Befehlsübernahme: Einen Tag nach der deutschen Wiedervereinigung übernimmt Generalleutnant Jörg Schönbohm am 4. Oktober 1990 als Befehlshaber das Bundeswehrkommando Ost in Strausberg.

Befehlsübernahme: Einen Tag nach der deutschen Wiedervereinigung übernimmt Generalleutnant Jörg Schönbohm am 4. Oktober 1990 als Befehlshaber das Bundeswehrkommando Ost in Strausberg. Foto: Lemo

28.09.2020
Von Generalleutnant a.D. Werner von Scheven

„Uns war klar, dass die NVA keine Zukunft mehr hatte“

In wenigen Tagen ist es 30 Jahre her, dass aus zwei Staaten ein vereinigtes Deutschland, aus zwei zuvor verfeindeten Armeen eine Armee der Einheit erschaffen wurde. Generalleutnant a.D. Werner von Scheven, von 1957 bis 1994 Angehöriger der Bundeswehr, war Kommandeur die Führungsakademie der Bundeswehr, als er im Oktober 1990 als Stellvertretender Befehlshaber des zur Eingliederung der NVA aufgestellten Bundeswehrkommandos Ost nach Strausberg versetzt wurde. Seine Erinnerungen an die turbulente Wendezeit hat er 1995 unter der Überschrift „Kalaschnikow und Deutschlandlied“ in einem längeren Beitrag aufgeschrieben, den wir hier für Sie zusammengefasst haben. Weiter unten finden Sie den Link zum vollständigen Artikel.

Der 9. November 1989 war der einzige Tag der Woche ohne mehr oder weniger Abendprogramm. Als Kommandeur der Führungsakademie der Bundeswehr in Hamburg-Blankenese bereitete ich mich in unserer Dienstwohnung im Park der Akademie auf eine ungewöhnliche Begrüßungsansprache vor. Erstmals sollte es zu einem Besuch der sowjetischen Armee an einer Einrichtung der westdeutschen Streitkräfte kommen. Mit einer Delegation der Moskauer Akademie des Generalstabs „Woroschilow“ erwartete ich vom 11. bis 15. Dezember mehrere sowjetische Generäle, ein wichtiges und spannendes Ereignis für die ganze Bundeswehr.

Aber heute sollte es anders kommen. Telefonisch aufmerksam gemacht, erlebten meine Frau und ich die Fernsehberichte über die Öffnung der Berliner Mauer. Wir waren beide ebenso gefesselt wie angerührt von Bildern und Berichten. Was ich empfand, ist mit Hochstimmung nicht richtig beschrieben. Ich war, wie noch nie bei einem öffentlichen Ereignis, bewegt und ergriffen, war ich doch bis zu meinem 12. Lebensjahr ein Berliner Junge. (…)

Die NVA erlebte die Wende in der DDR als Schock und schwere Herausforderung an ihre Loyalität. Struktur, Ausrüstung und Ausbildung entsprachen im Wesentlichen dem sowjetischen Vorbild. Die langjährige Nachahmung des sowjetischen Modells ließ die professionelle Verständigung unter den beiden deutschen Armeen nach dem 3. Oktober 1990 schwieriger geraten als weithin angenommen. Beide Streitkräfte gehörten verschiedenen, um nicht zu sagen antagonistischen Gesellschaftssystemen an. Die Soldaten in beiden Teilen Deutschlands lebten wie in getrennten Welten, ohne Kommunikation. Zwei gegensätzliche und voneinander ganz verschiedene militärische Kulturen existierten auf dem Boden Deutschlands. Eine der logischen Folgen des Kaltes Krieges und der europäischen Teilung.

Als es im Oktober 1990 zum Beitritt der DDR zur Bundesrepublik Deutschland kam, trat auch ihre Armee zunächst der Bundeswehr bei. Auf einen solchen Fall war niemand in der Bundeswehr vorbereitet, auch nicht in der NVA. Ein Befehl, der sinngemäß gleichlautend in beiden Armeen am 1. Juni 1990 in Kraft trat, brachte erstmals bestimmte Truppenverbände und Schulen in einen geregelten Kontakt miteinander. Von Kontakt war die Rede, noch nicht von Zusammenarbeit. Demnach hatte ich einen Kontakt mit der Militärakademie in Dresden aufzunehmen. Die Delegationen waren ungleich besetzt. Die Führungsakademie hat drei Generaldienstgrade, in Dresden gab es elf. Dies war ein erster Eindruck von der Kopflastigkeit der NVA, wie aller „sozialistischer Armeen“.

