Annalena Baerbock, Kanzlerkandidatin und Bundesvorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen, spricht zum Ende der Bundesdelegiertenkonferenz ihrer Partei. Bei dem digitalen Parteitag in Berlin hatten die Grünen ihr Wahlprogramm für die Bundestagswahl im September verabschiedet. Foto: picture alliance/dpa

Annalena Baerbock, Kanzlerkandidatin und Bundesvorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen, spricht zum Ende der Bundesdelegiertenkonferenz ihrer Partei. Bei dem digitalen Parteitag in Berlin hatten die Grünen ihr Wahlprogramm für die Bundestagswahl im September verabschiedet. Foto: picture alliance/dpa

03.07.2021
Von Frank Jungbluth

„Statt über Quoten sollte über den konkreten Beitrag Deutschlands diskutiert werden“

Annalena Baerbock ist Kanzlerkandidatin und Bundesvorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen. Im Interview mit unserer Redaktion fordert sie nicht nur eine unabhängige Evaluierung des Afghanistan-Einsatzes, sondern erklärt auch, was sie von bewaffneten Drohnen hält.

Nach 20 Jahren im Kampf gegen den Terror und als Helfer beim Wiederaufbau zieht die Bundeswehr mit dem Rest der Nato-Truppen im Juli aus Afghanistan ab: 35 Gefallene und 230 Verwundete sind zu beklagen, der Einsatz hat 13 Milliarden Euro gekostet. Wie erfolgreich waren diese zwei Jahrzehnte am Hindukusch Ihrer Meinung nach?

Annalena Baerbock: Die Bilanz des Afghanistan-Einsatzes ist vielschichtig. Wer mal durch den „Wald der Erinnerung“ am Standort des Einsatzführungskommandos bei Potsdam gelaufen ist, wird daran schmerzlich und nachdrücklich erinnert. In Afghanistan wurde vieles unter großen Mühen und Opfern erreicht: die Befreiung vom Taliban-Regime, aber auch, dass Mädchen wieder in die Schule oder zum Sport gehen konnten. Gleichwohl wurden auch viele Fehler gemacht. Korruption und ein späteres Wiedererstarken der Taliban etwa konnten nicht verhindert werden. Fest steht: Militärisch sind die Taliban nicht zu bezwingen. Im Interesse der Bevölkerung vor Ort muss eine politische Lösung des Konflikts vorangetrieben, der Militäreinsatz zu Ende gebracht und unabhängig evaluiert werden. Zudem sollte sich auch Deutschland weiter massiv mit zivilen Mitteln engagieren, um Erreichtes etwa bei den Frauen- und Menschenrechten zu erhalten. Der Abzug bringt derweil weitere Unsicherheit für die Zivilbevölkerung. Vor diesem Hintergrund trägt die Bundesregierung auch Verantwortung für den Schutz der Afghaninnen und Afghanen, die den Einsatz unterstützt haben. Die angekündigte Aufnahme afghanischer Ortskräfte und ihrer Familien muss kommen.

Die Richtung, in die die Bundeswehr in Zukunft marschieren soll, ist noch nicht ganz klar: Resolute Support in Afghanistan, JSOTF Gazelle im Niger, EUTM und MINUSMA in Mali – Jordanien, Irak, der Kosovo – 4000 Soldatinnen und Soldaten der Truppe sind heute in 18 Auslandseinsätzen. Sollte die Bundeswehr Ihrer Meinung nach auch Einsatzarmee bleiben oder sich doch wieder klassisch auf die Fähigkeit der Landes- und Bündnisverteidigung konzentrieren? Oder alles zusammen?

Deutschland trägt Verantwortung nicht nur in Europa, sondern weltweit. Ich bin davon überzeugt, dass wir uns weiterhin in völkerrechts- und grundgesetzkonformen Einsätzen, die zu Stabilität, zum Schutz der Zivilbevölkerung und zu Friedensprozessen beitragen, engagieren sollten. Gleichzeitig hat sich die Situation in Europa mit der Annexion der Krim und dem Krieg in der Ostukraine verändert. Der Landes- und Bündnisverteidigung kommt deshalb wieder eine größere Bedeutung zu. Der Auftrag und die Aufgaben der Bundeswehr müssen sich an diesen realen Herausforderungen orientieren. Dafür muss die Bundeswehr personell und materiell sicher und planbar ausgestattet – und bestmöglich organisiert sein.

