Das Flugabwehrraketengeschwader 1 „Schleswig-Holstein“ trainiert das Taktische Schießen des Waffensystems Patriot auf der NATO-Missile Firing Installation auf Kreta. Foto: Bundeswehr/Ekmekcibasi

Das Flugabwehrraketengeschwader 1 „Schleswig-Holstein“ trainiert das Taktische Schießen des Waffensystems Patriot auf der NATO-Missile Firing Installation auf Kreta. Foto: Bundeswehr/Ekmekcibasi

19.04.2022
Josef Braml

Europas Souveränität verteidigen

Die Weltpolitik ist nicht erst seit dem völkerrechtswidrigen russischen Angriff auf die Ukraine im Umbruch. Können wir es uns leisten, diesen Wandel zu ignorieren? Reicht es aus, die alten Rezepte und Strategien zu wiederholen, mit denen die Bundesrepublik sich die weltpolitischen Zumutungen in den letzten Jahrzehnten mehr oder weniger hat vom Hals halten können?

Selbst nach dem Debakel des Afghanistan-Abzugs gab es keine Diskussionen über grundsätzliche Fragen, sondern nur moralische Scheingefechte auf Nebenkriegsschauplätzen. Das ist bemerkenswert für ein Land, dessen Sicherheit prekär ist und dessen international verflochtene Wirtschaft sich den weltpolitischen Gegebenheiten in besonderer Schärfe ausgeliefert sieht.

Anlässlich des Afghanistan-Debakels dominierte in unseren Debatten der Vorwurf an Washington, seine Verbündeten bei einer eigentlich vorhersehbaren politischen Entscheidung nicht konsultiert und informiert zu haben.

Das wohlfeile Schimpfen über die amerikanische Arroganz lenkt im Grunde nur von einem eigenen Versagen ab, dem Versagen nämlich, dass Europa nicht fähig ist, sich selbst zu verteidigen. Das macht uns erpressbar und führt dazu, dass man den deutschen und europäischen Interessen in Washington im Ernstfall genau das Gewicht beimisst, das sie auf die Waage bringen.

Es ist zu begrüßen, dass die Bundesregierung nach dem zweiten Weckruf, Putins Angriff auf die Ukraine, nun verstärkt in unsere Sicherheit investiert. Wie von Washington seit Längerem angemahnt, will sie künftig mindestens zwei Prozent der Wirtschaftsleistung fürs Militär ausgeben. Hinzu kommt das Sondervermögen von 100 Milliarden Euro, das aber nicht – wie mit dem Kauf der F-35-Kampfjets – vorrangig dem wackligen Schutzversprechen der USA Tribut zollen sollte. Das Geld muss vielmehr in eigene militärische Fähigkeiten investiert werden, auch um technisches und industrielles Know-how in Europa zu halten.

Die Bundesregierung sollte sich zur deutsch-französischen Rolle eines Motors für Kerneuropa bekennen, wobei alle Initiativen für andere europäische Staaten offen sein müssten. Es braucht einen Antreiber, denn der sicherheitspolitische Weg hin zu einer Verteidigungsunion – er wurde letztmals in den frühen 1950er-Jahren beschritten, scheiterte dann aber am Veto der französischen Nationalversammlung – wird nicht im Gleichschritt erfolgen, zumal es Selbst- und Fremdblockaden zu überwinden gilt.

Immerhin haben sich Berlin und Paris im Aachener Vertrag ja bereits 2019 auf eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik verständigt. Um die militärische Zusammenarbeit zu stärken und den Weg hin zu einer Europäischen Verteidigungsunion zu ebnen, so heißt es in dem Vertrag, sei nicht zuletzt eine enge Zusammenarbeit der Rüstungsindustrien erforderlich. Den Festtagsreden müssen im Lichte der von Putin verursachten Zeitenwende nun endlich Taten folgen : Berlin und Paris müssen ein Konzept für eine gemeinsame europäische Sicherheitspolitik erarbeiten.

