Im Rahmen eines Manövers führte die amerikanische Armee auf dem Truppenübungsplatz Grafenwöhr in Bayern die Simulation eines Atomschlags durch. Foto: picture alliance / Klaus-Dieter Heirler

Im Rahmen eines Manövers führte die amerikanische Armee auf dem Truppenübungsplatz Grafenwöhr in Bayern die Simulation eines Atomschlags durch. Foto: picture alliance / Klaus-Dieter Heirler

06.01.2024
Von Oliver Krause

Am kritischsten war die Bundeswehr zumeist mit sich selbst

In wenigen Wochen beginnt die Bundeswehr ihr Übungsvorhaben „Quadriga 2024“, das größte Manöver seit 30 Jahren. Wir blicken auf die Großübungen der Truppe im Kontext des Ost-West-Konflikts zurück.

Die Jahre des Kalten Krieges, der von den späten 1940er bis zum Ende der 1980er Jahre dauerte, waren geprägt von politischer Spannung und dem Wettrüsten zwischen den USA und der Sowjetunion. Deutschland, geteilt in die Bundesrepublik Deutschland im Westen und die Deutsche Demokratische Republik (DDR) im Osten, befand sich an vorderster Front dieser Auseinandersetzung.

Die Bedeutung der Großübungen

Um auf mögliche Bedrohungen vorbereitet zu sein, führte auch die Bundeswehr regelmäßig Großübungen durch. Diese Übungen dienten nicht nur der militärischen Vorbereitung, sondern auch der Demonstration von Stärke und Entschlossenheit gegenüber potenziellen Aggressoren. Dabei wurden ­verschiedene Szenarien durchgespielt, die von einer konventionellen Invasion bis zu nuklearen Angriffen reichten. Gleichzeitig waren die Übungen und Manöver ein zuverlässiger und viel genutzter Referenzpunkt für das eigene Können. Die Inspektions­berichte sind eine zuverlässige Quelle, um einen Eindruck von der damaligen Leistungsfähigkeit zu erhalten.

Die junge Bundeswehr vor multiplen Herausforderungen

Im Manöver „Hermelin“ von 1967 übte beispielsweise das damalige I. Korps des Deutschen Heeres zwischen Lüneburg und Göttingen mit 36 000 Soldaten und 11 000 Rad- und Kettenfahrzeugen. Dabei waren außerdem britische, französische und niederländische Kräfte. Im bundeswehreigenen Imagefilm von damals ist vom Bewegungsgefecht die Rede, wird die hochmoderne Technik, wie der neue Leopard-Panzer hervorgehoben und die Versorgung der Panzerbataillone aus der Luft innerhalb von Minuten gezeigt. So bleibt der rote Angriff dann auch stecken und auch der „schwungvoll vorgetragene Gegenangriff in die blaue Flanke“ wird abgewehrt.

So positiv und überlegen sah sich die Bundeswehr in den 1960er Jahren nur in Werbefilmen. Intern war der Blick auf die eigene Leistungsfähigkeit kritischer – ehrlicher. Detailliert beschreibt Militärhistoriker Sönke Neitzel in seinem Standardwerk „Deutsche Krieger“, wie schlecht die Bundeswehr ihre eigene Kampfkraft beurteilte. So sei nur die Hälfte des Heeres allenfalls für zeitlich begrenzte Abwehraufgaben bedingt geeignet.

Beklagt wurde 1960 und in den Jahren danach die veraltete Ausrüstung, Munitionsbestände von nur wenigen Tagen, ein Mangel an erfahrenem Personal, aber auch ein überfrachteter Ausbildungsplan, die falsche mentale Einstellung und eine ungenügende körperliche Fitness. Die Kampfaufträge stünden in keinem Verhältnis zu Zustand und Möglichkeiten. Was Neitzel ausgegraben hat, liest sich wie das Protokoll einer heutigen Kommandeur- oder Spießtagung.

