Deutsche und niederländische Soldaten der eFP-Battlegroup Litauen bei einer Übung: Wladimir Putin hat die Solidarität und Geschlossenheit der NATO völlig unterschätzt. Foto: NATO EFP Lithuania

04.07.2022
Von Yann Bombeke

„Aus Sicht der NATO hat Putin einen strategischen Fehler gemacht“

Generalmajor Dipl.-Pol. Jörg See (55) ist stellvertretender Beigeordneter Generalsekretär für Verteidigungspolitik und Streitkräfteplanung der NATO. Im Interview mit unserer Redaktion spricht der Heeresoffizier über den Angriff Russlands auf die Ukraine, die neue Stärke des westlichen Bündnisses und über die Beitrittskandidaten Schweden und Finnland.

Am 24. Februar startete Russland seinen Angriff auf die Ukraine. Der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz nannte dieses Ereignis einen „Wendepunkt“. Die NATO erscheint nun geeinter denn je. Worin besteht die Stärke des Bündnisses und hat Wladimir Putin die Solidarität der NATO-Partner unterschätzt?

Jörg See: Der brutale Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine ist eine katastrophale menschliche Tragödie. Ich bin mir sicher, dass ich für viele spreche, wenn ich sage, wie sehr mich das unsägliche Leid des ukrainischen Volkes betroffen macht. Die russische Invasion in der Ukraine stellt eine grundlegende Herausforderung für die Werte und Normen dar, die unserem Kontinent jahrzehntelang Sicherheit und Wohlstand gebracht haben. Wir stehen eindeutig vor dem gefährlichsten Moment für die europäische Sicherheit und deren Architektur seit Ende des „Kalten Krieges“. Aus Sicht der NATO hat der russische Präsident Wladimir Putin mit seinem brutalen Angriff auf die Ukraine einen strategischen Fehler begangen. Erstens hat er die Stärke, den Willen, die Tapferkeit und die Fähigkeit des ukrainischen Volkes und der ukrainischen Streitkräfte, sich selbst zu verteidigen, offenbar völlig unterschätzt. Zweitens hat er die Einigkeit der NATO-Verbündeten und ihrer Partner zur Unterstützung der Ukraine ebenso unterschätzt. Die Alliierten sind sich in ihrer klaren Botschaft an Präsident Putin einig: Beenden Sie diesen Krieg und ziehen Sie alle Ihre Streitkräfte unverzüglich zurück. Und drittens: Die Solidarität, die Geschlossenheit der NATO und deren Reaktion waren schnell und beispiellos. Das Bündnis hat unverzüglich gehandelt, indem es seine Verteidigungspläne aktivierte und seine Fähigkeit zur Abschreckung deutlich verstärkte. Mittlerweile unterstehen rund 40 000 Soldatinnen und Soldaten direktem NATO-Kommando. Auf dieser Grundlage werden weitere Verstärkungen der NATO-Ostflanke derzeit geplant und zeitnah aufgebaut. Abschließend möchte ich hierzu sagen, dass die NATO bewiesen hat, dass sie geeint und bereit ist, unsere Bevölkerungen zu schützen und jeden Zentimeter des Bündnisgebiets entschlossen zu verteidigen.

Schweden und Finnland, zwei traditionell neutrale Staaten, wollen der NATO beitreten. Welchen politischen, aber auch militärischen Nutzen würde der Beitritt dieser nordeuropäischen Länder für die NATO haben? Der Beitritt Finnlands würde die gemeinsamen Grenzen von Russland und der NATO um weitere 1300 Kilometer verlängern. Kann dies eine Quelle für weitere Konflikte mit Moskau sein?

