Bundeskanzler Olaf Scholz (M.) im Oktober 2022 vor der Ausbildungs- und Lehrübung des Heeres im Landkreis Heidekreis in der Lüneburger Heide zwischen Soldaten. Foto: picture alliance/dpa | Moritz Frankenberg

Bundeskanzler Olaf Scholz (M.) im Oktober 2022 vor der Ausbildungs- und Lehrübung des Heeres im Landkreis Heidekreis in der Lüneburger Heide zwischen Soldaten. Foto: picture alliance/dpa | Moritz Frankenberg

23.02.2023
dpa, ch

Ein Jahr Krieg: Was aus Scholz' Zeitenwende geworden ist

Waffenlieferungen in ein Kriegsgebiet und milliardenschwere Aufrüstung der Bundeswehr: Nur drei Tage nach dem russischen Angriff auf die Ukraine läutete Kanzler Scholz vor einem Jahr die Zeitenwende in der deutschen Sicherheitspolitik ein. Was hat sich seitdem getan?

Berlin. Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) ist am Morgen des 24. Februar 2022 die Erste aus der Bundesregierung, die für das Unfassbare Worte findet. „Wir sind heute in einer anderen Welt aufgewacht“, sagt sie nach einer ersten Sitzung des Krisenstabs im Auswärtigen Amt vor den Kameras. Wenige Stunden zuvor war das Horrorszenario eingetreten, das so mancher - auch in der deutschen Regierung - bis zuletzt nicht wahrhaben wollte: Der russische Präsident Wladimir Putin hatte seinen Truppen befohlen, in das Nachbarland Ukraine einzumarschieren.

Erste Prognose: Der Krieg dauert nur wenige Tage

Kanzler Olaf Scholz (SPD) erfährt davon gegen fünf Uhr, als ihn das Lagezentrum weckt. „Es ist ein furchtbarer Tag für die Ukraine und ein düsterer Tag für Europa“, sagt er später. An diesem 24. Februar geht man in der Bundesregierung noch davon aus, dass der Krieg nur wenige Tage dauern wird. Es wird erwartet, dass die Ukraine von russischen Panzern regelrecht überrollt wird. Auf die Frage nach möglichen Waffenlieferungen bekommt man an diesem Tag Antworten wie: Noch bevor sie auf den Weg gebracht würden, stünden die Russen in Kiew.

Diese Einschätzung hat aber nur eine Haltbarkeit von wenigen Stunden. Schnell wird klar, dass die Ukrainer bereit und in der Lage sind, sich zu wehren. Am 26. Februar entscheidet sich die Bundesregierung für den Tabubruch: Erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik werden deutsche Waffen in einen Krieg gegen eine Atommacht geschickt.

Nur einen Tag später steht Scholz vor dem Bundestag und verkündet das Ende des Prinzips der historisch bedingten militärischen Zurückhaltung Deutschlands. „Wir erleben eine Zeitenwende“, sagt er. „Im Kern geht es um die Frage, ob Macht das Recht brechen darf, ob wir es Putin gestatten, die Uhren zurückzudrehen in die Zeit der Großmächte des 19. Jahrhunderts, oder ob wir die Kraft aufbringen, Kriegstreibern wie Putin Grenzen zu setzen. Das setzt eigene Stärke voraus.“ Neben den Waffenlieferungen kündigt Scholz ein 100-Milliarden-Euro-Programm zur Aufrüstung der Bundeswehr an und eine Wende in der Energiepolitik, die Deutschland unabhängig von russischem Gas machen soll.

Waffenlieferungen: Mit Verspätung die Kurve gekriegt

Erst waren es Panzerfäuste und Stinger-Raketen. Heute sind es Schützen- und Kampfpanzer. Die deutschen Waffenlieferungen an die Ukraine sind in den vergangenen zwölf Monaten Schritt für Schritt ausgeweitet worden. Scholz setzte sich dabei selbst drei Leitlinien: Entschlossene Unterstützung der Ukraine, keine Alleingänge, keine direkte NATO-Beteiligung am Krieg.

Aus Sicht der Ukraine, aber auch einiger osteuropäischer Bündnispartner haperte es allerdings an der Entschlossenheit. Die Debatte über die Lieferung von Kampfpanzern begann beispielsweise schon im Frühjahr 2022. Die Entscheidung wurde aber erst im Januar getroffen.