Stichwort Auslandseinsätze: Alle Experten mahnen, die Drohne „Heron TP”, die für die Bundeswehr im Jahr 2022 beschafft werden soll, endlich auch zu bewaffnen. Das kann im Falle von Angriffen auf unsere Soldatinnen und Soldaten Leben retten. Sind Sie für bewaffnete Drohnen oder dagegen?

Bewaffnete Drohnen wurden und werden vielfach auch von unseren Bündnispartnern für extralegale Tötungen und andere völkerrechtswidrige Taten eingesetzt. Deshalb verstehe ich die Vorbehalte. Gleichzeitig ist anzuerkennen, dass diese Systeme Soldatinnen und Soldaten in gewissen Situationen besser schützen können. Deshalb muss klar sein, für welche Szenarien die Drohnen überhaupt eingesetzt werden sollen, bevor über die Beschaffung entschieden werden kann.

Nukleare Teilhabe: Können die Nato-Partner, vor allem die USA, sich auf uns verlassen? Die Luftwaffe braucht mittelfristig einen neuen Jet als „Tornado”-Nachfolger, um die Bomben aus Büchel im Notfall auch ins Ziel tragen zu können. Gibt es in der nächsten Legislaturperiode endlich Geld dafür?

Selbstverständlich können sich unsere Partner auf uns verlassen. Das hängt aber nicht allein mit der nuklearen Teilhabe zusammen. Meine Vision bleibt eine atomwaffenfreie Welt. Vor diesem Hintergrund werden zahlreiche Gespräche im Bündnis notwendig sein. Es geht nicht zuletzt um die Rückversicherung unserer polnischen und baltischen Nachbarn. Der „Tornado” wiederum erfüllt viele Funktionen: Aufklärung, elektronische Kampfführung, taktische Luftangriffsfähigkeit. Eine Ersatzbeschaffung sollte deshalb nicht auf die Frage der nuklearen Zertifizierung reduziert werden. Durch das Aussitzen der Bundesregierung einer Nachfolgeentscheidung sind alleine für den Weiterbetrieb bis 2030 sieben Milliarden Euro angefallen. Es wäre wirtschaftlicher, ein neues Flugzeug zu beschaffen, statt Milliarden in altersbedingte Erneuerungen zu stecken.

Oft versprochen, immer wieder gebrochen: Das Zwei-Prozent-Ziel der Nato, das heißt der Anteil des Verteidigungshaushaltes am Gesamtetat, bleibt in weiter Ferne. Und dann noch die prognostizierten Einbrüche im Einzelplan 14 ab 2022. Wer eine einsatzbereite Bundeswehr will, muss das auch bezahlen. Könnte die Truppe auch dabei auf die Bundeskanzlerin Baerbock zählen?

Der Schutz der Soldatinnen und Soldaten hat für mich absolute Priorität. Darauf kann sich die Truppe verlassen. Das an die Wirtschaftskraft gekoppelte Zwei-Prozent-Ziel der Nato schafft aber nicht per se mehr Sicherheit. Wir sehen das aktuell: Weil wir uns in einer wirtschaftlich angespannten Lage befinden, steigt der Anteil der Verteidigungsausgaben am Bruttoinlandsprodukt, ohne dass sich die Ausgaben selbst verändert hätten. Das zeigt doch, wie absurd die Bemessungsgrundlage ist. Statt über schwankende Quoten sollten wir darüber diskutieren, welchen Beitrag Deutschland in der Nato zu einer fairen Lastenteilung konkret erbringen kann. Dabei muss es um strategische Fähigkeiten, aber auch die angemessene Ausstattung der Bundeswehrangehörigen gehen. Dass Soldatinnen und Soldaten mit ungenügender Ausrüstung in Einsätze gehen, ist für mich nicht hinnehmbar.

