Deutschland müsse einsatzfähige Streitkräfte haben, wenn es seinen Beitrag im Bündnis leisten will, sagte Armin Laschet, Kanzlerkandidat der Union, im Interview mit der US-amerikanischen Journalistin Melissa Eddy. Foto: picture alliance / Flashpic | Jens Krick

Deutschland müsse einsatzfähige Streitkräfte haben, wenn es seinen Beitrag im Bündnis leisten will, sagte Armin Laschet, Kanzlerkandidat der Union, im Interview mit der US-amerikanischen Journalistin Melissa Eddy. Foto: picture alliance / Flashpic | Jens Krick

19.06.2021
Von Frank Schauka

Armin Laschet im Interview: „Russland muss die besetzte Ost-Ukraine verlassen“

Armin Laschet, der Kanzlerkandidat von CDU und CSU, redet Klartext zur Lage der Sicherheit beim German Marshall Fund’s Brussels Forum.

Berlin. Der Kanzlerkandidat von CDU/CSU, Armin Laschet, verlangt eine Verstärkung von Bundeswehr und Nato – auch im sicherheitspolitischen Eigeninteresse der Bundesrepublik. Das von allen Nato-Alliierten vereinbarte 2-Prozent-Finanzierungsziel müsse erreicht werden, „um die Sicherheit des Bündnisses insgesamt zu gewährleisten“, sagte der CDU-Parteivorsitzende und nordrhein-westfälische Ministerpräsident in einem kürzlich in der NRW-Landesvertretung in Berlin geführten und am Donnerstagabend, 17. Juni 2021, vom German Marshall Fund’s Brussels Forum ausgestrahlten Interview.

Die Gewährleistung der Bündnissicherheit „geht nicht nur mit Worten“, betonte Laschet. „Deutschland muss einsatzfähige Streitkräfte haben, wenn es seinen Beitrag im Bündnis leisten will. Wir erwarten, dass das Bündnis nach Artikel 5 uns beisteht, wenn wir in Not sind. Dann muss man auch selbst seinen Beitrag leisten“, entgegnete Laschet auf die Frage der Deutschland-Korrespondentin der New York Times, Melissa Eddy, warum er sich so stark für die Einhaltung des 2-Prozent-Ziel einsetze. Im Jahr 2020 betrugen die Verteidigungsausgaben in Deutschland 1,56 Prozent der Wirtschaftsleistung. Das waren 51,6 Milliarden Euro.

„Russland muss die besetzte Ostukraine verlassen“, forderte der Unions-Politiker zudem, der nach jüngsten Wahlprognosen zur Bundestagswahl am 26. September 2021 die derzeit besten Chancen auf das Amt des Bundeskanzlers hat.

Grundsätzlich tritt Armin Laschet – abhängig vom jeweiligen Einzelfall – für ein massiveres Auftreten Deutschlands bei Auslandseinsätzen ein. Auf die Interview-Frage „Heißt das, Sie wären bereit, dass das deutsche Militär eine stärkere Rolle in der Welt einnimmt?“, antwortete der CDU-Politiker: „Es hängt von der Frage ab: Was ist der Einsatz? Was ist die Aufgabenstellung? Und da, finde ich, kann Deutschlands Rolle gestärkt werden. Wir können, wenn es erforderlich ist, noch mehr tun. Man muss den Einzel-Einsatz natürlich bewerten.“

Zugleich wies Laschet den Vorwurf zurück, Deutschland sei bei Auslandseinsätzen bislang „sehr zurückhaltend“ gewesen. „Ich finde das nicht“, sagte Laschet. „Die Bundeswehr ist beispielsweise über Jahre in Afghanistan gewesen. Viele deutsche Soldatinnen und Soldaten haben da ihr Leben gelassen, auch in Einsätzen, die robust waren.“ In Mali sei die Bundeswehr ebenfalls im Rahmen einer Mission präsent.

Sämtliche militärischen Fähigkeiten und Optionen unterliegen bei dem gläubigen Katholiken Laschet – selbstverständlich – dem Primat der Diplomatie. „Es ist besser zu reden, als gar nicht zu reden. Denn dann gilt das Recht des Stärkeren. Und das ist der falsche Weg.“

Chinas Aufstieg zu einer militärischen, ökonomischen und technologischen Weltmacht stellt die westliche Wertegemeinschaft nach Laschets Einschätzung vor eine größere Herausforderung als der Kalte Krieg mit der Sowjetunion und dem Warschauer Pakt. Die moralische Haltung des Westens sowie dessen überlegenes Wirtschaftssystem haben laut Laschet „mit dazu geführt, dass der Kommunismus zusammengebrochen ist“. Doch nun erlebe der Westen mit China einen Staat, „der andere Werte hat und der wirtschaftlich auch noch erfolgreich“ ist. „Es ist eine ganz andere Situation, was diesen Wettbewerb der Systeme anspruchsvoller macht.“

