Gegenüber ist Russland: Am 9. Mai lief eine russische Propaganda-Show – auf estnischer Seite der Grenze sicht- und hörbar. Die estnische Stadt Narva mit ihrem großen russischen Bevölkerungsanteil gilt als potenzielles Ziel russischer Aggression

Gegenüber ist Russland: Am 9. Mai lief eine russische Propaganda-Show – auf estnischer Seite der Grenze sicht- und hörbar. Die estnische Stadt Narva mit ihrem großen russischen Bevölkerungsanteil gilt als potenzielles Ziel russischer Aggression. Foto: picture alliance/Anadolu/Freddy Davies

13.07.2025
Von Yann Bombeke

Die kleinen und großen Provokationen von Narva

In der nordöstlichsten Stadt Estlands ist die Bedrohung durch Russland ganz nah – und durch ständige Provokationen auch täglich spürbar.

Es waren bizarr anmutende Szenen, die sich am 9. Mai in Narva, der drittgrößten Stadt Estlands, direkt an der Grenze zu Russland abspielten. Über den Fluss Narva, der die gleichnamige Stadt vom russischen Iwangorod trennt, dröhnte von russischer Seite über Lautsprecher Militärmusik, während auf der Großleinwand einer unter den Mauern der spätmittelalterlichen Festung Iwangorod aufgebauten Bühne Propagandavideos liefen. Der 9. Mai wird in Russland traditionell als Tag des Sieges über Hitler-Deutschland gefeiert.

Auf estnischer Seite der Grenze, neben einer Reihe von estnischen und europäischen Flaggen, die zur Würdigung des Europatags angebracht wurden, hing ein großes Transparent mit einem zweigeteilten Gesicht. Eine Hälfte des Porträts zeigte Adolf Hitler, die andere Wladimir Putin. „Putler war criminal!“ lautete die Botschaft auf dem riesigen Transparent.

Tiefes Misstrauen gegenüber dem Nachbarn im Osten

Diese grenzüberschreitenden Provokationen mögen an einen Plot aus einem Asterix-Comic erinnern, haben jedoch einen ernsten Hintergrund. Im Baltikum verläuft die wahrscheinlich gefährlichste Grenze zwischen Russland und dem Westen. Auch aufgrund der historischen Erfahrungen hegen Esten, Letten und Litauer ein tiefes Misstrauen gegenüber ihrem großen Nachbarn im Osten, der sie über Jahrzehnte ihrer staatlichen Unabhängigkeit beraubt hatte.

Nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine im Februar 2022 wuchs dieses Misstrauen weiter an – die warnenden Töne vor der imperialistischen Aggressivität Russlands sind bei den Balten so laut wie in Europa nirgends, Polen und die skandinavischen Staaten vielleicht ausgenommen. Und doch wurden diese Warnungen weiter im Westen weitgehend ignoriert, wie auch Bundeskanzler Friedrich Merz bei seiner Regierungserklärung kurz vor dem NATO-Gipfel feststellte: „Viel zu lange haben wir in Deutschland die Warnungen der Balten vor Russlands imperialistischer Politik nicht hören wollen. Wir haben diesen Irrtum erkannt, hinter dieser Erkenntnis gibt es keinen Weg zurück.“

Im Zusammenhang mit dieser Erkenntnis läuft in Litauen der Aufbau der Anfang April aufgestellten Panzerbrigade 45 – die Bundeswehr wird künftig mit mehr als 4800 Soldatinnen und Soldaten und 200 zivilen Mitarbeitern dauerhaft in Litauen präsent sein. Und damit im südlichen Baltikum für Sicherheit und Abschreckung in einer Region sorgen, die als mögliches Angriffsziel Russlands in einem Konfliktfall gilt: Die Grenzregion zwischen Polen und Litauen, bekannt als Suwalki-Korridor. Nur 65 Kilometer Luftlinie trennen hier das russische Kaliningrad vom Territorium von Belarus, einem treuen Verbündeten Moskaus. Die Befürchtung: Mit einem schnellen Vorstoß könnte Russland die Landverbindung zwischen dem Baltikum und Polen und damit zum restlichen Europa kappen.