Kann sich die Parlamentsarmee Bundeswehr darauf verlassen, auch von der Politik wieder mehr als Staatsbürger in Uniform gesehen zu werden? Und weniger als Hort Rechtsextremer, wenn es Vorgänge in die Richtung doch nur im Promillebereich gibt?

Für die Bundeswehr ist die Verankerung als Parlamentsarmee essenziell. Gerade die Bundeswehr und die öffentlichen Sicherheitsorgane einer Demokratie müssen mit jeder Faser auf dem Boden der Verfassung stehen. Die allermeisten Soldatinnen und Soldaten tun das. Daher ist es für das Vertrauen und Ansehen der übergroßen Mehrheit in der Bundeswehr so wichtig, dass wir jeden Fall von Rechtsextremismus konsequent verfolgen, extremistische Strukturen zerschlagen und eine wirksame Prävention sicherstellen. Menschenfeindliche Ideologien und rechtsextremistisches Verhalten sind weder mit dem Auftrag der Bundeswehr noch mit den Pflichten der Soldatinnen und Soldaten vereinbar.

Sind Sie regelmäßig im Gespräch mit Soldaten? Wenn ja, was hören Sie da?

Natürlich spreche ich immer wieder auch mit Soldatinnen und Soldaten. Da höre ich leider zu oft, welche enormen Probleme die Bundeswehr seit Jahren bei der Beschaffung und der Einsatzbereitschaft hat. Das jüngste Strategiepapier der Verteidigungsministerin zeigt, dass Reformen in den letzten 15 Jahren zwar kostspielig, aber wenig zielführend waren. Das muss sich ändern.

Würden Sie Bundeskanzlerin, so wären Sie im Verteidigungsfall Inhaber der Befehls- und Kommandogewalt in Deutschland. Wie war beziehungsweise ist Ihr Verhältnis zur Bundeswehr?

Die Bundeswehr ist ein notwendiger Bestandteil deutscher, europäischer und internationaler Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Sie kann einen wertvollen Beitrag zur Gewalteindämmung und kollektiven Friedenssicherung leisten. Darüber hinaus ist sie eine Parlamentsarmee. Als solche kann sie nur in bewaffnete Einsätze entsandt werden, wenn sie vom Deutschen Bundestag dazu mandatiert wird. Als Bundestagsabgeordnete trage also auch ich schon jetzt mit Verantwortung für unsere Soldatinnen und Soldaten, ihre Gesundheit und ihr Leben. Das nehme ich sehr ernst und wäge bei jedem Einsatz der Bundeswehr sorgfältig ab.

Vor einigen Wochen haben Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer und Generalinspekteur Eberhard Zorn ein Eckpunktepapier zur Bundeswehrreform vorgestellt. Kennen Sie die Grundzüge? Was halten Sie davon?

Die Bundeswehr hat in zahlreichen Bereichen dringenden Reformbedarf. Dazu enthält das Papier durchaus sinnvolle Ideen. Der Plan etwa, die Stabslastigkeit zu reduzieren und mehr Verantwortung im Beschaffungsbereich in die Truppe zu verlagern, ist richtig. Kritisch sehe ich die Veröffentlichung am Ende einer Legislaturperiode. Denn wer ab Herbst die Verantwortung im Verteidigungsministerium übernimmt, ist doch völlig offen. Die Art und Weise, wie darüber informiert wurde, hat zudem viel Verunsicherung bei Soldatinnen und Soldaten ausgelöst. Das war vermeidbar.

Sie sind bisher noch nicht als Außenpolitikerin aufgefallen. Bekennen Sie sich zur Nato und auch zu engen transatlantischen Beziehungen?

