Homosexuelle Soldaten wurden von der Gründung der Bundeswehr im Jahr 1956 an von Vorgesetzen, den Truppendienstgerichten und der zivilen Strafjustiz verfolgt. Erst spät änderte sich diese Praxis. Foto: BMVg

Homosexuelle Soldaten wurden von der Gründung der Bundeswehr im Jahr 1956 an von Vorgesetzen, den Truppendienstgerichten und der zivilen Strafjustiz verfolgt. Erst spät änderte sich diese Praxis. Foto: BMVg

11.10.2020
Von Frank Jungbluth

„Homosexuelle galten viele Jahre lang als Sicherheitsrisiko in der Truppe“

Dr. Klaus Storkmann ist Historiker am Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr. Der Stabsoffizier hat die Ausgrenzung und Verfolgung von homosexuellen Soldaten seit der Gründung der Bundeswehr bis zum Jahr 2000 erforscht. Homosexuelle Soldaten wurden von der Gründung der Bundeswehr im Jahr 1956 an von Vorgesetzen, den Truppendienstgerichten und der zivilen Strafjustiz verfolgt. Die so genannten 175er wurden aus der Truppe entfernt.

Vor wenigen Wochen hat sich Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer für die Diskriminierung Homosexueller in der Bundeswehr entschuldigt und ein Rehabilitierungsgesetz angekündigt. DBwV-Chefredakteur Frank Jungbluth hat für unser Verbandsmagazin "Die Bundeswehr" mit Dr. Storkmann über seine Forschungsergebnisse gesprochen.

Die Bundeswehr:Herr Oberstleutnant, Sie sind der Verfasser der Studie „Tabu und Toleranz – Der Umgang der Bundeswehr mit Homosexualität von 1955 bis zur Jahrtausendwende“. Wie ist es Ihnen gelungen, eine so umfassende Studie zu erstellen?

Storkmann: Am Anfang der Arbeit stand, wie in den Streitkräften die Regel, ein Auftrag. Das BMVg hatte auf Initiative Ursula von der Leyens im Januar 2017 das Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr mit einer Studie zur Aufarbeitung des Umgangs mit Homosexualität in der Bundeswehr beauftragt. Zuerst habe ich mich in die Suche nach Dokumenten und Akten in den Archiven gestürzt. Meine Befürchtung, ob ich in den Akten des BMVg ausreichend Dokumente zu diesem Thema finden würde, hatte sich schnell als unbegründet herausgestellt. Ganze Referate des BMVg hatten sich ausgiebig mit dem Umgang mit Homosexualität in der Bundeswehr beschäftigt – und diese Akten auch archiviert. Zudem fanden sich zahlreiche Urteile und Ermittlungsakten von Truppendienstgerichten.

Wie haben Sie die gut 60 Zeitzeugen ausfindig gemacht?

Beim Studium der in den Archiven zu findenden Akten und Gerichtsurteile fiel mir schnell ein grundsätzliches methodisches Problem auf: Alle diese Papiere beinhalteten stets Problemfälle; seien es Strafurteile, Disziplinarmaßnahmen, Entlassungen, Versetzungen, Beschwerden dagegen und so weiter. Hätte sich die Studie nur darauf gestützt, wäre ein schiefes Bild gezeichnet worden, ein ausschließlich problembeladendes Bild. All die Fälle und Biographien von Soldaten, Unteroffizieren und Offizieren, die nie Probleme im Dienst gehabt haben, finden sich nicht in den Akten. Denn diese Fälle zeichnen sich ja gerade dadurch aus, dass sie nicht in Zusammenhang mit Homosexualität in die Akten aufgenommen worden. Daher konnte der Weg zum ganzen Bild nur über Zeitzeugenbefragungen führen. Unter den mehr als 60 interviewten Zeitzeugen waren gut 30 persönlich Betroffene. Die Suche nach ihnen war schon Detektivarbeit. Beim Zugang zu den früher Betroffenen konnte ich ja auch nicht mit der Tür ins Haus fallen. Da war Fingerspitzengefühl gefragt. Zudem habe ich auch nicht persönlich betroffene Soldaten, die Beobachtungen zum Umgang mit homosexuellen Kameraden beisteuern konnten, befragt; außerdem Politiker, Beamte, Generale und Kommandeure als Entscheidungsträger. Besonders wertvoll für meine Forschung waren Interviews mit früheren Mitarbeitern des MAD, ohne die ich das wohl schwierigste und spannendste Kapitel der Studie nicht hätte schreiben können.

Wie standen Verteidigungsminister und Ministerium in der Geschichte der Bundeswehr zur Homosexualität in der Truppe?

