Oberst Stephan Saalow ist Kommandeur des ABC-Abwehrkommandos der Bundeswehr. Foto: DBwV/Sarina Flachsmeier

Oberst Stephan Saalow ist Kommandeur des ABC-Abwehrkommandos der Bundeswehr. Foto: DBwV/Sarina Flachsmeier

14.05.2023
Von Christian Höb

„Geschwindigkeit ist das Gebot der Stunde“

Oberst Stephan Saalow ist Kommandeur des ABC-Abwehrkommandos der Bundeswehr. Im Interview mit unserer Redaktion erklärt er unter anderem, wie groß und aktuell derzeit atomare, biologische oder chemische Bedrohungen sind und wie die Bundeswehr darauf vorbereitet ist.

Herr Oberst Saalow, müssen wir uns in Deutschland Sorgen über eine atomare, biologische oder chemische Bedrohung machen?

Oberst Stephan Saalow: Sorgen sollten wir uns nur, wenn wir jetzt immer noch nichts tun. Bei all unserer Planung in Bezug auf die Ausrichtung, Ausrüstung und auch bei der Ausbildung unserer Soldatinnen und Soldaten muss der mögliche Einsatz und die Gefährdung von ABC-Kampf- und Gefahrstoffen einkalkuliert werden. Ein Einsatz von Kernwaffen auf europäischem Boden ist so wahrscheinlich wie nie zuvor seit Bestehen der NATO. Wir haben einen Gegner, der dazu in der Lage wäre, dieses Mittel einzusetzen und uns ständig damit droht. Wir haben darüber hinaus weitere Staaten, die intensiv an Waffentechnik und deren Verbringung arbeiten und uns oder unsere NATO-Partner bedrohen. Im russischen Arsenal befinden sich über 4000 einsatzfähige Nuklearwaffen, von denen ungefähr 1800 zur taktischen Verwendung auf dem Gefechtsfeld gegen Erd-, Wasser- oder Luftziele vorgesehen sind. Dazu kommt die Weiterentwicklung von Waffen- und Trägersystemen. Als Beispiel seien hier Hyperschallraketen mit der Bezeichnung „Kinschal” erwähnt. Sie sind nach Einschätzung der NATO mit herkömmlicher Flug- oder Raketenabwehr kaum abzufangen.

Dieser Blick auf die nukleare Bedrohung ist erschreckend genug. Wie sieht es denn mit Blick auf chemische oder sogar biologische Bedrohung aus?

Auch hier wird die Lage leider bedrohlicher. Russland hat bewiesen, dass es in der Lage ist, dieses Mittel – wenn momentan auch nur als Mittel für gezielte Anschläge – zu wählen. Der Fall um den Nervenkampfstoff der sogenannten Nowitschok-Gruppe im Jahre 2018 in Großbritannien zeigt, dass bereits kleinste Mengen von chemischen Kampfstoffen eine signifikante Auswirkung haben können. In der Aufarbeitung und Nachbereitung dieses Ereignisses wurden über 100 britische Soldaten zehn Monate lang eingesetzt. Diese verbrachten mehr als 12.800 Stunden in ABC-Schutzkleidung. Dabei wurden über 7000 Proben analysiert und über 500 Kubikmeter toxischer Abfall verbrannt. Dieser Aufwand ist das Resultat von vermutlich 100 Milligramm dieses Kampfstoffs.

Darüber hinaus zeigt uns der Krieg in der Ukraine, welche Ableitungen wir durch die Freisetzung industrieller Gefahrstoffe – gezielt oder kollateral – treffen müssen. Ein Augenmerk muss auf multiple Lagen mit bewusster Manipulation gelegt werden. So hätte zum Beispiel eine Freisetzung von 120 Tonnen Chlor aus einem angegriffenen Lager in der Ostukraine bei entsprechenden Wetterbedingungen auch noch in mehreren Kilometern Entfernung zur gesundheitlichen Gefährdung geführt. Im Bereich der biologischen Szenarien ist in den nächsten Jahren ein zunehmender Druck durch synthetisch angepasste Stoffe zu erwarten. Akteuren wird es möglich sein, mit überschaubarem Aufwand durch Biotechnologie im Rahmen von „Dual-Use” eine hohe Wirkung zu erzielen. In letzter Zeit rücken Toxine, das heißt in der Natur vorkommende, teilweise eiweißartige, spezifisch wirkende Giftstoffe, zunehmend in den medialen Fokus. Dies ist mit deren leichter Verfügbarkeit, teilweise einfachen Gewinnung und großer letaler Wirkung zu begründen. So ist beispielsweise eine Vergiftung mit wenigen Milligramm Rizin, einem pflanzlichen Toxin aus den Samen der Rizinuspflanze, fast immer tödlich.

