredite finanziert. Und verbleibt im Weiteren vollständig passiv, statt in europäischer oder bilateraler Initiative die Fischgründe vor Mauretanien für Mauretanien nebst Aufbau von Fischfabriken selbst zu sichern. Zu besichtigen sind zerknirschte, kraftlose Akte des stetigen Bedauerns, dass man selbst nicht in der Lage sei. Still wollte man auch den Afghanistan-Einsatz auslaufen lassen, am besten ohne wahlstörende Bilder der Evakuierung einiger tausend gefährdeter Ortskräfte – in kleinteiliger bürokratischer Sabotage eines weiteren deutschen Interesses: international als zuverlässig zu gelten. Die Verteidigungsministerin teilt nun mit, sie sei bereit, „den Kopf hinzuhalten“. Sie wird das, anders als zurückgelassene Ortskräfte, nicht wirklich tun. Gleichermaßen gebettet der Bundesaußenminister. Krisenmanagement als verspätetes Nachrudern. Wer behauptet, man hätte es nicht wissen können, sagt wissentlich die Unwahrheit.

Bereits 2007 analysiert Scholl-Latour nach einem Afghanistan Besuch: „Der Krieg wird unzureichend geführt: Es existieren weder ein Worst-Case-Szenario noch eine Exit-Strategie. Das heißt, man hat sich keine Gedanken darüber gemacht, was man tut, wenn die Situation sich plötzlich dramatisch verschlechtern sollte, bzw. wie man langfristig aus der Situation herauskommt. Das aber sind die Grundvoraussetzungen für eine verantwortungsbewusste militärische Intervention. Die Regierung in Berlin dagegen nimmt die Warnungen der militärischen Kommandeure im Land, des BND und unseres Botschafters in Kabul einfach nicht zur Kenntnis, sondern opfert sie bündnispolitischen Erwägungen.“

14 Jahre später tritt genau das Vorhergesagte ein. Wie ist das erklärbar, welche Versagenskultur hat sich da seit Jahren in Kanzleramt, Außen-, Verteidigungs- und Innenministerium etabliert?

  • Kultur der Selbstbedauerung und lapidarer Exkulpation: Merkel und ihre Minister bedauern regelmäßig Umstände, die sie selbst herbeigeführt haben. Man flüchtet in Floskeln „systemischer Ereignisse“, die niemand habe kommen sehen und stellt verharmlosend fest, es hätte besser laufen müssen oder „die Stärke der Taliban sei unterschätzt worden“ (Merkel). Gelebte „Bündnistreue“ verstärkt offenbar diese Passivität, sie hat die Eigenständigkeit der Lagebeurteilung geschwächt.
  • Fehlende Führungskultur gepaart mit innenpolitischem Opportunismus: Die Richtlinienkompetenz der Kanzlerin als wesentliche Funktion, die Eigenständigkeit der Ministerien koordinativ und zielorientiert auszurichten, wird nicht wahrgenommen, mit der Folge von zielloser Verantwortungsdiffusion und einer strategieschwachen Politik, die nur auf Sicht fährt und die Austragung inhaltlicher Konflikte scheut. Möglicherweise ist unter solcherart Führung längst der Zugriff auf die Institutionen abhandengekommen, da die mächtigen Ministerien keine Zugriffe in ihre verzettelten Verantwortungsbereiche und eigenen Interessenslagen zulassen.

Das Gesamtbild ist das eines zögernden und zaudernden Landes. Deutschland als zentrale europäische Mittelmacht, als weltwirtschaftlich zunehmendem Wettbewerb ausgesetzter Akteur benötigt das Gegenteil: einen offenen Diskurs und hinreichende Kapazitäten zur Formulierung einer die Konflikte und Herausforderungen erkennenden Geostrategie. Und eine Geopolitik, die diese auch umsetzt, etwa durch Einrichtung eines entscheidungsbefugten interministeriellen Bundessicherheitsrats. Dabei darf die eigene Bevölkerung nicht weiterhin im erkenntnisarmen Wohlfühlmodus gehalten werden. Die nahe Zukunft stellt Deutschland vor erhebliche innen- und außenpolitische Herausforderungen, die eine kluge und handlungsbereite Führung verlangen.

Hier gelangen Sie zum Kabul-Protokoll von Wolf Poulet aus dem Jahr 2002. Für die Veröffentlichung vom Original übertragen wurde es von Dr. Nicole Nottelmann.

Wolf Poulet war 30 Jahre Berufssoldat, (Panzertruppe), zuletzt als Oberst im Generalstabsdienst. Der 77-jährige Offizier a.D. hat eine deutsche und amerikanische Generalstabsausbildung absolviert. Seine Erfahrungen aus Russland entstammen militärischer Inspektionstätigkeit. Von 1988 bis 1990 war Poulet Sprecher des damaligen Generalinspekteurs Dieter Wellershoff. Als parlamentarischer Referent der FDP-Bundestagsfraktion von 1993 – 1997 begleitete er Abgeordnete auf Reisen zu politischen Gesprächen nach Moskau. Vier Jahre als Büroleiter der Friedrich-Naumann-Stiftung in Lateinamerika. Projektleiter für Sicherheitssektorreform der Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit. Er leitet heute ein Unternehmen für internationale Regierungs-Beratung - www.igc-online.net

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