Der Westen darf in seiner Unterstützung für die Ukraine nicht nachlassen. Das Foto zeigt ukrainische Artilleriesoldaten, die sich nahe Bachmut gegen die russischen Angreifer wehren. Foto: picture alliance / ZUMAPRESS.com / Madeleine Kelly

Der Westen darf in seiner Unterstützung für die Ukraine nicht nachlassen. Das Foto zeigt ukrainische Artilleriesoldaten, die sich nahe Bachmut gegen die russischen Angreifer wehren. Foto: picture alliance / ZUMAPRESS.com / Madeleine Kelly

08.03.2023
Von Joachim Krause

Ein Jahr Krieg in der Ukraine – wie sicher sind wir heute?

Unsere Sicherheitslage ist auch ein Jahr nach dem Beginn des verbrecherischen Angriffskriegs auf die Ukraine hochgradig gefährdet. Wie groß diese Gefahr wirklich ist, ist vielen Menschen nicht bewusst – oder sie verdrängen sie.

Der Überfall Russlands auf die Ukraine ist der mit Abstand schlimmste und brutalste Krieg, den Europa seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs erlebt hat. Er ist bezüglich der Zielsetzung (Unterwerfung und Assimilierung einer ganzen Nation) und der Rücksichtslosigkeit sowie Brutalität des Aggressors vergleichbar mit dem Überfall des Dritten Reiches auf Polen im September 1939 oder auch der „Operation Barbarossa“, mit der im Sommer 1941 der Großangriff auf die Sowjetunion begann.

Im Unterschied zu den beiden vorab genannten Kriegen ist der russische Überfall auf die Ukraine von der Größenordnung der zum Einsatz gebrachten Truppen und vom Umfang der Kampfhandlungen begrenzt. Das hat seine Ursachen in den Fehlkalkulationen Russlands bezüglich des Widerstands der Ukrainer und den Gelegenheiten, die die planlose Abrüstung der NATO-Staaten in den vergangenen Jahrzehnten offeriert haben.

Wie betrifft dieser Krieg unsere Sicherheit?

Es gibt in Deutschland in Gesellschaft und Politik eine starke Strömung, die den Krieg als ein bilaterales Ereignis zwischen Russland und der Ukraine ansieht, der uns eigentlich nichts angeht. Die Verluste werden beklagt und es wird gefordert, dass Deutschland auf diplomatischer Bühne dafür sorgen solle, dass der Krieg so schnell wie möglich beendet wird. Erst ein Waffenstillstand und dann sollen Diplomaten alles richten. Waffenlieferungen soll es auch nur dann geben, wenn es nicht zu einer Eskalation kommt.

Es wäre schön, wenn das so einfach ginge. Aber Russlands Präsident Putin hat deutlich gemacht, dass er an keinen Verhandlungen interessiert ist. Er hat diese sogar verunmöglicht, indem er durch Parlamentsbeschluss vier ukrainische Provinzen zu russischen Gebieten hat erklären lassen, wohl wissend, dass die russische Verfassung die Aufgabe russischer Gebiete durch welches Verfassungsorgan auch immer verbietet. Verhandlungen, die im März und April 2022 auf verschiedenen Ebenen geführt worden sind, haben keinen Waffenstillstand erbracht, weil Russland die gesamte Ukraine will – entweder jetzt oder später.

Russland versucht, Herrschaft über ganz Europa zu etablieren

Die Herausforderung, die dieser Krieg auch für unsere Sicherheit darstellt, ist von einer Größenordnung, der sich die meisten Menschen in Deutschland nicht bewusst sind oder die sie verdrängen. Der Überfall Russlands auf die Ukraine begann, nachdem Russland im Dezember 2021 ultimativ die NATO aufgefordert hatte, deren Erweiterung rückgängig zu machen und amerikanische Kernwaffen aus Europa abzuziehen. Anderenfalls würden „militärtechnische Maßnahmen“ eingeleitet. Das war eine Art Kriegserklärung, zumindest die Bekundung Russlands, dass es die politische Ordnung Europas mit militärischer Macht umwerfen will.

Was wir derzeit erleben, ist der Versuch Russlands, auf dem Weg über die Unterwerfung der Ukraine seine Herrschaft über ganz Europa zu etablieren. Ohne diese weitergehende Absicht wäre Putin vermutlich schon lange zu einem Waffenstillstand bereit. Aber er will mehr, er will alles. Würde Russland mit dieser Strategie fortfahren und erfolgreich sein, würde unser aller Leben fundamental verändert: unser Wohlstand, unsere Rechtstaatlichkeit, unsere Freiheit und auch der Friede, den wir in den letzten sieben Jahrzehnten haben genießen können, wären vorbei.