Strategie der massiven Vergeltung

Und es gibt noch eine bemerkenswerte Parallelität: Der anerkennende Respekt vor den Streitkräften Israels, die im Sechstagekrieg 1967 ihr Können gezeigt hatten, im Angesicht der eigenen Mängel. Immerhin: Im europäischen Vergleich war die nur bedingt einsatzbereite Bundeswehr kein Sonderfall. Das ist natürlich nur ein schwacher Trost.

Die zentrale verteidigungspolitische Herausforderung aus westdeutscher Sicht lag jedoch nicht nur in der schwachen, da noch im Aufbau befindlichen, Bundeswehr, sondern an der NATO-Strategie insgesamt. Seit 1952 galt dort die Strategie der massiven Vergeltung (massive retaliation), die keine starke konventionelle Verteidigung vorsah, sondern sich auf das zunächst noch überlegene amerikanische Atomwaffenpotential stützte.

Selbst ein rein konventioneller Angriff des Warschauer Paktes hätte frühzeitig nur mit Atomwaffen aufgehalten werden können. Die Bundeswehr sollte wenig mehr tun als Zeit für die Vorbereitung und Durchführung dieses atomaren Gegenschlags zu erkaufen, der freilich die Vernichtung Deutschlands bedeutet hätte. Deshalb war der Bundeswehr sehr an einer Stärkung ihrer Kampfkraft gelegen. Diese Notwendigkeit wurde auch politisch erkannt.

Die Strategie der massiven Vergeltung lief nicht nur deutschen Interessen zuwider, es mangelte ihr auch an Glaubwürdigkeit. Hinzu kamen praktische Probleme. Deshalb entwickelte die NATO die Strategie der Flexiblen Antwort (flexible Response), die 1968 offiziell zur Anwendung kam. Parallel wurde die Vorneverteidigung entworfen, deren Grundlage eine stärkere konventionelle Verteidigung direkt an der innerdeutschen Grenze war, sodass ein nuklearer Vergeltungsschlag später und idealerweise begrenzter ausfallen hätte können.

Die Bundeswehr ist seit der Adenauer-Zeit über die nukleare Teilhabe in die atomare Abschreckung – und Verteidigung – eingebunden. Geübt wurde diese Rolle zum Beispiel im Rahmen der Übung „Black Jack“ 1973 in bayerischen Landsberg am Lech. Konkret wurde dort vom Flugkörpergeschwader 1, das der damals noch existierenden 1. Luftwaffendivision unterstand, der Abschuss einer deutschen Pershing-Rakete mit einem amerikanischen Atomsprengkopf geübt.

Was im Video zur Übung fast schon spielerisch daherkommt, war bitterer Ernst: Das Flugkörpergeschwader hätte, so das Einsatzszenario, auf Befehl des SACEUR einen Durchbruch gegnerischer Kräfte gestoppt und die konventionelle Unterlegenheit der NATO-Kräfte ausgeglichen. Der Einsatz wäre somit auf westdeutschem Gebiet erfolgt – verbunden mit der defensiven Absicht, die Abschreckung wiederherzustellen. Ein zweiter Fall wäre ein vor allem auf Signalwirkung ausgerichteter Nuklearschlag gewesen, der sich nicht auf dem unmittelbaren Gefechtsfeld abgespielt hätte, sondern zum Beispiel gegen eine Truppenkonzentration hinter der Front gerichtet gewesen wäre.

Flexible Response-Strategie der NATO

Auch hier sollte eine nukleare Eskalation vermieden und die Abschreckung wieder hergestellt werden, weshalb der Schlag abermals auf westdeutschem Gebiet erfolgt wäre. Freilich konnte dieser Aspekt seinerzeit im Clip nicht thematisiert werden. Was jedoch herausgestellt wurde, war, dass diese Verbände immer einsatzbereit gehalten wurden und praktisch keine Vorbereitungszeit notwendig war.