Der dienstliche Umgang war bedrückend, war doch der verzweifelte Versuch der Militärakademie, sich eine neue integrationsfähige Bestimmung zu geben, aus unserer Sicht so vergeblich. Selbst ein Institut für Konversion war gegründet worden. Wir hielten uns mit unserem Wissen zurück, dass Konversion – besser Substitution – entweder innerhalb der Marktwirtschaft stattfinden würde oder überhaupt nicht. Uns war klar, dass die NVA keine Zukunft hatte. In einer Kommandeurtagung im Juli 1990 nährte gleichwohl der Minister für Abrüstung und Verteidigung die Hoffnung, dass die NVA auch in einem vereinigten oder konföderierten Deutschland noch über mehrere Jahre eine wichtige Brückenfunktion zum Warschauer Pakt haben würde. Später fand ich in einer Lehrschneiderei der NVA in Berlin neue Uniformen, die Minister Eppelmann in Auftrag gegeben hatte. Sie sahen der der Bundeswehr recht ähnlich.

Gerüchte aus Bonn lenkten die Gespräche in der Führungsakademie im Spätsommer 1990 auf die Möglichkeit, dass Berufssoldaten der NVA auf Dauer in der Bundeswehr integriert werden könnten. Bald bemerkte ich, wie sehr die Meinungen der Dozenten und Lehrgangsteilnehmer auseinandergingen. Die Debatte wurde immer heftiger. Nicht wenige meinten, sie würden lieber die Bundeswehr verlassen, als einem früheren NVA-Offizier zu gehorchen. Ich musste eingreifen und versammelte das ganze Stammpersonal der Akademie im größten Vortragssaal. Allein auf der Bühne moderierte ich den Streit im eigenen Hause, bis ich nach mehr als zwei Stunden mein „Wort zum Sonntag“ sagte: „Wir dürfen nicht die Werte verraten, für deren Verteidigung wir einstehen. Dazu gehört ein Menschenbild, das es verbietet, ein Pauschalurteil über die Organisation eines Mitmenschen auf ihn zu übertragen. (…) Das Zusammenwachsen der Deutschen hat zwar nach Lage der Dinge ein West-Ost-Gefälle, es ist aber keine Einbahnstraße. Wir sollten uns glücklich schätzen, auf dieser Seite des Eisernen Vorhangs zu leben, was sicher ohne Zutun des Einzelnen so gekommen ist. Integration wird eine Aufgabe sein, eine schwierige zumal, aber wir werden sie gemeinsam lösen.“

Nicht vor August gab der Bundesminister der Verteidigung seine Absicht bekannt, dass er die Bundeswehr mit einem verkleinerten Umfang von 370.000 aktiven Soldaten als gesamtdeutsche Streitkräfte auf dem erweiterten Gebiet des vereinigten Deutschland stationieren und bis zu 25.000 Berufssoldaten der Nationalen Volksarmee integrieren werde.

Am 1. Oktober 1990 begann mit dem Austritt der Deutschen Demokratischen Republik die Auflösung des Warschauer Vertrags. Am selben Tag entließ der Minister für Abrüstung und Verteidigung in Strausberg alle Generale und Admirale der NVA, alle Soldaten über 55 Jahre sowie die weiblichen Offizieranwärter, die nicht der Sanitätstruppe angehörten. Die anderen weiblichen Soldaten führte er in ein ziviles Dienstverhältnis über. Die Militärjustiz- und Politkader waren schon früher entlassen worden. Zur selben Zeit wurden rund 1200 Offiziere und Unteroffiziere der westdeutschen Land-, Luft- und Seestreitkräfte noch einmal an drei zentralen Orten der alten Bundesrepublik zusammengezogen. Es waren unter ihnen alle Führungskräfte, die zwei Tage später Befehlsgewalt über die „beigetretene“ NVA übernehmen sollten. Am nächsten Morgen würden sie über die Grenze der untergehenden DDR in Marsch gesetzt werden. Ich kam mit Generalleutnant Jörg Schönbohm – dem Planungsstabsleiter von Minister Stoltenberg – am Nachmittag im Hubschrauber von Bonn nach Hannover geflogen. Dort wurden die etwa 700 Offiziere und Unteroffiziere des Heeres an dessen Offizierschule eingewiesen.

