Dieses Bild aus einem vom Kernkraftwerk Saporischschja veröffentlichten Video zeigt ein helles, aufflackerndes Objekt, das am Freitag, dem 4. März 2022, auf dem Gelände des Kernkraftwerks landet. Russische Streitkräfte beschossen vor fünf Monaten Europas größtes Atomkraftwerk. Foto: AP

09.08.2022
Von Frank Schauka

Atomkraftwerk Saporischschja: Mega-Gefahr durch zerstörte Stromversorgung

Saporischschja. In der im Südosten der Ukraine gelegenen Großstadt Saporischschja, der mit 760.000 Einwohnern sechsgrößten Metropole des Landes, steht Europas größtes Atomkraftwerk, 550 Kilometer von der ukrainischen Hauptstadt Kiew entfernt, 350 Kilometer nördlich der von Russland besetzten Halbinsel Krim. Bis Moskau sind es 1000 Kilometer und 1800 bis Berlin.

Vor fünf Monaten, in der Nacht auf Freitag, den 4. März 2022, beschossen erstmals russische Truppen das Gelände des Atomkraftwerkes und brachten es mitsamt des Fachpersonals unter ihre Kontrolle. Seit wenigen Tagen wird das AKW Saporischschja erneut beschossen. Aktuell weiß jedoch niemand genau, wer das Gelände momentan attackiert. Die Regierungen in Kiew und Moskau beschuldigen sich gegenseitig.

Luftabwehrsysteme des Atomkraftwerks werden verstärkt

Heute – nach mehrfachem Beschuss des Atomkraftwerks in den vergangenen Tagen – hat der Chef der von Moskau eingesetzten Militärverwaltung in der Region, Jewgeni Balizki, im russischen Staatsfernsehen mitgeteilt: «Die Luftabwehrsysteme des Kraftwerks werden verstärkt.»

Ob dies aus begründeter Sorge vor einem Beschuss des Atomkraftwerks durch ukrainische Streitkräfte geschieht, ist denkbar. Ebenso vorstellbar ist allerdings, dass es sich bei der im Fernsehen verkündeten Nachricht um russische Propaganda handelt, die gezielt den Eindruck erwecken soll, Russland schütze nicht nur sich und die Ukraine vor einer möglichen Nuklearkatastrophe, sondern auch den Westen Europas.

Die Gefahr, die vom AKW Saporischschja ausgehen kann, ist gewaltig – und zwar nicht nur bei einer Zerstörung der Reaktoren, von denen es sechs gibt. „Für mich ist das größte Risiko ein anderes“, sagte der Nuklearexperte Wolfgang Raskob am Wochenende im Interview mit der WELT. „Auch wenn ein Reaktor abgeschaltet wird, braucht er weiter Strom, um die Wärme abzustellen. Das ist das, was in Fukushima passiert ist. Es gab dort keinen Strom mehr, um den Kern zu kühlen und deswegen ist der Kern geschmolzen“, erläuterte Raskop, Leiter der Arbeitsgruppe Unfallfolgen des Instituts für Kern- und Energietechnik am Karlsruher Institut für Technologie (KIT).

In Saporischschja, so Raskop gegenüber WELT, seien „derzeit zwei Reaktoren noch in Betrieb. Wenn dort die Stromversorgung extern einfach gekappt wird, weil etwa eine Granate den Masten trifft, dann bleibt nur noch der Notstromdiesel, um den Reaktor zu kühlen". Normalerweise stehe Diesel für zwei Notfall-Tage bereit. Die Frage sei nur: „Hat die russische Armee den Notdiesel vielleicht für die eigenen Fahrzeuge benutzt.“

Stromleitungen wurden unterbrochen, und ein Feuer brach aus

Dass das von Raskop skizzierte Szenario einen realen Hintergrund hat, zeigte sich spätestens am 5. August 2022. An diesem Tag berichtete die Deutsche Presseagentur in einer Meldung über das beschossene AKW Saporischschja unter Berufung auf die russische Besatzungsverwaltung der nahegelegenen Stadt Enerhodar: „Zwei Stromleitungen seien unterbrochen worden und ein Feuer ausgebrochen.“ Und der ukrainische staatliche Atomkonzern Enerhoatom hat laut dpa mitgeteilt, dass infolge der russischen Angriffe eine Hochspannungsleitung zum benachbarten Wärmekraftwerk beschädigt worden sei.