Diese konfrontative Situation, die maßgeblich von einem „Streit der Gesellschaftsbilder“ bestimmt ist, könnten die Vereinigten Staaten von Amerika und Europa nur mit einer koordinierten Politik erfolgreich bestehen, so Laschet. „Das kann Europa nur mit dem transatlantischen Partner.“ Dies gelte für „friedenspolitische Aktivitäten“ ebenso wie für Entwicklung und Einsatz von Künstlicher Intelligenz. Man könne, so wie China, Künstliche Intelligenz entwickeln „und die ganze Bevölkerung überwachen“. Die – den liberalen westlichen Demokratien entsprechende – Alternative dazu laute jedoch: „Man kann auf dem gleichen technologischen Stand sein, aber andere, dem Menschen angemessenere Standards entwickeln.“

Kritisch merkte Laschet an, China missbrauche sowohl die Corona-Pandemie als auch das wirtschaftliche Engagement in Asien, Afrika sowie in Europa für die Durchsetzung seiner globalen Machtinteressen. „Nicht in Ordnung“ sei es, wenn China das Seidenstraße-Projekt nutzt, „kritische Infrastruktur in Ländern Afrikas zu übernehmen und damit politischen Einfluss auszuüben“. Diese Strategie verfolge China aktuell auch in der Corona-Pandemie. „Das Gleiche passiert jetzt mit dem Impfstoff“, warnte Laschet. „Mit dem Impfstoff wird in Afrika Abhängigkeit erzeugt, die wir wahrnehmen müssen.“

Nur mit durchdachten, langfristigen Konzepten könne die westliche Wertegemeinschaft der Expansion Chinas entgegenwirken. „Deshalb ist die Initiative des amerikanischen Präsidenten, bedingungslos Impfstoff auch nach Afrika und in anderen Regionen zu liefern, richtig“, betonte Laschet. „Europa sollte dem folgen!“

Um Europa handlungsfähiger zu machen, plädiert der Kanzlerkandidat der Union für „Vertragsänderungen für mehr Europa“. Für die Außenpolitik der EU bedeute dies, „weg von der Einstimmigkeit hin zu Mehrheitsentscheidungen zu kommen“. Im Bereich der Innenpolitik müsse die EU „mehr Zuständigkeit in der Bekämpfung von internationalem Terrorismus, internationaler Kriminalität“ erhalten.

Ebenso erforderlich sei eine gemeinsame EU-Gesundheitsvorsorge. „Es darf nie wieder passieren, dass wir wegen billigster Stoffmasken abhängig sind von einer fremden Macht, in diesem Fall China, und wir jeden Preis zahlen, nur um unsere Krankenhäuser aufrechtzuerhalten“, sagte Laschet. Hier müsse eine „eigene Autarkie in Europa“ entwickelt werden.

Auch auf dem Feld der Klimapolitik müsse die EU – dem US-Vorbild folgend – sich neu orientieren, sowohl europäisch als auch global. So wie US-Präsident Joe Biden den früheren Präsidentschaftskandidaten John Kerry sozusagen zum „Klima-Außenminister“ der Vereinigten Staaten ernannt habe, benötige die EU „gleichermaßen einen Klima-Außenminister“. Und so wie John Kerry Russland, China und viele andere Staaten einbeziehen will, um die Folgen des Klimawandels zu bestehen, so solle auch Europa einen weltweiten klimapolitischen Ansatz verfolgen. „Europa ist zu klein, um den Klimawandel zu bekämpfen“, sagte Laschet.

Ein Grundelement seines politischen Handels hob Armin Laschet besonders hervor: das gesamteuropäische Denken. „Das ist immer das wichtigste Denken“. Deshalb sei es in der Corona-Pandemie von existenzieller Bedeutung für den Fortbestand der Europäischen Gemeinschaft gewesen, die finanziell angeschlagenen Staaten der EU mit gemeinschaftlichen Anleihen zu unterstützen.
„Frau Merkel hat gesagt, das sollte einmalig sein. Sehen Sie das als einen einmaligen Beitrag oder ist da das Tor geöffnet worden?“, fragte Melissa Eddy. „Jetzt“, erwiderte Armin Laschet, „machen wir das nur einmalig.“

Die Journalistin der New York Times hakte nach: „Und es bleibt dabei?“ Armin Laschet antwortet so: „Das ist eine finanzielle Vorausschau für sechs Jahre, die wir beschlossen haben, d.h. bis zum Jahre 2027. Ich finde die Botschaft, dass es ein einmaliger Akt ist, richtig.“

 

Lesen Sie hier das vollständige Interview:
 

Melissa Eddy:Was heißt es, Transatlantiker zu sein heutzutage?

