Der Oberbefehlshaber der Nato-Landstreitkräfte Europa-Mitte, General Dr. Hans Speidel (l.), hält am 11. September 1963 in Stuttgart seine Abschiedsrede. Neben ihm steht der Kommandeur der 7. US-Armee, Generalleutnant Hugh P. Harris, vor den Fahnen der Einheiten der siebten Armee. Foto: picture alliance/Harry Flesch

22.07.2022
Von Frank Jungbluth

Zwei Deutsche, die für die NATO bis heute prägend sind

General Hans Speidel, der schon im Ersten Weltkrieg diente, bereitete die Aufnahme der Bundesrepublik in die NATO vor. Manfred Wörner, Reserveoffizier und Verteidigungsminister, war von 1988 bis zu seinem Tod 1994 erster und einziger deutscher NATO-Generalsekretär.

Sie entstammen grundverschiedenen Generationen, man kann auch sagen, sie kommen aus zwei Welten: Zwei Deutsche, Soldaten, Offiziere, zwei Schwaben, die das Nordatlantische Bündnis entscheidend mitgeprägt haben und bis heute prägen. Der eine, Hans Speidel, General, geboren in der Kaiserzeit in Metzingen. Für ihn war es eine patriotische Pflicht: Dem Ruf zu den Waffen, den Kaiser Wilhelm II. am 4. August 1914 ergehen ließ, folgte der 17-jährige Speidel, als er am 30. November 1914 nach dem Notabitur als Fahnenjunker zur Truppe kam. Nach den Schlachten an der Somme und in Flandern, nach zermürbendem Stellungskrieg und Millionen Toten brach die Front im Westen zusammen und mit ihr das Deutsche Kaiserreich. Für Hans Speidel eine neue Zeit, eine Abkehr von alten Gewissheiten und der Beginn des Dienstes in der neuen Reichswehr der demokratischen Weimarer Republik. Im Dritten Reich sollte er hochdekorierter Offizier werden. Aber er schloss sich auch dem Widerstand gegen Hitler an und wurde 1957 als Oberbefehlshaber der Alliierten Landstreitkräfte Mitteleuropa der erste hohe deutsche Offizier in der NATO.

Der andere, Manfred Wörner, hat das Ende des Zweiten Weltkrieges als 11-Jähriger erlebt. Er gehört zum weißen Jahrgang, wird also 1956 nicht zur neuen Bundeswehr eingezogen, will aber dennoch dienen. Also absolviert er von 1966 an Wehrübungen, als er bereits Bundestagsabgeordneter für die CDU ist, wird Strahlflugzeugführer und ist Oberstleutnant d.R., als ihn Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU) 1982 als Bundesverteidigungsminister ins Kabinett beruft.

Wörner ist im besten Sinne konservativ, hält den NATO-Doppelbeschluss, von dem es heißt, er habe die Sowjetunion in die Knie gezwungen, für richtig, sucht die Nähe zu Frankreich, die 1989 mit der Aufstellung der Deutsch-Französischen Brigade deutlich sichtbar wird, und macht sich schon 1989 für ein Jagdflugzeug in europäischer Koproduktion stark. Das hochmoderne Kampfflugzeug ist heute als „Eurofighter“ Rückgrat der deutschen Luftverteidigung. Als Manfred Wörner am 1. Juli 1988 als erster und bisher einziger Deutscher das Amt des NATO-Generalsekretärs übernimmt, werden die ersten Anzeichen einer dramatischen Umwälzung in den Staaten des Warschauer Paktes sichtbar.

„Mit der Vereinigung Deutschlands wird auch die Teilung Europas überwunden. Das geeinte Deutschland im Atlantischen Bündnis freiheitlicher Demokratien und als Teil der wachsenden politischen und wirtschaftlichen Integration der Europäischen Gemeinschaft wird ein unentbehrlicher Stabilisator sein, den Europa in seiner Mitte braucht. Die Entwicklung der Europäischen Gemeinschaft zu einer politischen Union, einschließlich des Entstehens einer europäischen Identität im Bereich der Sicherheit, wird auch zur atlantischen Solidarität und zur Schaffung einer gerechten und dauerhaften Friedensordnung in ganz Europa beitragen.“ Mit dieser Erklärung, die nach dem NATO-Gipfel im Juli 1990 in London veröffentlicht wurde, begann die Zeitenwende für das Bündnis, dessen Auftrag seit der Gründung 1949 vor allem vom Kalten Krieg geprägt worden war.