Die Stromleitungen und beschädigten Blöcke des Meilers seien inzwischen repariert, sagte der Chef der von Moskau eingesetzten Militärverwaltung in der Region, Jewgeni Balizki, vor wenigen Stunden im russischen Staatsfernsehen.

Die Dimension einer durch fehlende Stromversorgung ausgelösten Kernschmelze im Atomkraftwerk Saporischschja formulierte Risiko-Experte Raskop so: „Das wäre am Ende wieder ein Unfall in der Größenordnung von Fukushima. Eine Kernschmelze würde bedeuten, dass auf jeden Fall in der Umgebung von dem Reaktor sehr hohe Dosen Strahlung auftreten würden. Die lokale Bevölkerung wäre definitiv sehr stark bedroht.“ Tausende Haushalte müssten evakuiert werden. In einer Zone im Umkreis von 50 bis 100 Kilometern wäre „der Aufenthalt lange nicht mehr möglich“, und „mehrere 100 Kilometer entfernt würde die Umwelt immer noch signifikant kontaminiert werden“, so Nuklearexperte Raskop.

Der Wind weht meistens von Osten nach Westen - aber nicht immer

In welchem Ausmaß Mittel- und Westeuropa von einer derartigen Katastrophe betroffen wären, hängt stark von den Windverhältnissen ab. Nach den Berechnungen, die am Institut für Technologie in Karlsruhe durchgeführt wurden, „weht der Wind in weniger als zehn Prozent der Fälle in Richtung Westen“, so Raskop. In diesen Jahreszeiten bliese der Wind hauptsächlich nach Russland.

Momentan gilt diese Erkenntnis jedoch nicht. Ab Donnerstag, 11. August, ändern sich die Windverhältnisse für die Region Saporischschja. Der Wind dreht zunächst auf Nordost und bläst in Richtung Südwest. Ab Samstag, 13. August, bis Dienstag, 16. August, dreht der Wind weiter, so dass er in diesem Zeitraum geradezu gen Westen weht. Die Windgeschwindigkeiten sollen laut Prognose 20 bis 40 km/h betragen.

Das Atomkraftwerk in Saporischschja ist ein Meiler neuerer Bauart, der über eine widerstandsfähige Schutzhülle verfügt. Granateneinschläge würden diese Hülle nicht zerstören, große Raketen könnten hingegen großes Unheil anrichten. Angesichts der Kampfhandlungen um das AKW spricht der Leiter der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA), Rafael Grossi, von einer "sehr reale Gefahr einer nuklearen Katastrophe" im Kriegsgebiet.

US-Außenminister: Russland missbraucht Atomkraftwerk als Schutzschild

US-Außenminister Anthony Blinken hat Russland vorgeworfen, das Atomkraftwerk als eine Art Schutzschild zu missbrauchen, wenn es aus der Nähe der Anlage ukrainische Kräfte beschieße.

Der ukrainische Präsident Woldymyr Selenskyj sagte: „Wer nukleare Bedrohungen für andere Völker schafft, ist definitiv nicht in der Lage, Nukleartechnologie sicher einzusetzen.“ Russlands Verhalten sei ein „Akt des Terrorismus“.

Die Zerstörung des Wasserkraftwerks von Saporischschja vor 81 Jahren

Wie die Zerstörung von Energieerzeugungsanlagen in einem Krieg als Waffe eingesetzt werden kann, hat man in Saporischschja vor 81 Jahren erlebt. Damals war die Talsperre am Dnepr für das dort gelegene größte Wasserkraftwerk der Ukraine betroffen. Als am 18. August 1941 Teile der 1. Panzerarmee der Wehrmacht Außenbezirke von Saporischschja erreichten, sprengte die sowjetische Rote Armee ein gewaltiges Loch in die Staumauer. Die dadurch ausgelöste Flutwelle riss Anwohner genauso in den Tod wie deutsche und sowjetische Soldaten. Die Schätzungen über die Anzahl der Toten schwanken zwischen 20.000 und 100.000 Menschen.

 

Mit Rat und Hilfe stets an Ihrer Seite!

Nehmen Sie Kontakt zu uns auf.

Alle Ansprechpartner im Überblick