„Berlin und Paris müssen ein Konzept für eine gemeinsame europäische Sicherheitspolitik erarbeiten.“

Was die Kooperation der Rüstungsindustrien betrifft, könnte Europa zum Beispiel das geplante Future Combat Air System (FCAS), das die veralteten Kampfflugzeuge „Eurofighter“ und „Rafale“ ersetzen soll, durchaus in Eigenregie schultern – auch wenn die Kosten im dreistelligen Milliardenbereich liegen. Damit FCAS nicht im politischen Wolkenkuckucksheim endet, müssen zunächst die Wirtschaftsinteressen der bislang konkurrierenden deutschen und französischen Unternehmen austariert werden. Ohne eine verstärkte Achse Berlin-Paris und gesamteuropäische finanzielle Kooperationsanreize für die Rüstungsindustrien weiterer Länder ist nicht auszuschließen, dass FCAS scheitert.

Washington hingegen dürfte kaum an einem Gelingen europäischer Rüstungsinitiativen und Verteidigungsstrukturen gelegen sein. Schließlich würden die Europäer, sollte das FCAS-Projekt erfolgreich sein, nicht nur ihre militärische, sondern auch ihre technologische Abhängigkeit von den USA verringern und ihre eigene Souveränität stärken. Washington will zwar, dass die Europäer mehr Geld für Militär ausgeben – aber vor allem für amerikanische Rüstungsgüter. Der politisch-militärische Komplex in den USA sieht es nicht gern, wenn Verbündete technologisch unabhängig werden. Weil China als militärischer Rivale zu den USA aufgestiegen ist und die USA sich verstärkt nach Asien orientieren, sollte Europa jedoch darauf hinarbeiten, sich selbst verteidigen zu können. Amerikas Abwendung von Europa und seine „Hinwendung nach Asien“ wurde schon von Donald Trumps demokratischem Vorgänger Barack Obama eingeläutet. Und Obamas damaliger Vizepräsident Joe Biden führt diesen Kurs nun umso entschiedener fort, um dem Rivalen China zu begegnen, der in Ostasien Washingtons Hegemonie herausfordert. Amerikas Anspruch, trotz zunehmend knapper werdender Ressourcen eine Weltordnung amerikanischer Prägung aufrechtzuerhalten, dürfte die innerlich geschwächte Weltmacht dazu verleiten, künftig Europas Sicherheitsinteressen noch mehr zu vernachlässigen.

„Staaten und Regierungschefs sind häufig in einem ‚Sicherheitsdilemma‘ gefangen.“

Ebenso wichtig wie die Interessen „befreundeter“ Staaten illusionslos zu analysieren ist es, die Interessensgegensätze und -gemeinsamkeiten mit rivalisierenden Staaten auszuloten. Denn es besteht auch immer die Gefahr, dass die Bedrohungswahrnehmungen beider Seiten sich in selbsterfüllende Prophezeiungen verwandeln. In der militärisch ausgerichteten „realistischen“ Perspektive sind Staaten und ihre Regierungsvertreter häufig in einem Macht- und „Sicherheitsdilemma“ gefangen : Indem Staaten versuchen, ihre eigene Sicherheit durch Machterweiterung zu erhöhen, schüren sie das Misstrauen und die Ängste anderer Staaten und verleiten sie dazu, ihrerseits Vorkehrungen zu treffen. Das individuelle Streben, insbesondere der USA, Chinas und Russlands, nach Sicherheit und Macht erzeugt am Ende nur größere Unsicherheit für alle Seiten.

Deutschland und Europa sollten künftig noch größere diplomatische Anstrengungen unternehmen, um dieses „Sicherheitsdilemma“ im Verhältnis zu Russland und China zu verringern. Es ist problematisch, diese Aufgabe vor allem an die Vereinigten Staaten zu delegieren – deren aktuelle Herausforderungen, Geschichte und Geographie andere geopolitische Interessen nahelegen.

Die Europäer werden vor allem einen eigenen Weg finden müssen, das Verhältnis zu Russland und die damit verbundenen Risiken und Chancen zu handhaben. Denkbar – und historisch bewährt – ist die Kombination zweier Vorgehensweisen : Diplomatie und die durch Putins Vorgehen wieder evident sinnvoll gewordene glaubwürdige militärische Abschreckung.

Indem die Europäer eigene, von den USA unabhängige militärische Fähigkeiten entwickeln – im konventionellen wie im nuklearen Bereich –, können sie Erpressungsversuchen der russischen Führung vorbeugen. Aber auch gegen die Launen einer möglichen zweiten Trump-Präsidentschaft wären sie gewappnet.

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