Annette und Dr. Reinhard Erös bei einer Schuleröffnung. Foto: privat

Annette und Dr. Reinhard Erös bei einer Schuleröffnung. Foto: privat

27.12.2020
Gunnar Kruse

„Ich sehe nur ein kleines Licht am Horizont”

Seit mehr als drei Jahrzehnten engagiert sich Dr. Reinhard Erös ehrenamtlich in Afghanistan. Im Interview mit unserer Redaktion spricht der ehemalige Bundeswehr-Offizier und Initiator der „Kinderhilfe Afghanistan” unter anderem über die aktuelle Lage in dem Land und die Rolle der deutschen Streitkräfte.

Wie schätzen Sie die humanitäre Lage vor Ort in Afghanistan ein?

Reinhard Erös: Das Resümee im „Afghanistan Human Development Report 2018“ von UNDP lautet: „Die humanitäre Lage eines Großteils der Bevölkerung hat sich gegenüber der Taliban-Herrschaft nicht verbessert.“ UNICEF veröffentlichte ein Jahr zuvor zur Lage der Kinder: „Afghanistan ist der schlimmste Platz für Kinder auf dieser Welt.“ Beide Aussagen spiegeln auch meine Erkenntnisse aus den Ostprovinzen, in denen ich seit 20 Jahren arbeite, wider: 30 Prozent der Kleinkinder sind unter-, fehl- und mangelernährt. Im Ranking der Säuglingssterblichkeit liegt das Land einsam auf Platz 1, deutlich sogar vor Jemen und Mali.

Seit dem Sturz der Taliban hat das Land inzwischen auch Platz 1 im weltweiten Korruptionsindex eingenommen. Im Unterschied zu allen anderen Entwicklungsländern hat der Westen seit 2002 aber mehr als 1,1 Billionen Euro in Afghanistan investiert.  „Mit diesem Betrag hätte man – so kalauerte jüngst ein Journalist in Kabul – alle Afghanen inklusive der Taliban zu Millionären machen können“.

Ein großer Teil der Jugend sieht daher im Land keine positive, lebenswerte Perspektive mehr. Seit 2015 sind neben Syrien aus keinem anderen Land so viele Menschen zu uns geflohen wie aus Afghanistan. Entwicklungsminister Müller, CSU, konstatierte 2017 nach seiner Rückkehr vom Hindukusch: „Dort sitzt noch immer eine Million junger Männer auf gepackten Koffern.“ Einzige kleine Korrektur meinerseits: Afghanen fliehen nicht mit Koffern, sondern mit Rucksäcken.

Was müsste mehr für die afghanischen Kinder getan werden?

Die Kinderrechtskonvention von UNICEF beinhaltet in seinen zehn Artikeln das Recht auf Gesundheit, Bildung, Ausbildung, Schutz vor Gewalt und Kriegsfolgen. Rechte also, die in Afghanistan in besonderer Weise missachtet werden. So sind es bei den Kämpfen nicht immer nur die Aufständischen, welche rücksichtslos Leben und Gesundheit der Kinder missachten. Associated Press, die weltgrößte Presseagentur, hat 2010 in allen 34 Provinzen eine seriöse Recherche zur Kindersterblichkeit bei Kampfhandlungen durchgeführt. „346 children have been killed last year, more than half by Nato“. Neben den Kollateralschäden durch Bombardements der Nato und durch Anschläge der Taliban sind es vor allem die seit dem Krieg der Sowjets noch immer millionenfach vorhandenen Minen, vor allem die handtellergroßen Plastikminen vom Typ PMF1, bei denen Kinder verstümmelt und getötet werden. Wir unterrichten daher in unseren Schulen alle Kinder regelmäßig im Fach „mine awareness“ über den Umgang mit diesen sogenannten Spielzeugminen und mit Blindgängern.

Die Bundeswehr ist seit fast 20 Jahren im Einsatz in Afghanistan. Was ist aus Ihrer Sicht im Laufe der Jahre besonders gut gelungen – und was hätte besser laufen können?

Zur Frage: „Besonders gut gelungen?“ fällt mir im Augenblick eigentlich nichts Nennenswertes ein. Ein Oberst i.G. und Bundestagsabgeordneter hat sich hierzu kürzlich geäußert: „Unsere oberste militärische Führung hat die Regierung von Anfang an falsch beraten.“ Nicht überrascht hat mich daher 2015 die seltsame Aussage eines Bundeswehr-Generals „Unser Einsatz in Afghanistan war erfolgreich. Die afghanischen Streitkräfte werden nach unserem Abzug die Sicherheit im Land garantieren.“ Fast wortgleich klang 1989 General Gromow beim Rückzug der Sowjettruppen über den Amu Darja: „Wir haben unsere sozialistische Bruderpflicht erfüllt und verlassen heute stolz und glücklich ein stabiles Afghanistan.“ Die Realität war damals wie heute eine andere.

Wie ist Ihrer Einschätzung nach das Image vor allem der Bundeswehr in Afghanistan?

Wenn man das Wort „Image“ mit Ansehen übersetzt, dann hat die Bundeswehr seit Langem nicht nur kein schlechtes, sondern gar kein Ansehen. Ansehen hat was mit Anschauen zu tun. „Seit Jahren haben wir keine deutschen Soldaten mehr gesehen. Sie sind feige und verstecken sich nur noch hinter meterdicken Betonmauern in Lagern“, sagen mir immer wieder meine afghanischen Freunde.