„Ein Bündnis ohne Gegner“, schrieben die Zeitungen nach dem Gipfel, zu dem der damalige Generalsekretär Manfred Wörner ein halbes Jahr nach dem Fall der Mauer und wenige Monate vor der Wiedervereinigung Deutschlands eingeladen hatte. Und Wörner prophezeite nach dem Londoner Gipfel 1990, was im Jahr 2022 wieder bedeutend ist: „Ohne die NATO ist keine stabile Ordnung vorstellbar, denn Europa und Nordamerika brauchen sich gegenseitig, jetzt sogar noch mehr als vor dem Zusammenbruch des Kommunismus.“ Zwei Monate nach dem NATO-Gipfel in der britischen Hauptstadt wurden im sogenannten Zwei-plus-Vier-Vertrag zwischen der Deutschen Demokratischen Republik, der Bundesrepublik Deutschland sowie Frankreich, Großbritannien, den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion im September 1990 unter anderem die endgültigen mitteleuropäischen Grenzen, und damit das Staatsgebiet des vereinten Deutschlands, festgelegt und erklärt, dass Deutschland keine Gebietsansprüche an andere Staaten stellt. Die Personalstärke der deutschen Streitkräfte wird auf 370 000 Personen festgelegt und erklärt, dass Deutschland auf die Herstellung, die Verfügung über und den Besitz von ABC-Waffen sowie auf das Führen von Angriffskriegen verzichtet. Die Sowjetunion verpflichtete sich, ihre Truppen auf dem Gebiet der damaligen DDR zwischen Elbe und Oder bis Ende 1994 abzuziehen.

Damit geht in Erfüllung, was sich General Hans Speidel und seine Mitstreiter gewünscht hatten, als sie in der Himmeroder Denkschrift von 1950 die Grundsätze für eine neue (west-)deutsche Armee formulierten. Speidel wird danach militärischer Berater des ersten Bundeskanzlers Konrad Adenauer, der den General, damals außer Dienst, 1951 als Chefdelegierten in die Konferenz zur Vorbereitung einer Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG) entsendet. Neue deutsche Truppen sollten in der EVG aufgehen, Frankreich, Belgien, Luxemburg, die Niederlande und die Bundesrepublik sollten Teil der EVG sein. Nach intensiven Verhandlungen und Vorbereitungen scheiterte das Projekt 1954 – die Französische Nationalversammlung lehnte die Verträge ab. Man hatte Angst, die Kontrolle über die eigene Armee zu verlieren, sollte sie in die Europäische Verteidigungsgemeinschaft übergehen.

Damit war diese Mission Speidels beendet, fortan kümmerte er sich um den Beitritt der Bundesrepublik zur NATO. In der Bündnisarmee Bundeswehr, am 12. November 1955 mit dem Eintritt der ersten Freiwilligen in die Truppe offiziell gegründet, wird Speidel als Generalleutnant Chef der Abteilung IV Gesamtstreitkräfte im Verteidigungsministerium. Er hat damit wieder den Rang, den er zuletzt in der Wehrmacht hatte. Dass Speidel nach dem Krieg ein wichtiger Soldat in der neuen deutschen Armee werden konnte, ist neben seiner herausragenden Expertise auch dem glücklichen Umstand zu verdanken, dass der Offizier den Furor der Nazi-Mörder nach dem Attentat auf Hitler am 20. Juli 1944 überlebt. Hans Speidel selbst wusste von den Plänen für Attentat und Staatsstreich und hatte noch versucht, als Stabschef der Heeresgruppe B ihren Kommandeur Feldmarschall Erwin Rommel für den Widerstand zu gewinnen. Die Gestapo ließ Speidel nach dem Attentat verhaften. Er blieb bis Kriegsende eingesperrt, danach gelang ihm die Flucht vor der SS.