Angriffe sind mit hoher Wahrscheinlichkeit auch hybrid und unterhalb der Schwelle eines formellen Krieges zu erwarten. Dazu gehören gezielte – auch Cyber-Angriffe – auf kritische Infrastruktur mit dem Ziel der Freisetzung von zum Beispiel toxischen Gefahrstoffen. Ist die Bundeswehr darauf vorbereitet?

Konzeptionell sind wir – wie so oft – hervorragend aufgestellt. Das System ABC-Abwehr in der Bundeswehr setzt genau hier an. Die durch das ABC-Abwehrkommando der Bundeswehr erstellte ABC-Bedrohungs- und Risikoanalyse und die daraus folgende Beratung und Empfehlung für bedrohungsangepasste Schutzstufen, ebenso wie die Priorisierung der qualifizierten Kräfte der ABC-Abwehr, ist eine wesentliche Grundlage. Wir haben in allen Befähigungsstufen gutes bis hervorragendes Material – zumindest geplant. Es fehlt uns – wie so oft – aber die Quantität. Einfach gesagt: Wir haben zu wenig. Für die Reserve, auf die wir uns laut Fähigkeitsprofil der Bundeswehr besonders für Heimatschutz und Host Nation Support abstützen, heißt „zu wenig” sogar „gar nichts”. Hier herrscht dringender und schneller Handlungsbedarf.

Die ministerielle Entscheidung zur Aufstellung eines dritten ABC-Abwehrverbandes in Strausberg ist klarer Beweis dafür, dass die ABC-Abwehrkräfte der Bundeswehr insgesamt viel zu klein aufgestellt sind, aktiv wie nicht aktiv – und über alle Systemverbünde hinweg. Nun gilt es, die seit einem Jahr angekündigte Zuweisung von Ressourcen, sprich Dienstposten und Material, umzusetzen.

Sie führen das Fähigkeitskommando seit fast eineinhalb Jahren. Was bedeutet dies in der sogenannten Zeitenwende für Sie?

Zuerst einmal bedeutet es, dass ich die Verantwortung über das gesamte System der ABC-Abwehr in der Bundeswehr habe. Zusätzlich, und das wird oft vergessen, trage ich die Verantwortung über die gesamte Ausbildung des mittleren feuerwehrtechnischen Dienstes der Bundeswehr.

Über die Kräfte der qualifizierten Befähigung hinaus, also die klassischen ABC-Abwehrkräfte, bedeutet dies auch die konzeptionelle Verantwortung über die Basis und die erweiterte Befähigung in der ABC-Abwehr. Einfach ausgedrückt, geht es hier um das Material für die ABC-Abwehr in der Bundeswehr. Von der Schutzmaske bis zum Messgerät auf dem Puma, von der Ausbildung der Kompanietruppführer zum ABC-Abwehr-Dienstfeldwebel an Land bis zu den biologischen Probennahmetrupps an Bord von Schiffen der Marine. Meine Aufgabe besteht darin, die Inspekteure der militärischen Organisationsbereiche bestmöglich bei ihrer Auftragsdurchführung zu unterstützen.

Mit Kräften, mit Beratung und durch Schaffung einer fachlichen Regelungswelt, die Operationsführung ermöglicht und nicht verhindert. Eine gut ausgerüstete, schlagkräftige und selbstbewusste ABC-Abwehr – ausdrücklich in allen Befähigungsstufen – trägt zur Abschreckung möglicher Gegner bei. Die Opportunitätskosten des Gegners werden durch signifikante Verminderung der Erfolgschancen eines Angriffes mit Massenvernichtungswaffen – offen oder verdeckt – so in die Höhe getrieben, dass er es besser unterlässt. Die USA haben dies in der gerade veröffentlichten Nationalen Verteidigungsstrategie als „Abschreckung durch Resilienz“ bezeichnet.

Herr Oberst, was wünschen Sie sich vom neuen Bundesminister der Verteidigung?

„Alle sagten: Das geht nicht. Dann kam einer, der wusste das nicht und hat’s einfach gemacht.“ Ich wünschte mir – und bin zuversichtlich – der Herr Minister ist der Eine. Aber etwas ausführlicher: Die Beschaffung von ausreichend Schutzausstattung für unsere Soldaten muss nun zügig umgesetzt werden. Zügig in Menschenzeit und nicht in Amtszeit. Weiterhin warten wir nun seit über einem Jahr auf die Dienstposten für unseren neu aufzustellenden Verband, so dass wir endlich die Menschen einstellen und ausbilden können. Und zuletzt sollten schnell die Lücken beim Material geschlossen werden. Es muss nur noch gekauft werden. Also Sie hören, Geschwindigkeit ist das Gebot der Stunde.

Unseren Podcast mit Oberst Saalow finden Sie hier.

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