Finnland und Schweden sind unsere beiden engsten Partner und haben im Mai 2022 einen Beitrittsantrag zur NATO gestellt. Dies geschah nachdem sich, bedingt durch den russischen Angriffskrieg, die öffentliche Meinung sowie die politische Beurteilung in beiden Ländern stark verändert hatte. Dies ist eine souveräne Entscheidung für beide Staaten. Alle Bündnispartner sind sich einig, dass die Tür der NATO offensteht und dass alle NATO-Erweiterungen bislang ein historischer Erfolg waren. Der Beitritt von Finnland und Schweden wäre höchst willkommen, da er die NATO sowohl politisch als auch militärisch stärken würde. Wir teilen dieselben Werte und stehen im Ostseeraum und darüber hinaus vor denselben Herausforderungen. Unsere Streitkräfte haben viele Jahre lang gemeinsam geübt und operiert. Finnland und Schweden haben sich an NATO-Einsätzen vom westlichen Balkan bis hin zum Irak beteiligt. Als deutscher Offizier erinnere ich mich auch daran, dass wir im Norden Afghanistans gemeinsam Schulter an Schulter gedient haben. Da wir seit vielen Jahrzehnten auch bei Übungen und Einsätzen erfolgreich zusammenarbeiten, sind unsere Streitkräfte bereits in hohem Maße interoperabel. Beide Länder verfügen über beträchtliche militärische Fähigkeiten, welche die militärische Stärke der NATO noch deutlich weiter erhöhen würden. So verfügt die finnische Armee beispielsweise über eine sehr umfangreiche Reserve und Schweden hat starke Luft- und Seestreitkräfte. Schweden setzt moderne Gripen-Kampfflugzeuge ein, und Finnland hat vor Kurzem F-35-Kampfflugzeuge bestellt. Beide Länder sind auch Mitglieder der Europäischen Union, sodass ihre Mitgliedschaft in der NATO die Beziehungen zwischen der NATO und der Europäischen Union noch weiter stärken wird. Finnland hat eine 1344 Kilometer lange Grenze zu Russland, sodass sich die Grenze der NATO zu Russland verdreifachen würde. Die Absicht von Präsident Putin war es, weniger NATO an seinen Grenzen zu haben und das Bündnis zu schwächen. Doch stattdessen wird er am Ende sogar wohl noch mehr NATO haben, und zwar ein noch mehr geeintes und stärkeres Bündnis, das jederzeit bereit ist, unsere Freiheit und unsere Werte entschlossen zu verteidigen. Mit dem Gipfel in Madrid und der trilateralen Vereinbarung zwischen Finnland, Schweden und der Türkei wurde der Weg dafür freigemacht.

Das geplante Hauptthema für den Gipfel in Madrid war das Reformprojekt NATO 2030. Mit dem brutalen Krieg in der Ukraine scheint es ein wenig in den Hintergrund zu treten. Erforderte die neue Situation in Osteuropa in den vergangenen Wochen größere Änderungen am strategischen Konzept der NATO oder war das Bündnis auf ein aggressiv agierendes Russland vorbereitet?

In der auf dem Brüsseler Gipfel im Juni 2021 beschlossenen NATO-Agenda 2030 haben unsere Staats- und Regierungschefs beschlossen, das nächste Strategische Konzept der NATO rechtzeitig für unseren diesjährigen Gipfel in Madrid zu entwickeln. Das derzeitige Strategische Konzept stammt aus dem Jahr 2010. In den letzten zehn Jahren haben sich im euro-atlantischen Sicherheitsumfeld viele Veränderungen ergeben. Im Strategischen Konzept von 2010 heißt es, dass der euro-atlantische Raum in Frieden lebt. Doch wie wir gesehen haben, hat Präsident Putin mit seinem Angriff auf die Ukraine den Frieden in Europa grundlegend erschüttert. Dieser Angriffskrieg steht im Einklang mit Russlands aggressiven und illegalen Handlungen, einschließlich der Annexion der Krim im Jahr 2014. Der Krieg in der Ukraine hat deutlich gemacht, dass ein noch stärkeres und geeinteres Bündnis erforderlich ist, und zwar mit einem Schwerpunkt auf der kollektiven Verteidigung, wie sie in Artikel 5 des Washingtoner Vertrags festgelegt ist. Die NATO hat ihre Abschreckungs- und Verteidigungsposition seit 2014 gestärkt und mit der Umsetzung neuer Konzepte und Pläne begonnen.