Naja, in den letzten Jahren wurde mir von einigen eher das Gegenteil vorgehalten: zu sehr Transatlantikerin, zu harte Ansagen gegenüber Russland. Für mich ist die transatlantische Partnerschaft ein zentraler Stützpfeiler deutscher Außenpolitik. Der jüngste Nato-Gipfel hat gezeigt, dass das Bündnis alles andere als obsolet ist und sich die US-Amerikaner wieder in aller Ernsthaftigkeit Europa zuwenden. Die Nato bleibt deshalb neben der EU ein unverzichtbarer Akteur, der die gemeinsame Sicherheit Europas garantieren kann und einer Renationalisierung der Sicherheitspolitik entgegenwirkt. Dennoch leidet die Nato unter divergierenden Interessen. Der laufende Strategieprozess sollte für eine Neuaufstellung genutzt werden.

Wie wichtig ist eine starke Europäische Gemeinschaft für Sicherheit und Stabilität?

Überaus und zunehmend wichtig. Gemeinsam mit ihren internationalen Verbündeten muss die Europäische Union ihrer Verantwortung für die eigene Sicherheit und Verteidigung gerecht werden. Deshalb will ich die verstärkte Zusammenarbeit der Streitkräfte in der EU ausbauen, militärische Fähigkeiten bündeln, eine effizientere Beschaffung sicherstellen und allgemein anerkannte Fähigkeitslücken schließen helfen.

Fürchten Sie sich eher vor Russland oder vor China?

Furcht ist kein guter Ratgeber in der Politik. Wir befinden uns im Systemwettbewerb zwischen liberalen Demokratien und autoritären Staaten. In diesem Wettbewerb müssen wir gegenüber Autokraten und Diktatoren einen zweigleisigen Ansatz fahren: Dialog und Härte. Natürlich müssen wir die Kooperation suchen, wo sie möglich ist, um große Herausforderungen wie die Klimakrise oder Pandemien gemeinsam zu bewältigen. Das alles darf aber nicht zu Lasten von Menschen- und Bürgerrechten gehen. Wer nur wirtschaftliche Interessen in den Vordergrund stellt, wie es die Bundesregierung mit der Gaspipeline „Nord Stream 2“ oder dem EU-China-Investitionsabkommen tut, macht sich langfristig abhängig. Und es ist auch sicherheitspolitisch naiv, finden die Angriffe unserer Zeit doch häufig über Hacks kritischer Infrastruktur oder Wirtschaftskriege statt.

Ihr wichtigster außenpolitischer Partner sind und blieben die USA, würden Sie Kanzlerin. Was halten Sie von Joe Biden und der Arbeit seiner ersten – inzwischen 200 –Tage an der Spitze unseres wichtigsten Verbündeten? Sind Sie ihm jemals begegnet?

Die neue US-Regierung ist ein Signal der Hoffnung und des Aufbruchs, ihr klares Bekenntnis zur Nato ein wichtiges Zeichen. Joe Biden und Kamala Harris haben in den ersten 200 Tagen gezeigt, wie mutige und ambitionierte Politik aussehen kann. Ich sehe hier großes Potenzial der Zusammenarbeit für eine transatlantische Allianz für Klimaneutralität, aber auch in anderen Bereichen.

Der Deutsche BundeswehrVerband ist seit 65 Jahren mit heute weit mehr als 200.000 Mitgliedern Interessenverband und Spitzenorganisation der deutschen Soldaten und Zivilbeschäftigten. Wie wichtig ist Mitbestimmung, auch in der Bundeswehr, aus Ihrer Sicht?

Die Teilhabe der Beschäftigten macht jede Organisation erfolgreicher. Es ist deshalb wichtig, den Soldatinnen und Soldaten, aber natürlich auch den Zivilbeschäftigten der Bundeswehr zuzuhören, ihre sehr unterschiedlichen Perspektiven und Nöte ernst zu nehmen. Es braucht Mitbestimmung und Dialog – und einen möglichst offenen Austausch. Aus meiner Sicht kann die Reform einer Großorganisation wie der Bundeswehr nur gelingen, wenn alle Beteiligten von Beginn an mitgenommen werden. Die Bundeswehrangehörigen erleben jeden Tag, an welchen Stellen es hakt. Ihre Ideen sind ein enormer Trumpf, den es auszuspielen gilt.

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