BMVg und Bundeswehr sprachen als homosexuell erkannten Männern generell die Eignung zum Vorgesetzten ab – und zwar pauschal und ausdrücklich ohne Bewertung des Einzelfalls. Ausschlaggebend dafür war ein antizipierter Autoritätsverlust und damit eine Gefahr für die Disziplin der Truppe. Bis Ende der 1990er Jahre scheiterte jeder Versuch von Betroffenen, auf dem Klageweg diese Restriktion aufzuweichen, an den Verwaltungsgerichten. Nach den Vorschriften – und wiederholt gerichtlich bestätigt – hatte ein als homosexuell bekannter Soldat selbst bei besten Beurteilungen keine Chance, sich weiter zu verpflichten oder zum Berufssoldaten ernannt zu werden. Als homosexuell erkannte Soldaten aller Dienstgrade wurden aber in der Regel seit den 1970er Jahren nicht mehr vorzeitig entlassen, anders als beispielsweise in den britischen oder amerikanischen Streitkräften. Bundeswehrsoldaten konnten in der Regel seitdem ihre laufende Dienstzeit ableisten. Dieser Schutz des bisherigen Status galt aber nicht für angehende Offiziere und Unteroffiziere. Bekannte sich ein Offizier- oder Unteroffizieranwärter zu seiner Homosexualität, wurde er wegen angeblicher Nichteignung im vereinfachten Verfahren entlassen.

Trotz der bekannten Restriktionen entschieden sich nicht wenige homosexuelle Männer für den Soldatenberuf. Der Verzicht auf den Berufswunsch wäre einer Eigendiskriminierung gleichgekommen. Ein mit Personalfragen befasster Stabsoffizier, der selbst nicht betroffen war, erinnerte sich an seine Bewertung der Lage im Jahre 1999: „Wir versagten Homosexuellen jede Karriere, obwohl sich die allermeisten von ihnen doch duckten und zurücknahmen, um ja nicht aufzufallen. Diese Männer haben sich trotz dieser Ablehnung und trotz aller Diskriminierung bewusst dafür entscheiden, als Offizier oder Unteroffizier in den Streitkräften zu dienen.“

In den 1980er Jahren kam es zumindest noch zum Karriereknick, wenn die Homosexualität eines Soldaten bekannt wurde. Bis in die 1960er/1970er Jahre gab es auch Entlassungen aus der Truppe und damit einhergehend den Verlust der Existenz. Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer hat erklärt, sie bedauere, was damals passiert ist. Wie kann man die noch lebenden Betroffenen heute rehabilitieren und unterstützen?

Wie nun mit den Ergebnissen der Studie weiter umgegangen wird, ist eine politische Entscheidung. Und die Verteidigungsministerin hat ja schon im Juli und auch jüngst wieder in beeindruckender Klarheit erklärt, dass Sie für die damaligen Diskriminierungen um Entschuldigung bittet. Bei der Präsentation dieser Studie hat die Ministerin auch die Eckpunkte eines Gesetzes zur Rehabilitierung und Entschädigung vorgestellt. Der Ball liegt nun im Feld der Juristen und des Bundestages als Gesetzgeber.

Hat die Kießling-Affäre von 1983, bei der General Günter Kießling zu Unrecht der Homosexualität geziehen wurde, den Wandel hin zur Toleranz beschleunigt?

Die damaligen Presseberichte um die Ermittlungen gegen den fälschlich als homosexuell denunzierten Offizier, der immerhin Vier-Sterne-General und Befehlshaber der Nato-Landstreitkräfte und Stellvertreter des Obersten Alliierten Befehlshabers Europa war, warfen auch einen sehr kritischen Blick auf den Umgang der Bundeswehr mit homosexuellen Soldaten. An der Haltung des BMVg und der Streitkräfte änderte sich aber leider nichts. Einzig die Richtlinien zur Sicherheitsüberprüfung wurden in den 1980er Jahren geändert. Die Bestimmungen für die Sicherheitsüberprüfung standen ja am Anfang des Skandals um den General. Diese alten Regeln werteten Homosexualität zusammen mit anderen als „abnorm“ angesehenen sexuellen Verhaltensweisen generell als Sicherheitsrisiko. Ein 1983 erarbeiteter Entwurf für neue Richtlinien sah vor, dass nun offen bekannte Homosexualität kein Erpressungspotential und mithin kein Sicherheitsrisiko mehr begründe. Beachtenswert ist der Zeitpunkt der Neufassung der Richtlinien zur Sicherheitsüberprüfung. Eine Quelle gibt als Datum des Entwurfs den 10. November 1983 an, gut zwei Monate nach den ersten Ermittlungen des Düsseldorfer MAD im Fall Kießling in der Kölner Homosexuellenszene. Ob in der auffallenden zeitlichen Nähe auch ein kausaler Zusammenhang bestand oder ob es eine zufällige zeitliche Parallelität mit der ohnehin vorgesehenen Neufassung gab, muss offenbleiben. Die neuen Richtlinien für die Sicherheitsüberprüfung traten erst 1988 in Kraft.

In der Studie und durch die Zeitzeugenberichte werden zahlreiche Beispiele über die Diskriminierung von Homosexuellen genannt. Was war hier für Sie das prägnanteste Beispiel?

