Zwei Soldaten des 42. Panzergrenadierbataillons der Königlichen Niederländischen Armee besprechen ihren Plan für einen simulierten Angriff während der Übung „Rising Griffin“ 2022. Foto: Flickr/NATO

12.11.2022
Von Heinrich Brauß

Russlands ruchloser Angriffskrieg und die Folgen für Deutschland

Der Autor, Generalleutnant a.D. Heinrich Brauß, war Beigeordneter Generalsekretär der NATO für Verteidigungspolitik und Streitkräfteplanung im Internationalen Stab der NATO in Brüssel. Er beschreibt, was die NATO von Deutschland in der Zeitenwende erwartet.

Russlands ruchloser Angriffskrieg gegen die Ukraine hat die euroatlantische Sicherheitsordnung zerstört. Die Formel, Europas Sicherheit sei nur mit Russland zu gewährleisten, ist ad absurdum geführt. Künftig muss europäische Sicherheit gegen Russland organisiert werden. Zugleich stellt Chinas geoökonomische Machtausdehnung eine strategische Herausforderung für den Westen dar, im Indopazifik und weltweit. Die Partnerschaft zwischen den beiden Autokraten Xi und Putin konfrontiert die demokratische Staatengemeinschaft mit einer strategischen Doppelbedrohung, im euroatlantischen und im indopazifischen Raum.

Die Strategie der NATO

Das neue Strategische Konzept 2022, beschlossen beim NATO-Gipfeltreffen in Madrid Ende Juni 2022, spiegelt die Zeitenwende auf NATO-Ebene wider: Kollektive Verteidigung und Abschreckung sind wieder ihre eindeutige Hauptaufgabe. Die militärische Präsenz entlang der NATO-Ostflanke wird signifikant erhöht. Künftig muss die NATO vor allem im Baltikum, der am meisten exponierten Region, verzugslos mit wirkungsvollen Verteidigungsoperationen beginnen können, um Russland einen schnellen militärischen Erfolg zu verwehren und Zeit zu gewinnen für das Heranführen von Verstärkungskräften. Die multinationalen Battlegroups wurden verstärkt. Sie müssen rasch zu vollen Brigaden und weiter zu Divisionen aufwachsen können. Ihre Zahl wird verdoppelt (neben den baltischen Staaten und Polen nun auch in der Slowakei, Ungarn, Rumänien und Bulgarien). Insgesamt steigt der Umfang der schnell verfügbaren Kräfte der NATO zu Lande, in der Luft und auf See von 40.000 auf 300.000 Truppen. Resilienz gegen Cyberangriffe, Desinformation und subversive Aktionen, aber auch gegen die Abhängigkeit von generischen Mächten bei kritischer Infrastruktur, Lieferketten und Energieversorgung ist für die Handlungsfähigkeit der Allianz von überragender Bedeutung.

Der Beitritt Finnlands und Schwedens ist ein großer geostrategischer und militärischer Gewinn für die NATO – und für Putin eine strategische Niederlage. Im Norden entsteht ein kohärenter Großraum, in weiten Teilen unter NATO-Kontrolle. Die Ostsee wird praktisch ein NATO-Binnenmeer. Die Verteidigung des Baltikums, das nur über den Suwalki-Korridor in Ostpolen mit dem Bündnisterritorium verbunden ist, erhält die nötige räumliche Tiefe für das Heranführen von Verstärkungen. Als Ostsee-Anrainer muss sich Deutschland nun aktiv an der gemeinsamen Planung und Vorbereitung der Verteidigung des gesamten nordisch-baltischen Raums mit Land-, See- und Luftstreitkräften wie auch an entsprechenden Übungen beteiligen.

Die strategische Orientierung der USA und Folgen für Europa

Erstmals wird China in einem Strategischen Konzept der NATO genannt – als systemische Herausforderung für die euroatlantische Sicherheit und die regelbasierte internationale Ordnung. Amerika sieht in China allerdings die eigentliche strategische Gefahr, den wirtschaftlichen Hauptkonkurrenten, geostrategischen Hauptgegner und – als totalitären Staat – den globalen systemischen Rivalen auf allen Ebenen.
 
Die USA werden militärisch in Europa bleiben. Ihre erweiterte nukleare Abschreckung wird Europa weiter gegen Russlands Nuklearpotenzial schützen. Aber der mögliche Haupteinsatzraum der US-Streitkräfte liegt in Fernost. 300.000 US-Truppen sind schon jetzt in der Region präsent, als Schutzmacht der Demokratien im Indopazifik. Sie halten aber auch die Seewege offen, die für Europas Wirtschaften von größter Bedeutung sind. Die Europäer können nicht mehr davon ausgehen, dass künftig alle militärischen Fähigkeiten der USA, die bislang für die Verteidigung Europas vorgesehen sind, im Bedarfsfall hier auch zur Verfügung stehen. Vielmehr müssen sie die USA im euroatlantischen Raum entlasten und erheblich mehr militärische Fähigkeiten für die Verteidigung und Sicherheit ihres eigenen Kontinents aufbringen. Sie müssen, wie in der NATO längst vereinbart, endlich mindestens 50 Prozent der notwendigen Streitkräfte und hochwertigen Unterstützungsfähigkeiten stellen, wahrscheinlich aber mehr. Die Europäer werden auch eine Reihe voll ausgestatteter, einsatzbereiter und durchhaltefähiger Großverbände in Divisions- und auch Korpsgröße stellen müssen. Neben dem Multinationalen Korps Nordost könnte beispielsweise das Deutsch-Niederländische Korpskommando einen multinationalen Großverband führen.