Armin Laschet: Wenn man das sagt, kommt auch eine lange Lebenstradition, die man mit sich trägt, zum Ausdruck. Meine Stadt Aachen beispielsweise war die erste Stadt, die von Westen her befreit wurde, schon im Oktober 1944. Und deshalb war seit meiner Jugend diese Erzählung, dass wir von den Amerikanern befreit wurden, eine Erzählung, die man gelernt hat, als man groß wurde. Das hat sich dann verfestigt, als man sich danach mit politischen Vorgängen beschäftigte. Wir wussten, dass die transatlantische Beziehung insbesondere bis 1989/90, bis zur Wiedervereinigung die Garantie für Freiheit und Sicherheit Deutschlands war.

Dann war die Zeit nach 1990 zu gestalten, und erneut wusste man: Wir werden diese sich verändernde Welt nach dem Fall der Mauer, nach dem Ende des Kalten Krieges nur gemeinsam mit den USA - zu denen wir engste Beziehungen in vielen Bereichen, in Wissenschaft, in Kultur, im Wertebild und in vielem anderen haben - bewältigen.

Dann gab es Aufs und Abs, auch in der amerikanischen Politik. Und wir sind jetzt an einem Zeitpunkt, auch nach der Pandemie, wo wir wissen, es gibt auch einen Streit der Gesellschaftsbilder. Ein Land wie China hat auch die Pandemie bewältigt, aber mit autoritären Mitteln. Und wir als liberale westliche Demokratien wollen zeigen, wir können das auch mit unserem freiheitlichen Menschenbild. Und da ist unser Partner die USA. Der neue Präsident spricht von einer Koalition der Demokraten, derer, die die gleichen Menschenbilder teilen. Wir sind hier in der Vertretung des Landes in Berlin, wir nennen sie immer die „Botschaft des Westens“. Und damit ist nicht nur Nordrhein-Westfalen gemeint, sondern auch die Werte des Westens, die anders sind als in vielen anderen Regionen der Welt.

Aber wie bringt man diese Werte herüber? Wie trägt man sie in die Welt hinaus? Heißt das, dass man darüber redet? Aber man sieht zum Beispiel, dass China viel mehr Impfstoff in der Welt verteilt als der Westen.

Das ist ein Wettbewerb, denen wir annehmen müssen. Im Kalten Krieg war das so: Wir hatten unsere moralische Haltung, und wir hatten das überlegene Wirtschaftssystem. Das hat am Ende mit dazu geführt, dass der Kommunismus zusammengebrochen ist. Jetzt erleben wir, da ist ein Staat, der andere Werte hat, und der ist wirtschaftlich auch noch erfolgreich. Es ist eine ganz andere Situation, was diesen Wettbewerb der Systeme anspruchsvoller macht. Und deshalb müssen wir in der Frage des Impfstoffes, der künstlichen Intelligenz, vieler neuer Technologien auf der Höhe der Zeit sein, damit unser Menschenbild prägend wird.

Also wenn man künstliche Intelligenz entwickelt, kann man Social Scoring nutzen und die ganze Bevölkerung überwachen. Oder man kann auf dem gleichen technologischen Stand sein, aber andere, dem Menschen angemessenere Standards entwickeln - und das kann Europa nur zusammen. Und das kann Europa eigentlich auch nur mit dem transatlantischen Partner. Und daran kann man erkennen: Da ist transatlantische Beziehung plötzlich die Vergrößerung an Möglichkeiten, in der Welt zu wirken. Das gilt dann auch in friedenspolitischen Aktivitäten. Wenn man – ich habe gerade die weißrussische Oppositionspolitikerin, Frau Tichanowskaja, getroffen - Druck auf eine Diktatur machen will, geht leichter, wenn Europa und die USA zusammen agieren. Das gilt in vielen Regionen der Welt.

Zu diesem Zusammenwirken gehört auch die NATO. Sie setzen sich stark dafür ein, dass Deutschland bei dem Zwei-Prozent-Ziel bleiben soll. Warum nehmen Sie diese Position so klar ein?

Erstens ist es wichtig, weil wir es verabredet haben. Es ist immer gut, wenn Staaten etwas verabreden und sich dann daran halten. Deshalb ist die Zielmarke zwei Prozent eine, die nötig ist, um die Sicherheit des Bündnisses insgesamt zu gewährleisten. Und das geht nicht nur mit Worten. Deutschland muss einsatzfähige Streitkräfte haben, wenn es seinen Beitrag im Bündnis leisten will. Und wir erwarten, dass das Bündnis nach Art. 5 uns beisteht, wenn wir in Not sind. Und dann muss man selbst auch seinen Beitrag leisten.