Jede Zeitzeugenerfahrung war wertvoll und trug Mosaiksteine zur Studie bei. Wenn Sie um ein prägnantes Beispiel bitten, na gut: „Dann brach die Hölle los”, erinnerte sich ein 1981 als Kompaniechef abgelöster Hauptmann. Beste Beurteilungen ließen glänzende Karriereaussichten erwarten. All das war plötzlich nichts mehr wert, denn der Hauptmann war schwul. Dabei hatte der Hauptmann seine sexuelle Orientierung keineswegs bekannt gegeben oder gar demonstrativ öffentlich gemacht, vielmehr wurde sein Privatleben durch eine böse, schicksalhafte Verkettung von Zufällen dem Dienstherrn bekannt. Sein Lebenspartner wurde 1981 zum Wehrdienst eingezogen und sollte nach der Grundausbildung als Ordonnanz im Offizierheim der Kaserne verwendet werden. Die Ordonnanzen waren just jener Kompanie truppendienstlich zugeordnet, die der Hauptmann führte. Beide Männer entschieden sich für die Strategie des „Augen zu und durch!” Es werde schon gutgehen. Dabei standen die Zeichen im Hintergrund bereits auf Sturm. Die Beziehung der beiden Männer war bereits vor der Einberufung des Jüngeren beim MAD aktenkundig geworden.

Der MAD wiederum informierte die höheren Vorgesetzten. Die Division entschied im August 1981, den Hauptmann sofort als Kompaniechef abzulösen und ihn in den Divisionsstab zu versetzen –  aber nur auf dem Papier, denn zugleich wurde er vorläufig des Dienstes enthoben, ihm das Tragen der Uniform und das Betreten der Kaserne verboten und ein Disziplinarverfahren mit dem Ziel der Entfernung aus dem Dienstverhältnis eingeleitet. Beim morgendlichen Antreten der Kompanie sei es „zugegangen wie auf einer Beerdigung“, erinnerte sich der abgelöste Chef.

Sein Lebenspartner wurde ebenfalls sofort versetzt. Er sollte in einer Unteroffizierkellerbar in einer Kaserne bedienen. Dort angekommen, schnitt er sich im Waschraum die Pulsadern auf. Er wurde Gott sei noch rechtzeitig gefunden – und gerettet.

Der Hauptmann konnte seine Entlassung vor dem Bundesverwaltungsgericht abwenden. Er blickt heute als pensionierter Oberstleutnant auf ein „Superberufsleben als Offizier“ zurück.

Gab es Streitkräfte, in denen man Homosexualität nach der sexuellen Befreiung der 1960er und 1970er Jahre liberaler sah?

Homosexualität war und ist ein Thema für alle Streitkräfte der Welt – zu allen Zeiten. Im zeitgenössischen internationalen Vergleich stand die Bundeswehr nicht so negativ da: Anders als die amerikanischen, die britischen und andere Nato-Streitkräfte entließ die Bundeswehr homosexuelle Offiziere und Unteroffiziere seit den 1970er Jahren nicht mehr fristlos. Die US-Streitkräfte führten erst 1993 mit „Don´t ask, don´t tell” eine Regelung ein, wie sie die Bundeswehr so bereits seit den 1970er Jahren praktizierte – ohne dem freilich einen so prägnanten Namen zu geben. Die volle Öffnung der Bundeswehr für Homosexuelle im Jahr 2000 vollzogen die US-Streitkräfte erst elf Jahre später nach. Die Praxis der britischen Streitkräfte, alle homosexuellen Soldaten fristlos zu entlassen, wurde 1999 vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte verurteilt.

Vorreiter im liberalen und toleranten Umgang mit homosexuellen Soldaten waren in der Nato die niederländischen Streitkräfte. Für die Bundeswehr war die liberale Praxis der niederländischen Streitkräfte nicht nur von informativen Interesse, sondern von tatsächlicher Bedeutung. Im deutsch-niederländischen Korps mit Stab in Münster dienten seit 1995 Soldaten beider Nationen gemeinsam. Schon wenige Wochen nach Indienststellung des Korpsstabs befasste sich das BMVg mit etwaigen aus der „außerordentlich liberalen“ Haltung der Niederländer gegenüber homosexuellen Soldaten ergebenen Problemen.

Wie verlief der Meinungswandel im BMVg im Jahr 2000?

Ausschlaggebend für den Kurswechsel des BMVg war die Verfassungsbeschwerde eines Oberleutnants. Er war, noch als Leutnant, 1998 als Zugführer einer Objektschutzstaffel der Luftwaffe abgelöst und in einen Stab versetzt worden. Die Verfassungsbeschwerde 1999 war erstaunlicherweise die erste, die überhaupt zum Umgang der Bundeswehr mit Homosexuellen erreicht wurde. Um eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu vermeiden, vollzog Verteidigungsminister Rudolf Scharping im Jahr 2000 die Kehrtwende – nach anfänglichem Zögern gegen den erklärten Willen der militärischen Führung der Streitkräfte. Diese Entscheidung ist ein anschauliches Beispiel für das Primat der Politik. Durch die außergerichtliche Einigung mit dem Oberleutnant verhinderte das BMVg in letzter Minute, dass die bisherige Praxis als verfassungswidrig eingestuft wurde.

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