Die NATO-Agenda 2030 ist daher wichtiger denn je. Sie soll sicherstellen, dass das Bündnis den Herausforderungen und Bedrohungen von heute und morgen begegnen kann. Dies werden wir unter anderem dadurch erreichen, dass wir die NATO als organisatorischen Rahmen für die Verteidigung des euro-atlantischen Raums stärken und uns erneut zu der 2014 gegebenen Zusage für Verteidigungsinvestitionen bekennen, die die Verpflichtung enthält, zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts für die Verteidigung auszugeben. Angesichts des grundlegend veränderten Sicherheitsumfelds sollte dies als Untergrenze und nicht als Obergrenze angesehen werden. Die Aufstockung der nationalen Finanzmittel – auch die der gemeinschaftlichen Finanzierung – ist für unser Bündnis von größter Bedeutung, wenn wir unser Ziel erreichen wollen, die NATO zu einem noch stärkeren Bündnis zu machen.

Wie kann der Krieg in der Ukraine beendet werden und wie kann die NATO zu einer Lösung beitragen?

Wir als westliche Demokratien müssen dafür sorgen, dass sich die brutale Invasion von Präsident Putin nicht auszahlt und dass die Ukraine als unabhängige und souveräne Nation in Europa bestehen kann. Die Ukrainer verteidigen ihre Heimat sehr tapfer, und ich bin überzeugt, dass die Ukraine diesen Krieg gewinnen kann. Alle NATO-Verbündeten unterstützen die Souveränität und territoriale Integrität der Ukraine. Es ist Sache der Ukraine, zu entscheiden, unter welchen Bedingungen sie eine friedliche Lösung erreichen will. Die NATO wird die ukrainische Regierung bei jeder Entscheidung unterstützen, die sie trifft. Fast alle Kriege enden mit Verhandlungen, dabei besteht eine enge Verbindung zwischen dem Schlachtfeld und dem Verhandlungstisch. Wie ich bereits erwähnt habe, haben sich alle Bündnispartner – auch Deutschland – mit einer beispiellosen militärischen, humanitären und finanziellen Unterstützung in Milliardenhöhe an die Seite der Ukraine gestellt. Die Verbündeten sind entschlossen, die Ukraine langfristig zu unterstützen. Die NATO und die einzelnen Bündnispartner werden zusammen mit vielen anderen Ländern und Organisationen, insbesondere der Europäischen Union, die Ukraine unterstützen, weil wir nicht zulassen können, dass der russische Präsident für seine brutale militärische Aggression belohnt wird. Das würde auch unsere Sicherheit gefährden. Ich möchte auch betonen, dass sich die NATO nicht im Krieg mit Russland befindet und dass wir keine direkte Konfrontation mit Russland suchen. Das Ziel der NATO ist es, den Krieg zu beenden, nicht ihn auszuweiten. Die NATO ist und bleibt ein Verteidigungsbündnis; unsere Hauptaufgabe besteht darin, die Sicherheit unserer Nationen zu gewährleisten.

Deutschland hat es jahrelang versäumt, NATO-Verpflichtungen wie die Zwei-Prozent-Richtlinie für Verteidigungsinvestitionen zu erfüllen. Nun wurde vom Parlament ein Sondervermögen von 100 Milliarden Euro beschlossen, um die Bundeswehr in den kommenden Jahren zu modernisieren. Wie bewerten die NATO-Partner diesen Schritt?

Die NATO begrüßt nachdrücklich die Entscheidung von Bundeskanzler Scholz, die Verteidigungsausgaben deutlich zu erhöhen, wichtige neue Fähigkeiten zu beschaffen und die Bundeswehr fit für den Einsatz zu machen. Die beeindruckende „Zeitenwende“-Rede unseres Bundeskanzlers im Deutschen Bundestag wurde mit größtem internationalen Interesse verfolgt und führte zu großer Anerkennung. Deutschland ist ein wichtiger NATO-Verbündeter, der damit einen unglaublich bedeutenden Beitrag zu unserem transatlantischen Bündnis leistet. In diesem Zusammenhang möchte ich die Bedeutung der deutschen Entscheidung hervorheben, zusätzliche 100 Milliarden Euro für die Verteidigung bereitzustellen, sodass die Verteidigungsausgaben insgesamt auf zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts steigen werden. In einer für die europäische Sicherheit so bestimmenden Zeit stellt diese Entscheidung ein wichtiges Signal unserer Einigkeit und Entschlossenheit dar, eine wesentliche Investition in unsere gemeinsame Sicherheit. Eine Entscheidung, die als „modellhaft“ bezeichnet wurde und auch anderen Bündnispartnern als Beispiel diente und weiterhin dienen kann.