Heißt das, sie wären bereit, dass das deutsche Militär eine stärkere Rolle in der Welt einnimmt? Bisher wird Deutschland als sehr zurückhaltend wahrgenommen.

Das sagt man immer so. Ich finde das nicht. Die Bundeswehr ist beispielsweise über Jahre in Afghanistan gewesen. Viele deutsche Soldatinnen und Soldaten haben da ihr Leben gelassen, auch in Einsätzen, die robust waren. Insofern hat sich Deutschland da verändert. Deutschland hatte nach dem Zweiten Weltkrieg eine andere Tradition. Für Deutschland war es ein sehr großer Schritt, in Afghanistan präsent zu sein. Wir sind im Mali präsent, gemeinsam mit einer Mission. Es hängt einfach von der Frage ab: Was ist der Einsatz? Was ist die Aufgabenstellung? Und da, finde ich, kann Deutschlands Rolle gestärkt werden. Wir können, wenn es erforderlich ist, noch mehr tun. Man muss den Einzel-Einsatz natürlich bewerten.

Sie hatten Russland und Belarus angesprochen. Sie hatten Frau Tichanowskaja zum Gespräch. Da ist die große Demokratie-Frage, und das bringt uns auch auf Russland… Da ist der Druck, den Herr Putin auf die russische Opposition ausübt... Deutschland hat bisher immer auf Dialog gesetzt. Glauben Sie, dass das reicht, um tatsächlich diese Werte herüberzubringen, von denen sie vorhin gesprochen haben?

Die USA haben auch auf Dialog gesetzt. In den nächsten Tagen sieht der amerikanische Präsident den russischen Präsidenten. Es ist immer das richtige Mittel der Außenpolitik - auch mit Staaten, mit denen man manchen Konflikt, viele Nichtübereinstimmungen hat - trotzdem im Gespräch zu bleiben und zu reden.

Aber hat das etwas gebracht, wenn wir uns zum Beispiel den Minsker Prozess anschauen?  Da redet und redet man...

Der Minsker Prozess hat bewirkt, dass der Konflikt, der sich zu einem großen kriegerischen Konflikt hätte ausdehnen können, jedenfalls eingefroren ist. Er ist nicht gelöst. Russland muss die besetzte Ostukraine verlassen. Aber der damals wirklich zu eskalieren drohende Konflikt ist durch den Minsker Prozess in einen politischen Prozess übergegangen. Noch nicht zufriedenstellend, aber es ist besser zu reden, auch in dem Normandie-Format, als gar nicht zu reden. Denn dann gilt das Recht des Stärkeren. Und das ist der falsche Weg.

Sie haben Frankreich angesprochen. Frankreich hat in letzter Zeit sehr viel versucht, um Europa voranzubringen, und Deutschland war nicht immer dabei. Wie beurteilen Sie das? Und wollen Sie das irgendwie anders machen, wenn sie Bundeskanzler wären?

Erstens glaube ich schon, dass Deutschland dabei war. Es gab die berühmte Rede von Präsident Macron in der Sorbonne, wo man immer gesagt hat, Deutschland habe zu spät geantwortet. Nun ist der Stil der Bundeskanzlerin ein anderer als der von Emmanuel Macron. Sie hat immer sehr sorgsam überlegt, was realistisch ist, was wir wie umsetzen können. Und ein Ergebnis anderthalb Jahre nach der Sorbonne-Rede ist der Aachener Vertrag, ein wichtiges Dokument, das den alten Elysée-Vertrag in die heutige Zeit übersetzt mit sehr konkreten Feldern, wo man zusammenarbeiten will. Insofern hat Deutschland auch seinen Anteil geliefert. Ich glaube trotzdem, dass wir nach der Pandemie eine neue Dynamik auch in den europäischen Prozessen brauchen. Am 9. Mai ist der Prozess zur Zukunft Europas gestartet, und ich kann mir vorstellen, dass wir noch einmal einen neuen Anlauf nehmen, auch in der Außenpolitik, um weg von der Einstimmigkeit hin zu Mehrheitsentscheidungen zu kommen. Und dass wir uns auch wieder Vertragsänderungen für mehr Europa vorstellen können.

Was heißt das: mehr Europa?

Bei der Außenpolitik (heißt das) mehr Mehrheitsentscheidungen. Bei der Innenpolitik mehr Zuständigkeit in der Bekämpfung von internationalem Terrorismus, internationaler Kriminalität. Die arbeitet längst grenzüberschreitend, und wir reagieren immer noch mit nationalstaatlichen Mustern. Ich glaube, dass wir da mehr Kompetenzen brauchen. Bei der Forschung und der Entwicklung künstlicher Intelligenz oder all der Themen, die ich am Anfang genannt habe, müssen wir unsere Ressourcen bündeln. Wir müssen nach der Pandemie eine gemeinsame Gesundheitsvorsorge machen. Es darf nie wieder passieren, dass wir wegen billigster Stoffmasken abhängig sind von einer fremden Macht, in diesem Fall China, und wir jeden Preis zahlen, nur um unsere Krankenhäuser aufrechtzuerhalten. Hier zu einer eigenen Autarkie in Europa zu kommen ist eine Aufgabenstellung, die wir haben.