Der Luftschlag von Kundus im September 2009 mit mehr als 100 Toten, darunter auch viele Kinder, und die darauffolgende Beförderung des verantwortlichen Oberst hat dem Ansehen Deutschlands vor allem unter den deutschfreundlichen Paschtunen enorm geschadet.

Die USA, aber auch Deutschland wollen ihre Soldaten aus Afghanistan abziehen. Wie beurteilen Sie diese Entscheidung?

Die USA werden unter der neuen Administration vom Hindukusch nicht komplett abziehen. Die geostrategische Lage des Landes an der Grenze zu den Atomstaaten China und Pakistan und zum brandgefährlichen Iran ist für die USA zu wichtig. Im Bündnis mit einem Präsident Biden wird dann auch Deutschland bleiben.

Wie könnte sich Deutschland auch ohne Truppen im Land künftig einbringen?

Ähnlich, wie sich Deutschland seit den 1920er Jahren bei der Entwicklung des Landes uneigennützig engagiert hat. Nur einige Beispiele: 1924 Gründung eines deutschen Gymnasiums mit deutschen Lehrern und einem deutschen Abitur. Das Amani Gymnasium war über Jahrzehnte die beste Schule des Landes. In den Ostprovinzen wurde von Siemens der größte Staudamm, in Nangahar eine pädagogische, in Paktia eine technische Hochschule und an der Universität Jalalabad eine medizinische Fakultät errichtet. In keinem anderen Land haben sich von 1950 bis zum Einmarsch der Sowjets mehr deutsche Entwicklungshelfer engagiert als am Hindukusch. Es gilt also, jetzt wieder da ansetzen, wo wir schon mal waren: Moderne Bildung für Buben und Mädchen, Ausbildung in Berufen, die im Land benötigt werden, Unterstützung bei der Schaffung von fair bezahlten Arbeitsplätzen auch im nichtakademischen Bereich, Bekämpfung der Opiumproduktion durch technische und finanzielle Hilfe in der Landwirtschaft.

Beim Wiederaufbau kann und sollte man auch die vielen tausend jungen Flüchtlinge bei uns in die Pflicht nehmen. Alles getreu nach Napoleon: „Wer die Jugend hat, dem gehört die Zukunft.“

Sie haben sich bereits in den 80er Jahre während der sowjetischen Besatzung als Arzt im afghanischen Kriegsgebiet engagiert. Was hat sich heute geändert?

Ich habe von 1986 bis 1990 von der Bundeswehr unbezahlt beurlaubt als Arzt im Land gearbeitet. Damals kämpften fast alle Afghanen in einem asymmetrischen Krieg gegen die „gottlosen“ sowjetischen Besatzer. Ihr zehnjähriger Kampf war erfolgreich, hat aber zirka 1,2 Millionen Afghanen das Leben gekostet. Seit 2001 kamen „nur“ etwa 100.000 Zivilisten ums Leben.

Auch der heutige Krieg ist ein asymmetrischer. Primitiv ausgestattete Taliban kämpfen seit 20 Jahren gegen die modernste Armee einer aus ihrer Sicht ebenfalls „gottlosen“ Welt. Sie befinden sich aus ihrer – nachvollziehbaren – Sicht auf der Siegerstraße. Der alte Fuchs Kissinger hat wohl auch in Afghanistan Recht mit seiner Erkenntnis aus dem Vietnam-Krieg: „Guerilla gewinnt, wenn sie nicht verliert. Eine reguläre Armee verliert, wenn sie nicht gewinnt.“

2002 wurden Sie als Oberstarzt vorzeitig pensioniert. Was waren dafür Ihre persönlichen Beweggründe?

Den der Mafia-Sprache entnommenen Begriff des Freundes eines „lupenreinen Demokraten“ Putin von der „uneingeschränkten Solidarität“ an den US-Präsidenten G.W. Bush  – „Wir sind auf einem Kreuzzug“ – würde ich nie in den Mund nehmen. Den Satz des von mir ansonsten hoch geschätzten damaligen Verteidigungsministers Struck „Deutschland wird am Hindukusch verteidigt“ kann ich noch heute nicht nachvollziehen. Unter solchen Oberbefehlshabern wollte ich 2002 nach 35 Jahren als Soldat nicht mehr dienen.

Sie und Ihre Familie engagieren sich seit mehr als 30 Jahren ehrenamtlich in Afghanistan. Woraus schöpfen Sie nach so langer Zeit die Energie, weiterzumachen?

Wir können es. Wir sind erfolgreich. Es macht mir, meiner Frau und unseren fünf erwachsenen Kindern (fast) jeden Tag viel Freude.

Glauben Sie daran, dass sich Afghanistan jemals befrieden lassen kann?

Wenn ausländische Mächte sich endlich uneingeschränkt raushalten: Ja. Das saudi-arabische Produkt der Taliban muss an seiner Wurzel bekämpft werden. Hier sehe ich derzeit nur ein kleines Licht am Horizont. Aber: Das Land hat in seiner mehrtausendjährigen Geschichte schon schlimmere Zeiten erlebt. Vertrauen wir den Afghanen.


Informationen zu Oberstarzt a.D. Dr. Reinhard Erös bietet Wikipedia.  Zur privaten Initiative „Kinderhilfe Afghanistan” der Regensburger Familie Dr. med. Reinhard und Annette Erös sind weitere Informationen unter www.kinderhilfe-afghanistan.de zu finden.

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