Doch mit einem klassischen Überfallszenario mit einem schnellen Durchbruchversuch von starken feindlichen mechanisierten Kräften wird allgemein nicht gerechnet – zumindest nicht zum jetzigen Zeitpunkt, wo ein großer Teil der russischen Landstreitkräfte im Überfallkrieg gegen die Ukraine gebunden ist. Man kann jedoch nicht darüber hinwegsehen, dass Russland massiv aufrüstet und im Vergleich zum Westen ein Vielfaches an Rüstungsgütern produziert. Und die gehen nur zum Teil an die in der Ukraine kämpfenden Soldaten: Viel Material wandert in die Depots – Russland rüstet sich für eine mögliche größere Konfrontation mit der NATO. In wenigen Jahren könnte Russland den Westen herausfordern, so die Befürchtung im transatlantischen Bündnis.

Russland baut militärische Infrastruktur an den NATO-Grenzen

Grund zur Sorge geben auch massive russische Investitionen in militärische Infrastruktur entlang der Grenzen zur NATO, etwa bei Kamenka, etwas mehr als 60 Kilometer von der finnischen Grenze entfernt. Im finnischen Verteidigungsministerium wird damit gerechnet, dass Russland nach einem Kriegsende in der Ukraine größere Verbände an die finnische Grenze verlagern wird. „Wir sprechen dann über deutlich höhere Truppenstärken“, sagte Brigadegeneral Pekka Turunen, Chef des finnischen Militärgeheimdienstes, der New York Times. Der Militäranalyst Emil Kastehelmi von der finnischen Organisation Black Bird Group teilt diese Befürchtung: „Russland erweitert Brigaden zu Divisionen, was bedeutet, dass die Einheiten an unserer Grenze um Tausende Soldaten wachsen werden.“

Um der potenziellen Bedrohung zu begegnen, werden in Finnland und den baltischen Staaten erste Maßnahmen getroffen: Die Länder sind aus dem Ottawa-Übereinkommen, das den Einsatz von Antipersonenminen verbietet, ausgetreten. Auch Polen erwägt, seine östlichen Grenzen zu verminen. Und: An den baltischen Grenzen zu Russland werden Panzersperren errichtet. „NATO-Staaten bauen neuen Eisernen Vorhang“, titelte Ende Juni die „Bild“.

Furcht vor „grünen Männchen“

Doch zurück an den nordöstlichen Zipfel Estlands, nach Narva, wo es nach Einschätzung mancher Experten schon früher zu einer Konfrontation mit Russland kommen könnte. In der drittgrößten Stadt Estlands ist die russische Minderheit eine Mehrheit – sie macht rund 90 Prozent der Bevölkerung aus. Der Politikwissenschaftler Prof. Dr. Masala von der Universität der Bundeswehr München beschreibt in seinem Buch „Wenn Russland gewinnt“ ein fiktives Szenario, in dem russische Kräfte die Stadt praktisch im Handstreich besetzen, auch mit Unterstützung einer von Desinformation und Propaganda aufgestachelten Bevölkerung. Der unter britischer Führung stehenden Battle Group mit rund 1700 Soldaten bliebe kaum Zeit, angemessen zu reagieren. Reine Fiktion, gewiss, aber ein Szenario, das nicht zufällig an die Aktivitäten Russlands 2014 in der Ukraine zur Besetzung der Krim und zum Aufstand im Donbass erinnert – Stichwort grüne Männchen.

Wie würde die NATO auf eine solche Aggression reagieren? Wäre die Schwelle zum kollektiven Bündnisfall bereits übertreten? Und: Wäre der politische Wille im Westen überhaupt gegeben, auch mit Blick auf die USA, das Leben eigener Soldaten für eine Provinzstadt mit etwas mehr als 50.000 Einwohnern im Baltikum aufs Spiel zu setzen? Zwar betont die NATO immer wieder, im Ernstfall jeden Quadratzentimeter des Bündnisgebiets verteidigen zu wollen. Dennoch bleiben Zweifel angesichts der Reaktion des Bündnisses auf einen solchen russischen „Test“. An den Absichten des Kreml-Despoten sollte kein indes kein Zweifel bestehen: „Wohin ein russischer Soldat seinen Fuß setzt, das gehört uns“, sagte Wladimir Putin erst kürzlich beim Internationalen Wirtschaftsforum in St. Petersburg.

In Narva testet Russland derweil beinahe täglich, wie weit es gehen kann: Im vergangenen Jahr hatten estnische Behörden Navigationsbojen im Grenzfluss platziert. Nur wenige Tage später war ein großer Teil davon verschwunden – entfernt von russischen Beamten, so der Vorwurf aus Estland.

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