Was wäre Ihr Stil dabei? Eher Macron: große Vision? Eher Merkel: abwarten und schauen?

Laschet-Stil.

Das haben wir noch nicht erlebt, weil wir keine NRW’ler sind. Was ist der Laschet-Stil?

Von jedem der Beteiligten etwas. Ich glaube, die Nüchternheit von Angela Merkel hat manchmal geholfen. In Europafragen habe ich eher die Leidenschaft Macrons. Das liegt vielleicht auch an der Herkunft. Wenn Sie aus Aachen kommen und für Sie Paris räumlich näher liegt als Berlin, wenn Sie in diesem karolingischen Europa großgeworden sind, dann ist da eher das Empfinden, das Helmut Kohl geprägt hat. Und Helmut Kohl hat Europa mit Leidenschaft vorangebracht, auch mit Visionen. Er hat vor allem eines gemacht: Er hat die kleineren Länder auch mitgenommen. Es war nie ein Konzert der Großen, nie nur Deutschland und Frankreich. Er hat sie sich eng mit Mitterrand verstanden. Aber er hat bei den großen Prozessen auch die Luxemburger, auch die Belgier, auch die Niederländer und heute auch die Polen, die Ungarn, die Tschechen mit hineingenommen.

Die Polen, die Ungarn, die Slowenen, das sind alles europäische Partner, wo die Demokratie nicht mehr so auf der Höhe ist wie zum Beispiel in Deutschland oder Frankreich im Moment (Wir nennen das democratic back-sliding). Wie wollen Sie diese Staaten wieder einbinden? Oder denken Sie, dass das nicht mehr nötig ist?

Doch, das ist dringend nötig. Wir haben nach der Pandemie verhindert, dass Nord- und Südeuropa auseinanderfallen, und zwar mit dem großen Wiederaufbaufonds. Zum ersten Mal nimmt die Europäische Union Anleihen auf, weil wir alle wissen, der Binnenmarkt wird nur funktionieren, wenn auch Griechenland, Italien, Spanien, Frankreich stark sind. Wenn einer abfällt, ist der ganze Binnenmarkt gefährdet. Die Pandemie hat niemand verschuldet. Und deshalb ist der Solidarakt jetzt richtig. Damit ist die Nord-Süd-Spaltung aufgefangen. Aber die Ost-West-Spaltung ist damit nicht aufgefangen. Deshalb finde ich, man muss die Rechtsstaatsprinzipien einhalten. Das europäische Recht gilt auch für Polen, auch für Ungarn. Aber wir brauchen trotzdem Wege, wie wir diese Länder auch in ihrer eigenen Geschichte verstehen und wieder stärker in europäische Prozesse einbeziehen. Das gilt sowohl für Ungarn als auch für Polen.

Aber wie gelingt das?

Durch Gespräche, durch Werben, durch Einbeziehen in bestimmte Initiativen. Es gibt ja viele Initiativen, in der Sicherheitspolitik beispielsweise, wo Polen und Deutschland gleiche Interessen haben, wo Polen ein starker Partner in der Nato ist. Dies ist zu nutzen, um auch in anderen Feldern, wo Konflikte sind, ein offenes Gespräch möglich zu machen. Um zu signalisieren: Wir wollen euch aus Brüssel nicht von oben herab behandeln. Denn da liegt gerade bei den Staaten des früheren Warschauer Paktes eine hohe Sensibilität, weil der Freiheitsgedanke verbunden mit dem nationalen Unabhängigkeitsgedanken verbunden war. Das ist bei den Polen und Ungarn ganz stark. Und dies anerkennen und trotzdem die große europäische Vorstellung zu haben, dafür braucht man viele Gespräche und Ideen.

Sie können nicht per Mehrheit bestimmen, ihr müsst Flüchtlinge aufnehmen, wenn eine ganze Gesellschaft das nicht mitträgt. Sondern dann muss man andere Akte finden, wo man Solidarität einfordert. Wenn ich die Polen nehme… Ja, im Verteilen von Flüchtlingen machen sie nicht mit. Aber sie leisten einen eigenen Beitrag für Flüchtlinge aus der Ukraine, aus Weißrussland. Da sind Polen und die baltischen Staaten immer die erste Anlaufstelle. Das sehen wir im Westen viel zu wenig, weil wir immer nur auf den Verteilungsschlüssel der Flüchtlinge aus dem Mittelmeer gucken. Deshalb glaube ich, dass man auch anerkennen muss, was diese Länder leisten.