Das heutige Russland ist nicht der erste Staat, der den Versuch unternommen hat, Europa gewaltsam unter seine Vorherrschaft zu zwingen: Frankreich unter Ludwig XIV und unter Napoleon, Deutschland unter Hitler und die Sowjetunion unter Stalin hatten vergleichbare Versuche unternommen und scheiterten allesamt. Auch Russland wird damit scheitern.

Entscheidend ist allerdings nur, wie lange dieser Kampf dauert und wie groß der dadurch angerichtete Schaden ist. Es war immer die Zaghaftigkeit der Verteidigerkoalitionen, die dazu geführt hatte, dass viel zu spät militärisch gegen diese Abenteurer vorgegangen wurde: Im Fall Napoleons mussten in 14 Jahren über vier Millionen Menschen sterben (zuletzt Zehntausende Soldaten in der Völkerschlacht von Leipzig), bis der korsische Autokrat besiegt war. Im Falle Hitlers brach darüber ein Weltkrieg aus, der über 55 Millionen Tote gefordert hat. Man hätte Hitler auch früher besiegen und beseitigen können. Erfolgreich war lediglich die Abwehr des Anspruchs der Sowjetunion auf Vorherrschaft über Europa nach dem Zweiten Weltkrieg durch die Gründung der NATO als einer Abschreckungsallianz.

Leider wird diese erfolgreiche Phase der Geschichte heute durch das vorherrschende Narrativ bis zur Unkenntlichkeit verzerrt, wonach der Ost-West-Konflikt nur ein „Machtkonflikt“ zwischen den USA und der Sowjetunion gewesen sei und die Hauptbedrohung in der „Rüstungskonkurrenz“ der beiden Blöcke bestanden habe.

Erinnerungen an 1939 und 1941 werden wach

Wenn wir die gegenwärtige Situation mit einer früheren geschichtlichen Periode vergleichen wollen, so sind es die Jahre von 1939 bis 1941. In dieser Zeit lag noch kein Weltkrieg vor, sondern Versuche des nationalsozialistischen Deutschlands, durch die Isolierung und nachfolgende Eroberung eines Landes nach dem anderen die Herrschaft über ganz Europa zu ergreifen. Das, was Hitlers Erfolge in dieser Zeit ermöglichte, war der Umstand, dass es in der Wehrmacht kreative Köpfe gab, die neue Technologien und Waffensysteme dazu nutzten, um im Verbund von Heer, Luftwaffe und Marine ein neues Konzept einer erfolgreichen Kriegsführung zu entwickeln.

Die „Blitzkriegsstrategie“ der Wehrmacht traf erst Polen, dann Frankreich und auch die Briten weitgehend unvorbereitet. Der Erfolg war so groß, dass Hitler glaubte, im Juni 1941 auch der Sowjetunion und im Dezember 1941 den USA den Krieg erklären zu können. Der Ausgang ist bekannt. Die heutige Situation gibt Anlass zur Hoffnung, dass es nicht zu einem Weltkrieg kommt, weil Russland beim Versuch, die Ukraine zu erobern, bislang weitgehend gescheitert ist. So wie der Zweite Weltkrieg nicht stattgefunden hätte, wenn Hitler im September 1939 in Polen oder in Frankreich im Mai 1940 erfolglos geblieben wäre.

Russland darf die Ukraine keinesfalls niederringen

Wenn man den nächsten Weltkrieg vermeiden will, so muss man jetzt alles daransetzen, der Ukraine zu helfen, sich gegen den russischen Überfall zu verteidigen und die russischen Truppen zurückzuwerfen. Ein Weltkrieg wird nicht ausbrechen, weil Putin gedemütigt und in die Ecke gedrängt ist. Dazu gibt es auch für Putin und seine Entourage viel attraktivere Optionen im Falle einer Niederlage, wie etwa ein Asyl in einem befreundeten Land. Der Weltkrieg wird dann kommen, wenn es Russland gelingen sollte, die Ukraine niederzuwerfen, weil die westliche Hilfe zu zaghaft war. Dann wird der nächste imperiale Krieg Russlands gegen Europa nicht lange auf sich warten lassen, möglicherweise begleitet von einer Kriegseröffnung Chinas gegen Taiwan und vermutlich auch untermauert mit nuklearen Einsätzen.

Unsere Sicherheitslage ein Jahr nach Kriegsbeginn ist daher hochgradig gefährdet. Die Hauptgefahr ist nicht die Eskalation infolge der Lieferung westlicher Waffensysteme. Die Hauptgefahr ist der Übergang in einen möglicherweise auch nuklear geführten Weltkrieg, wenn es Russland gelingen sollte, die Ukraine zu besiegen.

 

Der Autor Prof. Dr. Joachim Krause ist Wissenschaftlicher Direktor des Instituts für Sicherheitspolitik an der Universität Kiel (ISPK) und geschäftsführender Herausgeber der Zeitschrift für strategische Analysen SIRIUS.

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