Am Ende eines langen Tages, an dem die westdeutsche Heeresleitung zu hunderten von Fragen das Nötigste mitgeteilt hatte, machte der Inspekteur des Heeres, Generalleutnant Henning von Ondarza, auf einmal Schluss und gab den 700 Heeresangehörigen folgende Parole mit: „Meine Herren, wir haben Ihnen gesagt, was wir wissen. Vieles wissen wir heute nicht; viele Fragen müsse deshalb bis auf Weiteres unbeantwortet bleiben. Fahren Sie morgen früh los an Ihre Bestimmungsorte. Sehen Sie, wer dort ist. Stellen Sie fest, was dort ist. Geben Sie Vertrauensvorschuss an die Führungsverantwortlichen in der NVA. Unterlassen Sie jede Selbstgerechtigkeit und gewinnen Sie deren Loyalität. Sie kennen jetzt meine Absicht und die des Bundesministers. Handeln Sie selbstständig danach. Sie haben gelernt, eine Lage zu beurteilen, auch wenn diese ungewöhnlich ist und viele Ungewissheiten einschließt. Sie haben gelernt zu entscheiden. Entscheiden Sie, was nötig ist, auf der Stelle und melden Sie dann.“ Und genau so wurde es gemacht. Das ließen sich unsere Leute nicht zweimal sagen! Sie spürten einen Ruck der Befreiung. Die Worte des Inspekteurs des Heeres setzten eine solche Tatkraft und Initiative frei, wie sie von vielen gar nicht mehr für möglich gehalten worden war. Die Bundeswehr erlebte mit der Vereinigung die wunderbare Auferstehung der „Auftragstaktik“.

Am 2. Oktober 1990 löste der Minister für Abrüstung und Verteidigung, Rainer Eppelmann, die Nationale Volksarmee auf. Er ordnete Appelle an, um „die mit den Traditionen der DDR in Verbindung stehende Symbolik zu verabschieden“. Er entließ schließlich mit einem Tagesbefehl die noch 92.000 (von ehemals 170.000) Armeeangehörigen und 47.000 Zivilbeschäftigten mit Wirkung vom 3. Oktober – null Uhr – aus ihren Verpflichtungen gegenüber der DDR. Zum letzten Male wurde die bisherige Staatsfahne niedergeholt. (…)

Die ehemaligen Berufssoldaten der Nationalen Volksarmee arbeiteten trotz großer Ungewissheit über ihre Zukunft und unter erheblichen Anpassungsschwierigkeiten loyal und sachkundig mit, um das einmalige Werk des gleichzeitigen Ab-, Um- und Aufbaus einer Armee für das vereinigte Deutschland zustande zu bringen. Sie haben ihr Kapitel in das Geschichtsbuch des Vaterlandes geschrieben und dürfen stolz darauf sein.

Die Bundeswehr im Osten hat an einem Prozess der Vertrauensbildung erfolgreich mitgewirkt und damit in eine sichere Zukunft investiert. Es war nicht selbstverständlich, dass die früheren Vorgesetzten in der NVA von ihren ostdeutschen Rekruten und von ihren westdeutschen Kameraden akzeptiert wurden. Es war nicht absehbar, dass Bundeswehr und sowjetische (später GUS-) Westgruppe der Truppen so gut zusammenarbeiteten, wie es schließlich kam. Die Bundeswehr in den östlichen Bundesländern hat durch die Art und Weise ihrer Auftragserfüllung, vor allem aber durch die gelungene Integration von Berufssoldaten der ehemaligen NVA, das Zusammenwachsen der Deutschen gefördert.

Den vollständigen Beitrag von Generalleutnant a.D. Werner von Scheven finden Sie hier.

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