Sie haben gemeinschaftliche Anleihen angesprochen. Frau Merkel hat gesagt, das sollte einmalig sein. Sehen Sie das als einen einmaligen Beitrag oder ist da das Tor geöffnet worden? Könnte es sich weiter entwickeln?

Jetzt machen wir das nur einmalig.

Und es bleibt dabei?

Das ist eine finanzielle Vorausschau für sechs Jahre, die wir beschlossen haben, d.h. bis zum Jahre 2027. Ich finde die Botschaft, dass es ein einmaliger Akt ist, richtig.

China haben Sie angesprochen. Die chinesische Seidenstraße endet eigentlich bei Ihnen in der Nachbarschaft, in Duisburg. Sie haben jetzt häufig von China als System-Wettbewerber gesprochen. Was heißt das?

China ist immer beides. Es ist System-Wettbewerber und es ist natürlich in manchem auch Partner wirtschaftlicher Beziehungen. Die Seidenstraße hat auch zwei Gesichter. Das eine ist, Handelswege zu beschleunigen. Also: Der Zug, der vom Duisburger Hafen nach Chongqing in der Mitte Chinas fährt, verkürzt die Wege, die ansonsten - eine Woche länger über die Weltmeere und den Suez-Kanal - ebenfalls in Duisburg enden. Es ist also eine effiziente Förderung des Handels, der beiden Seiten nutzt. Insofern ist das in Ordnung. Nicht in Ordnung ist, wenn Seidenstraße dazu genutzt wird, kritische Infrastruktur in Ländern Afrikas zu übernehmen und damit politischen Einfluss auszuüben.

Oder: der Hafen von Piräus - um vom Hafen in Piräus seinen Einfluss auf den gesamten Balkan auszudehnen. Da muss Europa darauf achten, dass sich nicht über Handel politischer Einfluss festsetzt. Übrigens ist das beim Hafen von Piräus von uns selbst mitverschuldet, weil wir die Griechen genötigt haben, den Hafen von Piräus zu verkaufen - und die Chinesen haben ihn aufgekauft. Man muss also manchmal langfristig in seinen Maßnahmen sein. Das gleiche passiert jetzt mit dem Impfstoff. Mit den Impfstoff wird in Afrika Abhängigkeit erzeugt, die wir wahrnehmen müssen. Deshalb ist diese Initiative des amerikanischen Präsidenten, bedingungslos Impfstoff auch nach Afrika und in anderen Regionen zu liefern, richtig. Und Europa sollte dem folgen!

Zurück zu dem Thema „China hat aufgekauft“. Viele Mittelständler fürchten um ihre Zukunft genau aus diesem Grund, dass China immer größer und mächtiger sein wird. Was würden Sie sagen, um diese Mittelständler zu stützen und zu schützen. Was wollen Sie da machen?

Wir brauchen insgesamt im Handel zwischen Deutschland und China Reziprozität. Also: Wir müssen dort wirtschaftlich tätig sein, aber dort sind die Bedingungen so, dass immer ein chinesischer Partner den Haupteinfluss haben muss. Das, was dort zugestanden wird, muss auch hier gelten. Deshalb darf man nicht zulassen, dass Kernsubstanz des deutschen Mittelstandes ohne Gegenleistung aufgekauft wird. Welthandel besteht immer darin, das auch internationale Anteile in Unternehmen fließen. Das machen auch amerikanische und europäische Unternehmen, aber auf Gegenseitigkeit. Und die ist bei China nicht immer gegeben; sie ist meistens sogar nicht gegeben.

Zurück zu Amerika. Joe Biden setzt voll auf die Transformation zur Klima-Neutralität. Das ist ein Hauptziel seiner neuen Administration. China macht das gleiche. Wie sehen Sie da die Zukunft für Deutschland? Viele Kritiker sagen, in Nordrhein-Westfalen setzt die Regierung zu sehr auf die Belange der Fossil-Industrie.