Auch die EU hat erkannt, dass die Europäer in der Lage sein müssen, großangelegte, hochintensive Verteidigungsoperationen zu führen. Sie will daher zur Verteidigung Europas unter Führung der NATO beitragen und zugleich ein geopolitischer Akteur werden. Ihr neuer Strategischer Kompass soll zu einem „Quantensprung“ im Aufbau von zivilen und militärischen Fähigkeiten der Europäer führen – militärisch zu „full-spectrum forces“, die über sämtliche Fähigkeiten verfügen, technologisch auf dem neuesten Stand sind, interoperabel, durchhaltefähig und resilient. Sie sollen durch systematische Kooperation der europäischen Nationen aufgebaut werden, vor allem auch der Rüstungsindustrien, und unterstützt durch den Europäischen Verteidigungsfonds.

Folgen für Deutschland

Die NATO entwickelt nun Verteidigungspläne für die verschiedenen Risikoregionen – vom Hohen Norden, dem Europäischen Nordmeer und Nordatlantik über den Ostseeraum und die Schwarzmeerregion bis hin zum Mittelmeerraum. Daraus werden alle militärischen Fähigkeiten abgeleitet, die das Bündnis für die Verteidigung gegen Russland wie auch für mögliche Krisenintervention benötigt. Es werden mehr und anspruchsvollere als bisher werden. Als Land mit der größten Wirtschaftskraft in Europa wird Deutschland den größten Anteil unter den Europäern übernehmen müssen. Und weiter: Deutschland hat die deutsch-geführte Battlegroup in Litauen verstärkt. Zusätzlich hat Berlin Litauen eine „robuste Kampfbrigade“ zugesagt, die dort bereits mit einem Kernstab präsent ist und deren Truppenteile im ständigen Wechsel zu Übungen dorthin verlegen. Ein intensiver Übungszyklus muss zu größtmöglicher ständiger multinationaler Präsenz in Litauen führen und die effektive Verteidigung zusammen mit der litauischen Armee vorbereiten, einschließlich der Verstärkung durch eine deutsche Panzerdivision.

Als zentral gelegene logistische „Drehscheibe“ sollten wir uns besonders dafür einsetzen, dass in Europa endlich alle politischen und infrastrukturellen Voraussetzungen geschaffen werden, dass NATO-Truppen sehr schnell über mehrere nationale Grenzen und Territorien hinweg in ihre Einsatzräume gelangen können. Das neue Territoriale Führungskommando leistet dazu einen wesentlichen Beitrag. Military Mobility in Europa ist ein großes Gemeinschaftsprojekt von EU und NATO. Aber es geht zu langsam voran. Politische Intervention auf Verteidigungsministerebene tut not.

Der Krieg in der Ukraine hat die überragende Bedeutung von Flug- und Raketenabwehr gezeigt. In Europa herrscht daran ein eklatanter Mangel, weil es in den internationalen Kriseneinsätzen keine Luftbedrohung gab. Die deutsche European Sky Shield Initiative, zusammen mit 14 anderen europäischen Staaten Luftverteidigungssysteme zu beschaffen, die im Rahmen der NATO eine große Region schützen können, ist ein großer Schritt in die richtige Richtung. Er braucht Zeit, ist teuer, verlangt ausdauerndes Engagement und Führung.

Die Bundeswehr muss „zum Grundpfeiler der konventionellen Verteidigung in Europa werden, zur am besten ausgestatteten Streitkraft in Europa“, so will es Bundeskanzler Scholz zu Recht. Strukturreformen, Beschaffung, Bevorratung, Führung und Ausbildung müssen danach ausgerichtet werden, was der anspruchsvollste Auftrag der Bundeswehr verlangt: Bündnisverteidigung ohne lange Vorbereitung. Die ersten Verbände müssen in wenigen Tagen gefechtsbereit in ihren Einsatzräumen sein können.

Mit dem Sondervermögen für die Bundeswehr von 100 Milliarden Euro können wesentliche Fähigkeitslücken geschlossen werden. Angesichts der Weltlage und ihrer Folgen für NATO und EU wird es nicht ausreichen. Daher ist der Beschluss des Bundestages von größter Bedeutung, der die Bundesregierung verpflichtet, nach Ausschöpfen des Sondervermögens die Mittel bereitzustellen, die Deutschland für die Erfüllung der NATO-Streitkräfteziele in ihrer jeweils gültigen Version benötigt. Personal- und Betriebskosten steigen. Der Verteidigungshaushalt muss daher kontinuierlich wachsen. „Zwei Prozent“ des Bruttoinlandsprodukts bleibt ein wichtiger Indikator für faire Lastenteilung und Bündnissolidarität. 904 Millionen Euro (real) für Verteidigung im Jahr 2021 waren für Litauen eine ebenso große Bürde, wie es 63,3 Milliarden Euro (real) für Deutschland gewesen wären.

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