Darüber hinaus möchte ich die Bedeutung der deutschen Zusage unterstreichen, eine kampfbereite Brigade in Litauen zu führen, die sowohl aus vorne eingesetzten Kräften als auch aus Verstärkungen bestehen wird. Deutschland ist der größte Alliierte in Europa; das bringt auch Verpflichtungen mit sich. Deutsche Führung und deutsche Beiträge werden in allen Bereichen benötigt und geschätzt, insbesondere auch bei den Landstreitkräften. Unsere geographische Lage ist in diesem Zusammenhang unstrittig und wichtig. Der NATO-Verteidigungsplanungsprozess gibt den konzeptionellen Rahmen zur Entwicklung von militärischen Fähigkeiten vor, der in ein nationales Profil und in Pläne umgesetzt wird. Dabei einigen sich alle Verbündeten auf die Fähigkeiten, die von den einzelnen Staaten entwickelt und bereitgestellt werden sollen. Aus Sicht der NATO verfügt Deutschland über gute Pläne; das Bündnis ist jedoch darauf angewiesen, dass Deutschland die dazu erforderlichen Fähigkeiten rechtzeitig und in vollem Umfang bereitstellt. Die erhöhten Verteidigungsausgaben Deutschlands werden nun die Möglichkeit bieten, in die Verteidigung zu investieren und die vereinbarten Fähigkeiten schnell zu erreichen beziehungsweise zu verbessern. Das ist wichtig. Die Bündnispartner vertrauen zweifellos darauf, dass Deutschland seinen Beitrag leistet, und sie erwarten, dass Deutschland eine führende Rolle in der NATO dazu übernimmt. Wir dürfen nicht vergessen, dass die Verteidigungsausgaben einem wichtigen Zweck dienen: Deutschland muss investieren, beschaffen, vorbereiten und die Fähigkeiten zeitgerecht bereitstellen, um eine glaubwürdige Abschreckung und Verteidigung zu gewährleisten. Dies ist umso wichtiger, als die Sicherheitslage im euro-atlantischen Raum derzeit so schwierig und instabil ist wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Aus Sicht der NATO hat die Realität auch gezeigt, dass Deutschland die angegebenen und mit der NATO und unseren Bündnispartnern vereinbarten Fähigkeiten nicht bereitstellen kann, wenn es nicht mindestens zwei Prozent für die Verteidigung ausgibt. Geld und Fähigkeiten sind daher zwei Seiten derselben Medaille. Nur so werden das Bündnis und insbesondere seine militärischen Befehlshaber über alle Fähigkeiten und Kräfte verfügen, die sie benötigen, um die Sicherheit unserer Länder zu gewährleisten.

 

Generalmajor Dipl.-Pol. Jörg See ist seit Mai 2019 als stellvertretender Beigeordneter Generalsekretär für Verteidigungspolitik und Streitkräfteplanung im Hauptquartier der NATO in Brüssel tätig. Internationale und operative Erfahrung sammelte er u.a. als Dezernatsleiter für Operationen und Einsätze im Stab des Deutschen Militärischen Vertreters im Militärausschuss der NATO und bei der Europäischen Union in Brüssel sowie in Auslandseinsätzen der Bundeswehr. Im Verteidigungsministerium diente er u.a. als stellvertretender Adjutant des Bundesministers und in der Folge in der Abteilung Politik als Referatsleiter für NATO-Angelegenheiten sowie in der Abteilung Personal als Referatsleiter für die Personalentwicklung des militärischen Spitzenpersonals.

Vor seiner derzeitigen Verwendung war er als Kommandeur der Panzerbrigade 12 eingesetzt.

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