Das ist eine völlige Fehleinschätzung. Aber erst einmal zu den USA: Es hat einen signifikanten Politikwechsel gegeben mit der Wahl von Präsident Biden. Ich habe hier in der Vertretung vor wenigen Tagen John Kerry getroffen, den Klima-Botschafter oder den „Klima-Außenminister“ der Vereinigten Staaten. Es hat mich tief beeindruckt, wie er geschildert hat, wie die gesamte amerikanische Gesellschaft alle ihre Ressourcen jetzt nutzt, um den Kampf gegen den Klimawandel zu gewinnen. Es beeindruckt Europäer immer, wenn Amerikaner alle ihre Ressourcen nutzen, das heißt, die politische Macht, die wirtschaftliche Macht und sogar die Macht der Finanzmärkte. Wenn die Wall Street gesagt: Jetzt ist die Bekämpfung des Klimawandels unser Leitbild, dann hat das schon einen gewissen Einfluss in der Welt. Und John Kerry hat mir gleichzeitig geschildert, dass er Russland, China und viele andere Staaten in der Welt mit einbeziehen will. Das ist ein Beispiel, wo man, auch wenn man Systemgegensätze hat, doch eine Gemeinsamkeit finden kann. Deshalb ist das ist ermutigend. Und Europa, finde ich, sollte gleichermaßen einen Klima-Außenminister benennen, der, ähnlich wie John Kerry das für die Vereinigten Staaten tut, auch für Europa in dieses Konzert einsteigt. Es muss immer Europa agieren. Und selbst Europa ist zu klein, um den Klimawandel zu bekämpfen. Europa muss es machen. Europa gibt Ziele für jeden Mitgliedsstaat vor. Und dann muss Deutschland seine Ziele erreichen. Wir wollen Klimaneutralität bis 2045 erreichen. Das ist eine größere Ambition, als in den Pariser Verträgen steht. Und Nordrhein-Westfalen als „das“ Industrieland in Deutschland muss seinen Anteil leisten. Es gibt kein deutsches Bundesland, das CO2 so reduziert wie Nordrhein-Westfalen. Denn wir steigen aus den fossilen Energieträgern aus. Wir haben 2018 die Steinkohle nach 200 Jahre Industriegeschichte beendet. Und jetzt haben wir den Ausstieg aus der Braunkohle und gleichzeitig den Willen der Stahlindustrie, der chemischen Industrie, ebenfalls zur Klimaneutralität zu kommen. In einem Industrieland, so verdichtet wie Nordrhein-Westfalen, ist die Ambition natürlich eine andere als in einem Land, das gar keine Industrie hat. Insofern teile ich nicht die These, dass Nordrhein-Westfalen zu wenig macht.

Aber glauben Sie, dass das auf ganz Deutschland übertragbar ist? Ich denke zum Beispiel an die neuen Bundesländer…

Es ist in der Auswirkung nicht übertragbar, weil es nirgendwo so gebündelt und so dicht ist - Stahl, Chemie, Aluminium, Kohle – wie in Nordrhein-Westfalen. Aber auch die neuen Bundesländer haben Braunkohle, und sie haben sich ebenfalls verpflichtet, auszusteigen, Brandenburg, Sachsen und Sachsen Anhalt. Wir haben zugesagt, dass wir mit Milliardenhilfen des Bundes bei diesem Strukturwandel helfen. Da ist eine höhere Sensibilität als im Westen. Wir können sogar noch schneller aussteigen, weil wir eine starke Industrie haben. Im Osten haben die Menschen 1990 erlebt, dass mit einem Male alles zusammengebrochen ist und auch die Braunkohle in vielen Gebieten abrupt endete. Und sie haben jetzt Angst, dass das gleiche wieder passiert, ohne finanzielle Hilfe. Mit diesem Thema spielt auch die politische Rechte, die AfD. Deshalb müssen wir sagen: Ja, Ausstieg aus der Kohle, aber mit Strukturmaßnahmen, so begleitet, dass die Regionen lebensfähig bleiben.

Themenwechsel. Sie haben Helmut Kohl erwähnt. Er ist ein großes Vorbild für Sie. Was hat Helmut Kohl für Deutschland und Europa geleistet, was Sie für sich als Beispiel nehmen können?

Helmut Kohl hatte mehrere Epochen. Er kam an die Regierung auf dem Höhepunkt der Nachrüstungsdebatte. Und er hat die Verlässlichkeit Deutschlands im atlantischen Bündnis erst einmal wiederhergestellt. Helmut Schmidt wollte das innerlich auch, hatte aber in seiner eigenen Partei keine Mehrheit mehr. Helmut Kohl hat das beendet, was Helmut Schmidt begonnen hatte. Damit war Deutschland wieder Partner in der Nachrüstung und in der Nato. Dann kam der Zeitpunkt der Wiedervereinigung. Er hat in den Jahren seiner Kanzlerschaft ein enges Verhältnis zu den USA, zu den amerikanischen Präsidenten Reagan, später zu Bush aufgebaut. Das hat in dem Moment, als die Mauer fiel, getragen. Denn da war es wichtig, dass man diesem Deutschland vertraut, dass man akzeptiert, dass sich dieses Deutschland wieder vereinigt. Ohne den damaligen Präsidenten George Bush Vater und Michael Gorbatschow auf der anderen Seite wäre die Deutsche Einheit nicht gelungen. Sie waren sogar engagierter als unsere europäischen Freunde. Weder Francois Mitterand noch Margaret Thatcher waren begeistert von der Deutschen Einheit. Aber der amerikanische Präsident hat in diesem Moment Deutschland geholfen. Insofern ist die Pflege des deutsch-amerikanischen Verhältnisses in jeglicher Hinsicht wichtig.