Dass Hans Speidel in der neuen Bundeswehr reüssieren konnte, ist wohl auch der Tatsache zu verdanken, dass er als ausgewiesener Fachmann galt, dennoch war sein (Wieder-)Aufstieg umstritten. Vor allem in Frankreich, dort warf man ihm Verstrickung in überhartes Vorgehen der Wehrmacht gegen die Widerstandskämpfer der Résistance vor, waren die Vorbehalte groß, als er im April 1957 als erster deutscher General zum Oberbefehlshaber der Alliierten Landstreitkräfte in Mitteleuropa ernannt wurde. Jetzt war er Vorgesetzter der Gegner von einst, von denen die meisten ihn schätzten, und hatte seinen Dienstposten im NATO-Hauptquartier im Schloss Fontainebleau unweit von Paris. General Charles de Gaulle war einer der erbittertsten Gegner Speidels. Der Anführer des französischen Widerstandes gegen die deutsche Besatzung von 1940 bis 1944 konnte seinen Frieden mit Speidel nicht machen. Als de Gaulle Präsident während der Fünften Republik von 1959 bis 1969 war, setzte er schließlich Speidels vorzeitige Ablösung vom NATO-Spitzenposten durch. 1963 wurde General Hans Speidel verabschiedet, da war er 65 Jahre alt. Ihm ist die Integration der Bundeswehr in die NATO gelungen, eine Aufgabe, die keine leichte war. Man kann sagen, dass Hans Speidel sie bravourös gemeistert hat.

Manfred Wörner, der 1990 noch das Ende des Kalten Krieges feierte und als NATO-Generalsekretär das Bündnis auf die neuen Zeiten nach dem darauf folgenden Zusammenbruch der Sowjetunion einzustellen suchte, war ein Christdemokrat aus Überzeugung und als Militärexperte im Bundesverteidigungsministerium ein Minister, der die Bundeswehr bis ins Detail kannte. Nach seinem Wechsel nach Brüssel 1988 veränderte sich die Welt in atemberaubendem Tempo und manch einer spottete – viel zu früh –, dass dem Bündnis nun der Gegner abhandengekommen sei. Die Wirklichkeit war eine andere, wie sich bald zeigen sollte. Wörner arbeitete vom Londoner Gipfel 1990 an daran, das Bündnis auf die neuen Zeiten auszurichten. Beim NATO-Gipfel in Brüssel 1994 wurde auf Wörners Bestreben bestätigt, dass das Bündnis die Konfliktvermeidung in den Vordergrund stellt.

Sein größtes Vermächtnis ist allerdings die Partnerschaft für den Frieden (Partnership for Peace, PfP), mit der er die früheren Gegner aus der Zeit des Kalten Krieges eng an die NATO binden wollte. 20 asiatische und europäische Staaten, darunter auch Russland, schlossen sich der Verbindung für militärische Zusammenarbeit 1994 an. Manfred Wörner durfte das noch erleben, bevor er am 13. August 1994 wenige Wochen vor seinem 60. Geburtstag in Brüssel verstarb. „Manfred Wörner war ein deutscher Patriot. Die Wiedervereinigung unseres Vaterlandes in Frieden und Freiheit war für ihn – ich habe darüber oft mit ihm gesprochen – die Erfüllung eines Traums. In seiner Funktion als Generalsekretär der NATO hatte er selbst wichtigen Anteil daran, dass in dieser entscheidenden Phase kein Zweifel an der Bündnistreue der Bundesrepublik Deutschland aufkam“, sagte Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl in seiner Trauerrede im Bundestag damals.

Albanien, Bulgarien, Estland, Kroatien, Lettland, Litauen, Montenegro, Nordmazedonien, Polen, Rumänien, die Slowakei, Slowenien, Tschechien und Ungarn sind von den Mitgliedern der PfP im Laufe der vergangenen Jahre zu vollwertigen NATO-Mitgliedern geworden. Finnland und Schweden sind nach dem Überfall Russlands am 24. Februar 2022 auf den PfP-Staat Ukraine auf dem Weg in die NATO.

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