Unter dem Strich zählt Deutschland heute in absoluten Zahlen allerdings nach den USA, Großbritannien und Polen zu den größten Lieferanten militärischer Ausrüstung. Das geht aus einer aktuellen Statistik des Kiel Instituts für Weltwirtschaft hervor. Bei den schweren Waffen liegt Deutschland sogar auf Platz zwei. Gemessen am Bruttoinlandsprodukt haben aber eine ganze Reihe osteuropäischer Staaten mehr Militärhilfe für die Ukraine geleistet, als Deutschland mit Lieferungen im Wert von knapp 2,6 Milliarden Euro.

100 Milliarden Euro für die Bundeswehr: Schleppende Aufrüstung

Aus dem für die Ausstattung der Bundeswehr eingerichteten Sondertopf ist nach Angaben des Verteidigungsministeriums inzwischen knapp ein Drittel „vertraglich gebunden“ - rund 30 Milliarden Euro. Damit wird unter anderem die Vollausstattung der Soldaten mit Kleidung, die Bewaffnung von Drohnen und die Beschaffung der US-Tarnkappenjets F-35 finanziert.

Vielen geht die Beschaffung nicht schnell genug. „Alle machen sich Gedanken um die ,Zeitenwende‘. Die Soldatinnen und Soldaten hoffen, dass etwas passiert. Die Kernfrage, die alle umtreibt in der Bundeswehr, ist: Wann werden Dinge konkret umgesetzt?“, sagte Oberst André Wüstner, Bundesvorsitzender des DBwV, erst kürzlich.

Es wird auch heftig darüber gestritten, ob und inwieweit der reguläre Wehretat noch einmal deutlich angehoben werden muss. Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) hält das für notwendig, Grüne und Teile der SPD sehen das anders.

Zwei-Prozent-Ziel: Heute nicht mehr ganz so forsch

Von der Aufstockung wird auch abhängen, ob Scholz in absehbarer Zeit das zentrale Versprechen an die NATO-Partner aus seiner Zeitenwende-Rede einhalten kann. „Wir werden von nun an Jahr für Jahr mehr als zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts in unsere Verteidigung investieren“, sagte er vor einem Jahr. 2022 lag der Anteil nach der offiziellen NATO-Statistik erst bei 1,44 Prozent. Für das laufende Jahr werden nach internen Berechnungen der Bundesregierung 1,6 Prozent erwartet. Um die zwei Prozent zu erreichen, müsste der Wehretat um 15 Milliarden Euro aufgestockt werden.
 

Scholz hat sein Versprechen bereits etwas relativiert. Auf der Münchner Sicherheitskonferenz sprach er am vergangenen Wochenende statt von „mehr als zwei Prozent“ nur noch von einer dauerhaften Anhebung „auf zwei Prozent“. Während man in Deutschland um diese Marke ringt, denken einige NATO-Staaten schon weiter. „Einige Verbündete sind entschieden dafür, aus dem gegenwärtigen Zielwert von zwei Prozent einen Mindestwert zu machen“, sagte Generalsekretär Jens Stoltenberg vor einigen Wochen in einem dpa-Interview. Die USA liegen jetzt schon bei fast 3,5 Prozent.

„The Zeitenwende“ inzwischen ein internationales Fachwort

Der Bundesvorsitzende des Deutschen BundeswehrVerbandes, Oberst André Wüstner, sieht die Zeitenwende mit gemischten Gefühlen. „Ein Jahr Zeitenwende: in Teilen ein Erfolg, und dennoch verspielte Zeit“, sagte Oberst Wüstner jetzt im ZDF-Magazin „Frontal“. Der Bundesvorsitzende weiter: „Die Ziele, die Herr Scholz formuliert hat, auch mit Blick auf die Bundeswehr, sind nach wie vor richtig. Aber wir sind weit von der Zielerreichung entfernt.“

Scholz' Begriffswahl ist auf jeden Fall ein Erfolg: „Zeitenwende“ ist 2022 nicht nur von der Gesellschaft für deutsche Sprache zum Wort des Jahres gewählt worden. „The Zeitenwende“ ist auch zu einem Fachbegriff der internationalen Sicherheitspolitik geworden.

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