Helmut Kohl hat auch mit Francois Mitterand der deutsch-französischen Dynamik neuen Schwung vermittelt. Und Helmut Kohl hat auf den gemeinsamen Binnenmarkt hingewirkt, auf dem Vertrag von Maastricht, auf die gemeinsame Währung, auf die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik. Er hat also in der kurzen Zeit knapp vor der Einheit bis 1992 in Europa ein neues Fundament errichtet. Das sehe ich als vorbildlich an. Es gibt jetzt eine neue Aufgabenstellung, aber auch in der neuen Zeit wird es dieses starke Europa brauchen.

Ein anderer großer Einfluss auf ihr Leben ist die katholische Kirche. Sie haben neulich auf Twitter Kardinal Marx gratuliert, weil dieser dem Papst seinen Rücktritt angeboten hatte. Wie beeinflusst Ihr Glaube Ihren politischen Stil, Ihr Agieren in der Welt?

Ich bin niemand, der mit Bibelversen Politik macht. (...) Dennoch haben wir eine Partei mit einem C im Namen. Man erlebt in Amerika, dass Prediger oder andere sehr spirituell sprechen. Das ist in der deutschen Politik eher ungewöhnlich. Die Verpflichtung auf das christliche Menschenbild ist in der deutschen Politik durch den Parteinamen natürlich sehr stark. Mich hat das geprägt. Ich sehe jetzt, dass der neue amerikanische Präsident auch ein Katholik ist. Die Verbindung, dass ein Katholik Präsident der USA und Kanzler der Bundesrepublik ist, hatten wir zuletzt bei Konrad Adenauer und John F. Kennedy. Daraus leitet sich jetzt nichts ab. Aber ich habe auch bei Präsident Biden festgestellt, dass die tiefe Verankerung in seinem Glauben ihn in seinem politischen Handeln prägt. Mit dem Katholischen ist sehr häufig ein Blick auf die gesamte Welt verbunden, auf eine Weltverantwortung. Es ist kein nationaler Glaube. Er hat immer den die Welt umspannenden, im Papst-Amt sich verkörpernden Gestaltungswillen. Ein Katholik ist selten Nationalist, weil er immer weiß, dass seine Werte eigentlich gute Werte für die ganze Welt sind.

Frau Baerbock hat davon gesprochen, dass sie die erste Kandidatin wäre, die die alte Teilung in Ost und West nicht in sich trägt. Wie wichtig, glauben Sie, ist diese alte Teilung und wie wollen Sie das Land darüber hinausbringen, nachdem wir eine Kanzlerin aus dem Osten hatten und Sie aus dem Westen kommen? Wie bringt man das Land voran, so dass es nicht mehr Ost-West-Ideen sind, sondern eine neue deutsche Identität, darüber hinaus vielleicht sogar eine europäische Identität?

Das ist albern. Frau Baerbock ist im Westen geboren, sie ist im Westen sozialisiert und lebt jetzt in Brandenburg. Damit hat man noch nicht die Ost-West-Identität überwunden, das ist schlicht eine Wohnsitz-Frage. Die Mentalität ist auch nicht mehr so, dass man sich in der jüngeren Generation nach Ost und West einsortiert. Ich komme aus dem tiefsten Westen – westlicher als Aachen geht es in Deutschland nicht -, und trotzdem kann man sich in die Probleme des Ostens hineindenken, den Menschen zuhören, vielleicht sogar ganz anders als Angela Merkel. Sie kam aus dem Osten und hat sich eher im Westen engagieren müssen. Ich glaube, wenn jemand aus dem Westen kommt, muss er dem Osten ganz anders zuhören und auch die Probleme des Ostens adressieren – weil er weiß, dass er aus dem Westen kommt. Deshalb glaube ich, dass mein Einsatz in dem gesamtdeutschen Denken nicht geringer sein wird.

Und Ihr gesamteuropäisches Denken?

Das ist immer das wichtigste Denken. Ich finde, wenn ein deutscher Bundeskanzler nachts um 4 Uhr geweckt wird und es gibt eine Krise, muss er sofort denken: Wie lösen wir die europäisch? Es muss immer gleich der Blick sein, wir werden das nicht alleine schaffen. Wie ist das mit unseren europäischen Partnern? Dieses Grunddenken ist immer vor dem nationalen Denken.

Ich bedanke mich für das Gespräch.

Ich danke auch.

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