Winfried Nachtwei, von 1994 bis 2009 Mitglied des Deutschen Bundestages, war mehrfach in Afghanistan und beschäftigt sich seit vielen Jahren intensiv mit Land und Einsatz. In seinen zahlreichen Berichten hat er regelmäßig die Lage im Land thematisiert. Der Grünen-Politiker ist Mitglied im Beirat Innere Führung sowie im Beirat der Bundesregierung zivile Krisenprävention und Friedensförderung. Foto: DBwV/Bombeke

16.11.2021
Katja Gersemann

Interview mit Winfried Nachtwei: „Es gibt zu viel Selbstzufriedenheit”

Die Veranstaltungen zum Abschluss des Afghanistan-Einsatzes und der Auftakt der Bilanzierung im Oktober wurden kontrovers diskutiert. Winfried Nachtwei, Afghanistan-Kenner und früherer Sicherheits- und Verteidigungspolitischer Sprecher der Grünen im Bundestag, stellt im Interview klar, warum beides stattfinden musste – jetzt und nicht erst unter Federführung einer neuen Bundesregierung.

Die Bundeswehr: Anfang Oktober gab die Verteidigungsministerin den Startschuss für eine Bilanzierung des Afghanistan-Einsatzes, auch Sie nahmen an der Auftakt-Veranstaltung teil. Der Zeitpunkt – kurz nach den Wahlen – wurde seitens aller Fraktionen heftig kritisiert. Zu Recht?

Winfried Nachtwei: Natürlich war der Zeitpunkt ungünstig, weil die Fraktionen in einem Findungsprozess waren und sich auf die wichtigen Sondierungen und Koalitionsverhandlungen vorbereitet haben. Zugleich ist mir klargeworden, wie wichtig eine schnelle Kommunikation zum Ausgang des Einsatzes jetzt ist. In diesen Wochen läuft bei den Afghanistan-Rückkehrern, -Veteranen und erst recht bei den Verwundeten und den Angehörigen die Verarbeitung des Einsatzes. Da kann man nicht allein auf einen zwangsläufig länger währenden Evaluierungsprozess setzen. Vor diesem Hintergrund war ein Bilanzauftakt notwendig.

Die Evaluierung ist in den vergangenen Jahren immer wieder gefordert worden, auch durch den DBwV. Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass ein solcher Prozess nun tatsächlich stattfindet?

Es ist Konsens im Bundestag, dass es eine Bilanzierung geben muss. Zugleich gibt es bei der Art und Weise der Bilanzierung noch erhebliche Fragezeichen. Vier Ressorts planen eine Evaluierung: Auswärtiges Amt, BMZ und BMI wollen auf der Basis von Ressortevaluierungen einen gemeinsamen Bericht vorlegen. Das BMVg evaluiert separat. Zivil-militärische Schnittstellen werden gemeinsam analysiert. Die Evaluierungen der zivilen Ressorts beschränken sich aber auf die Zeit seit 2013. Damit würde der größte Teil der ISAF-Phase ausgeklammert, in der ganz entscheidende Weichen gestellt und wesentliche strategische Fehler gemacht wurden. Hinzu kommt, dass die politisch-strategische Ebene ausdrücklich ausgenommen ist, das heißt, es werden nur Projekte und Programme und die Effizienz des Mitteleinsatzes untersucht. Wenn man aber die politisch-strategische Ebene außer Acht lässt, gibt es keine kritische Überprüfung der politischen Aufträge und Ziele, des Mitteleinsatzes und der Wirkungskontrolle durch Bundesregierung und Bundestag. Nach meiner parlamentarischen Erfahrung sind hier aber die zentralen Fehler gemacht worden. Dass die Forderung nach unabhängiger Wirkungsevaluierung 15 Jahre lang abgelehnt wurde, kann ich nicht vergessen. Um für künftige Einsätze bestmöglich zu lernen, muss eine unabhängige und ressortübergreifende Evaluation zwingend auch die politisch-strategische Ebene einschließen.

Ihre Prognose: Wird die neue Bundesregierung die notwendigen Schritte gehen?

Ich hoffe und bin skeptisch. Notwendiges gemeinsames Handeln im Einsatz wird noch viel zu oft von Ressortegoismen behindert. Auf höchsten Ebenen gibt es da noch zu viel Selbstzufriedenheit. Einsatzpraktiker drängen hingegen seit langem auf ressortgemeinsame Formate. Die Ressortskonkurrenz um Einfluss wird in Koalitionsregierungen immer wieder durch parteipolitische Konkurrenz verstärkt. Wer aber Kriseneinsätze wirksamer machen will, kommt um deutlich mehr Ressortgemeinsamkeit nicht herum. Eine künftige Bundesregierung braucht den Fortschritt eines zentralen strategischen Ortes – und einer Sicherheitsstrategie. Zu Letztem haben sich die Ampel-Sondierer immerhin schon bekannt.

Die Einsatzrückkehrer sind lange in Politik und Öffentlichkeit nicht wahrgenommen worden. Haben Abschlussappell und Großer Zapfenstreich Mitte Oktober in Ihrer Wahrnehmung etwas bewegt?

Die Abschlussveranstaltungen waren mit Blick auf die Einsatzrückkehrer sehr würdig und der höchste Grad an Wertschätzung durch die politischen Auftraggeber. Die Rede von Bundespräsident Steinmeier war regelrecht eine historische Rede. Ich habe hunderte von Afghanistan-Reden gehört und kann mich an keine erinnern, die so gut und facettenreich war. Seine und auch die Rede der Ministerin haben die Afghanistan-Rückkehrer und deren Leistungen in den Mittelpunkt gestellt, sind aber auch den kniffligen und selbstkritischen Fragen nicht ausgewichen.

 

 

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