Mit der Einführung der flexible Response-Strategie der NATO veränderte sich auch das Profil der Luftwaffe, schreibt Neitzel. Ihre Jagdbomber sollten das Heer nun stärker direkt unterstützen, was unter anderem 1970 im Rahmen der Übung „Schwarzer Himmel“ geübt wurde. Prominente Zuschauer waren Bundeskanzler Willy Brandt und Verteidigungsminister Helmut Schmidt.

Im Bundeswehr-Videoclip zu sehen sind nicht nur Aufklärungsflüge, sondern auch erfolgreiche Tieffliegerangriffe von deutschen Starfightern. Selbst auf den Schwarz-Weiß-Filmaufnahmen ist der Überflug eindrucksvoll, imponiert das Donnern der Starfighter über den Übungsplätzen und der Abwurf scharfer Bomben. Dabei, schreibt Neitzel, war dieses Flugzeugmonster für die Rolle als Jagdbomber ungeeignet.

Auch die ungelenken Bomben, die der Luftwaffe zur Verfügung standen, waren für diese Art der Kriegsführung technisch noch nicht ausgereift. Die militärische Führung hatte sogar Sorge, dass die Verluste an Piloten und Flugzeugen so hoch waren, dass kein nuklearer Gegenschlag hätte durchgeführt werden können. Der aber war während der 1970er Jahre unausweichlich angesichts der konventionellen Überlegenheit des Ostblocks.

Nach Ende der 1970er Jahre hatte sich daran nichts geändert. Bei der NATO-Stabsübung WINTEX 1977 hielt die konventionelle Verteidigung der NATO zwei Wochen lang stand. Wobei mit dem Heranführen der zweiten gegnerischen Staffel und Engpässen bei Munition und Material mit baldigen Durchbrüchen zu rechnen war. In dieser (Übungs-) Lage ersuchte SACEUR um die Freigabe für Nuklearschläge.

„Audi-Moment“ in den 1980er Jahren

Dabei zeichnete sich bereits eine Trendwende ab, die sich in den 1980er Jahren Bahn brach: Mit der Einführung neuer Waffensysteme wie Leopard 2, dem Flakpanzer Gepard, dem Jagdbomber Tornado und neun Panzerabwehrraketen wie MILAN, gab es so etwas wie einen „Audi-Moment“ und Vorsprung durch Technik. Auch der Ausbildungsstand und der Munitionsbestand wurden intern besser beurteilt. „Die Bundeswehr gewann an Selbstbewusstsein“, schreibt Neitzel. „Unter gewissen Umständen traute man sich nun zu, es auch mit der 2. Strategischen Staffel der sowjetischen Streitkräfte aufzunehmen.“

Zusammenhalt und Kameradschaft

Trotz der Herausforderungen schweißten die Großübungen die Bundeswehrsoldaten zusammen. Der gemeinsame Einsatz für die Sicherheit des Landes und die gemeinsamen Erfahrungen während der Übungen schufen eine starke Kameradschaft. Diese Zusammengehörigkeit war entscheidend, um den Soldaten das Vertrauen zu geben, dass sie im Ernstfall auf ihre Kameraden zählen konnten.

Ein Erbe für die Zukunft

Die Großübungen der Bundeswehr während des Ost-West-Konflikts haben nicht nur dazu gedient, die Truppen auf mögliche Szenarien vorzubereiten, sondern auch ein Erbe für die zukünftige Generation von Bundeswehrsoldaten geschaffen. Die Fähigkeiten, die während dieser Ära erworben wurden, bilden die Grundlage für die heutige Bundeswehr und ihre Fähigkeit, auf moderne Herausforderungen zu reagieren.

Mehr zu Landes- und Bündnisverteidigung im Kalten Krieg finden Sie hier. 

Mit Rat und Hilfe stets an Ihrer Seite!

Nehmen Sie Kontakt zu uns auf.

Alle Ansprechpartner im Überblick